Interview

Nicola Graef: ‚Viele Tage beginnen um 4 Uhr und enden spät in der Nacht‘

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Mit «Einsame Spitze» blickt Regisseurin Graef auf Top-Vorstandsvorsitzende und zeigt deren stressiges Leben. Gut verdienen heißt scheinbar auch hart arbeiten.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit, Frau Graef! 3sat und Das Erste strahlen Ihre Dokumentation «Einsame Spitze» aus. Sie portraitieren große Vorstandsvorsitzende. Worauf können sich die Zuschauer freuen?
Auf den Einblick in eine Welt, die dem Publikum sonst verwehrt ist. Wie sieht der Arbeitsalltag von Vorstandsvorsitzenden im Kontext der globalen Krisen aus? Was können sie bewirken, wo kommen sie an ihre Grenzen? Wie läuft die Zusammenarbeit mit der Politik, wer spielt da welche Rolle? Aber auch: wie gehen sie mit dem Stress um, was bedeutet das für die Familie, das Privatleben? Wie ist es, wenn man so viel mehr Geld als die allermeisten anderen Menschen verdient und auch Macht hat, wesentliche Dinge zu verändern? Wir begleiten die Vorstandsvorsitzenden in vielen verschiedenen Settings, um Antworten zu finden: mit dem Bundeskanzler, sind auf einer Reise nach Polen dabei, kurz nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine, in Brüssel bei der EU, und im Atomkraftwerk Isar 2 nach der Abschaltung. Im Offshore Windpark in der Nordsee, bei einer Fashion Show in Miami und privat beim Sport. Und wir haben das einzige Interview mit dem ehemaligen Audi Chef Markus Duesmann geführt, nachdem er entlassen wurde, was in unsere Drehzeit hineinfiel. Da bekommt man schon viel mit. Da der Film ohne jeden Kommentar ist, kann sich der Zuschauer ein eigenes Bild machen.

Sie haben unter anderem Hugo Boss-Chef Daniel Grieder begleitet. Warum fiel die Wahl auf Grieder und die anderen Entscheider?
Es ging mir um eine möglichst große Bandbreite an Konzernen, also von Chemie (BASF), über Transport (DB Cargo), Energie (E.ON) bis hin zu Luftfahrt und zur Automobilbranche (Austrian Airlines, Audi) und nicht zuletzt Livestyle, also Mode mit Hugo Boss. So ein Film muss visuell abwechslungsreich sein, unterschiedliche Persönlichkeiten zeigen und gleichzeitig verdeutlichen, dass alle die gleichen Themen auf der Agenda haben: Klima, Nachwuchs/die neue Generation, die Transformation, Bürokratie, schlicht globale Krisen überall. Hier ist es spannend zu sehen, wie die einzelnen Vorstandsvorsitzenden damit umgehen.

Haben Top-Manager einen stressigeren Beruf als der Normalverdiener?
Gar keine Frage, auf jeden Fall. Sie arbeiten im Schnitt um die 60/70 Stunde und sind auch am Wochenende fast alle immer erreichbar und einige Stunden am Schreibtisch. Viele Tage beginnen bei dem Reisepensum um 4 Uhr früh und enden spät in der Nacht. Sie müssen jederzeit auf neue Krisen reagieren und haben eine große Verantwortung für die Mitarbeitenden und Kunden. Das darf man nicht unterschätzen. Es ist ein Arbeitspensum, das 365 Tage im Jahr das Leben dominiert. Ihre Entscheidungen beeinflussen im Zweifelsfall die aktuelle oder langfristige Wirtschaftslage im Land. Das bedeutet, man hat viel Druck und muss sich von Ängsten möglichst fernhalten. Man ist quasi derjenige oder diejenige, der/die das Boot durch jeden Sturm steuert. Und man steht fast immer in der Kritik. Dafür ist die Bezahlung aber auch entsprechend hoch.

