18 Filme, 10 Jahre. All dies führte hier hin. Zum «Infinity War». Übernimmt sich Marvel mit dem größten seiner filmischen Unterfangen oder gelingt dem Erfolgsstudio ein total, total einmaliger Balanceakt?
«Erdbeben»
Das 'Marvel Cinematic Universe' in Deutschland
- «Iron Man»: 0,8 Mio. Kinogänger
- «Der unglaubliche Hulk»: 0,2 Mio. Kinogänger
- «Iron Man 2»: 1,0 Mio. Kinogänger
- «Thor»: 1,1 Mio. Kinogänger
- «Captain America»: 0,3 Mio. Kinogänger
- «Avengers»: 2,2 Mio. Kinogänger
- «Iron Man 3»: 1,9 Mio. Kinogänger
- «Thor – The Dark Kingdom»: 1,4 Mio. Kinogänger
- «The Return of the First Avenger»: 0,8 Mio. Kinogänger
- «Guardians of the Galaxy»: 1,8 Mio. Kinogänger
- «Avengers – Age of Ultron»: 2,4 Mio. Kinogänger
- «Ant-Man»: 0,5 Mio. Kinogänger
- «The First Avenger – Civil War»: 1,7 Mio. Kinogänger
- «Doctor Strange»: 1,5 Mio. Kinogänger
- «Guardians of the Galaxy Vol. 2»: 2,5 Mio. Kinogänger
- «Spider-Man: Homecoming»: 1,0 Mio. Kinogänger
- «Thor – Tag der Entscheidung»: 1,5 Mio. Kinogänger
- «Black Panther»: 1,7 Mio. Kinogänger
Mark Robsons epochales Katastrophendrama «Erdbeben» ist einer dieser Filme, die auf sonderbare Weise von der kinokulturellen Oberfläche verschwunden sind. 1974 mit immensem wirtschaftlichen Erfolg auf die Leinwand gebracht, erntete die Großproduktion vier Oscar-Nominierungen sowie zwei für den Golden Globe – darunter eine als bestes Drama. Abgesehen davon, dass kaum wer im Jahr 2018 an «Erdbeben» zurückdenkt, schiene eine solche Rezeption heutzutage beinahe undenkbar. Denn als unprätentiöser Katastrophenfilm, der sich wiederholt über die konventionellen Regeln des Drehbuchschreibens hinwegsetzt, hätte dieses Ensemble-Großproduktion nunmehr kaum eine Chance bei Kritiker- und Industriepreisen – oder bei weiten Teilen des anspruchsvollen Publikums.
Was durchaus eine Schande ist. Die Drehbuchautoren George Fox und Mario Puzo brechen nicht unbedacht mit Erzählkonventionen, sondern entwerfen ein narratives Kaleidoskop, das vor den Augen des Publikums bunt Storyfragmente an Ereignissen anordnet, die von der titelgebenden Katastrophe erzählen. Manche Geschichten in «Erdbeben» zeigen, wie Leben dramatisch oder gar tragisch verändert werden, andere Schauplätze zeigen abenteuerlich-aufregende Erdbebenanekdoten, wieder andere sind sogar humorvoll oder skurril.
Fox und Puzo gehen dabei einem ganz eigenen, unberechenbaren Gespür für tonale Balance nach – manche der zahlreichen Handlungsfäden werden in geringen Abständen unterbrochen, andere in einer langsamen Taktung weitererzählt. Dass bis in den letzten Akt hinein neue Figuren eingeführt werden, ist durch und durch ein Verstoß gegen das kleine Einmaleins des Drehbuchschreibens. Allerdings funktioniert dieses Aufrütteln der Konventionen in «Erdbeben» – ganz einfach deshalb, weil es zum Chaos während eines gewaltigen Naturereignisses passt, dass sich da immer neue Dringlichkeiten auftun und somit auch neue kleine Helden sowie Antihelden in den Fokus rücken.
«Erdbeben» zeigt 121 oder 161 Minuten lang (je nach Schnittfassung) sich konsequent zuspitzende Ausschnitte aus verschiedenen Leben, die auf unterschiedliche Weise durch eine Naturgewalt durcheinandergebracht werden. Da ist Effizienz in der Erzählung jedes einzelnen Schicksals ebenso gefragt, wie eine schwer vorhersehbar von Schauplatz zu Schauplatz springende Erzählweise angebracht ist.
«Eine total, total verrückte Welt»
Über 50 Jahre sind seit der Weltpremiere vergangen. Und noch immer ist Stanley Kramers «Eine total, total verrückte Welt» die monumentalste Komödie der Filmgeschichte. Der immense Überlänge aufweisende Slapsticktumult aus dem Jahr 1963 hat ein absurd großes Schauspielensemble, das sich in epochaler Form durch eine im Grunde genommen sehr schlichte Geschichte bugsiert: Eine eklektische Truppe an Figuren erfährt von einem versteckten Schatz und nimmt eine waghalsige Odyssee auf sich, um den groben Hinweis auf seinen Standort zu entschlüsseln und jeweils als Erster dorthin zu gelangen. Klingt nach einem sehr banalen Filmstoff, wird aber von Kramer mit spürbarem Genuss, vorbildlicher Liebe zum Detail und seeliger erzählerischer