Können Sie bestätigen, dass Frauen immer noch bei Top-Positionen benachteiligt werden?
So global würde ich das nicht sagen. Frauen haben derzeit sehr gute Chancen, in Top-Positionen zu kommen. Nicht in allen Branchen, aber in vielen. Das ist ja auch politisch motiviert, man will ja die Quoten erhöhen. Das ist auch allerhöchste Zeit. Und da ist schon Druck in den Unternehmen, mehr Frauen in den Vorständen zu platzieren. Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass Frauen nicht immer in solche Positionen wollen. Die Erfahrung habe ich auch gemacht. Immer erreichbar sein, unzählige Sitzungen, dauernd auf Reisen, privat auf vieles verzichten, gesundheitlich gefordert, das muss man wollen.

Sie durften zahlreiche Manager begleiten. Was konnten Sie dort lernen?
Wie komplex Wirtschaft ist und vor allem, dass man mit der Schwarz-Weiß-Brille nicht sehr gut sehen kann. Hier die guten Menschen, da die bösen Unternehmer, das funktioniert in unserer Welt nicht. Alle müssen versuchen, diese Krisen zu bewältigen und es gibt keine einfachen Lösungen. Die globale Vernetzung, die Komplexität von Gesetzen und Richtlinien, die Frage, wie sich die Welt politisch entwickelt und wie man überhaupt noch langfristig planen soll – das sind nur ein paar Details, die das Leben als Vorstandsvorsitzender prägen. Man muss diesen Job wollen, das ist wie bei Spitzenpolitikern. Man muss Herausforderungen mögen, ehrgeizig sein, Entscheidungen nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen. Und man muss ein echtes Kommunikationstalent sein. Menschen im Konzern mitnehmen, Ängste nehmen, Optimismus ausstrahlen, sich permanent auf neuen Anforderungen einstellen, auch die der Gen Z Generation und man muss wirklich körperlich fit sein. Der Job hat viel mit Selbstkontrolle zu tun.

Warum haben Sie sich für diese Erzählform (90 Minuten) entschieden, wo doch Miniserien derzeit im Trend sind?
Das ist aus der Genese des Projekts entstanden. Ich arbeite seit vielen Jahren sehr eng und vertraut mit der WDR-Dokumentarfilm-Redaktion zusammen und dort ist das Thema gemeinsam entwickelt worden. Ich finde, dass man die wirtschaftspolitischen Zusammenhänge besser in der Länge erzählen kann und auch den Vergleich zwischen den Protagonisten. Man kann in 90 Minuten einfach differenzierter erzählen. Zumindest bei diesem sehr komplexen Thema. Und ich muss keine Cliffhanger generieren.

Wann haben Sie mit den ersten Arbeiten von «Einsame Spitze» begonnen?
Die ersten Anfragen habe ich 2021 rausgeschickt, das hat dann eine ganze Weile gedauert. Man darf ja nicht vergessen: es ist mit diesem Film ein echtes Novum gelungen, dass sich Vorstandsvorsitzende auf einen langen Zeitraum von einer Kamera begleiten lassen. Das gab es einfach noch nie. Sonst sprechen sie mit dem Handelsblatt, oder anderen Wirtschaftsmagazinen oder man sieht mal ein kurzes Interview in den Nachrichten. Die Interviews in den Printmedien werden abgesegnet, man weiß, worauf man sich einlässt. Ich musste erst Mal dafür werben, dass das bei uns nicht so ist. Dass es einen großen Unterschied macht, ob man ein Magazinstück dreht, oder einen langen Dokumentarfilm, dass wir einfach dabei sind, dass wir mehrere lange Gespräche führen und dass sie den Film vor der Ausstrahlung nicht sehen werden. Da muss man sich schon gegenseitig vertrauen und gleichzeitig trotzdem die unangenehmen Fragen stellen, aber eben auf Augenhöhe. Dass sich die Pressestellen der Konzerne darauf eingelassen haben und die sind ja das Entrée, das ist wirklich etwas sehr Besonderes. Denn jede Aussage eines so bedeutenden Managers kann etwas bewirken. Das darf man nicht unterschätzen. Wie sagte Markus Duesmann so schön: „Sie sind always on.“

Sie haben die Dokumentation mit Ihrer Produktionsfirma Graef Screen Productions umgesetzt. Sind Sie mit der derzeitigen Auftragslage zufrieden?
Ich bin jetzt seit über 20 Jahren Produzentin, erst mit der Lona media, seit 2023 mit der Graef Screen Productions und mein Auftragsvolumen ist immer größer geworden. Darüber bin ich sehr froh und dankbar dafür. Es ist viel Arbeit, aber auch nach all den Jahren hat die Leidenschaft für mein Tun nicht nachgelassen und ich habe ein tolles Team. Die vertrauensvolle Arbeit mit ARD, ZDF und ARTE hilft natürlich. Man kennt sich gut, man weiß, wen man gegenüber als Partner hat. Und an Themen mangelt es ja nun nicht gerade, oder hat es das je?

Vor allem die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender sind Ihre Auftraggeber. Würden Sie sich mehr Engagement der privaten Sender wünschen?
Ich arbeite ganz entschieden ausschließlich für die Öffentlich-Rechtlichen. Aber ich sehe auch bei den Privaten Bewegung. Wenn Sie sich die gesellschaftspolitischen Formate und Projekte von Winterscheidt und Heufer-Umlauf ansehen oder Thilo Mischke. Das finde ich gut. Natürlich ist da immer noch insgesamt sehr viel Trash unterwegs, aber es gibt durchaus auch tolle Dokus, gerade bei ProSieben.

Muss eine Dokumentation heutzutage auch schöne Bilder liefern? Wie sehen Sie den Einsatz von Drohnen und anderen Mittel in solchen Projekten?
Man muss immer sehen, passt das visuelle Konzept zum Inhalt. Einfach nur eine Drohne einzusetzen, weil die Bilder toll aussehen, ist nicht mein Ansatz. In Fall von «Einsame Spitze» passt die Drohne perfekt, weil die Größe der Bilder auch die Größe der Macht und Verantwortung der Protagonisten und der Konzerne miterzählt. Aber es ist heute, vor allem auch durch den Einfluss von Netflix und Co, ganz klar, dass die visuellen Ansprüche gestiegen sind. Sie sind nur leider oft nicht mit den Budgets kompatibel. Da muss man dann kreativ werden. Im Kunst- und Kulturbereich ist es oft einfacher, weil da ohnehin viel Ästhetik ist. Aber wie erzähle ich Wirtschaft spannend, wenn wenig Zeit da ist und Menschen oft an Tischen in eher langweiligen Settings sitzen und viel reden? Das war schon eine Herausforderung.

Gibt es eigentlich Projekte, bei denen Ihre Meinung zu einem Thema verändert wurde?
Eigentlich bei den meisten Projekten. Ich tauche ja in eine Welt ein, die ich vorher nicht kannte. Ob es bei den Kulturthemen ist, wie über zwei Jahre bei Neo Rauch im Atelier zu sitzen und zu lernen, wie emotional der Kampf um ein gutes Bild ist oder ob ich muslimische Frauen begleite, die das Kopftuch tragen und mich in ihren Alltag lassen, oder eben hinter die Kulissen von mächtigen Menschen wie Vorstandsvorsitzenden zu blicken. All das justiert den Blick auf die Welt, zeigt mir, wie sehr man doch von Vorurteilen behaftet ist, auch unbewusst, und dass jeder Mensch ein ganz eigener Kosmos ist. Der Perspektivwechsel ist heute wichtiger denn je, um die eigene Wahrnehmung zu schärfen und zu differenziert im Blick zu sein.

Vielen Dank für die zahlreichen Informationen!

«Einsame Spitze» ist in der ARD Mediathek und in der arte Mediathek abrufbar. Linear feiert die Dokumentation am Dienstag, den 6. Februar, um 23.15 Uhr Premiere.

Kurz-URL: qmde.de/148759
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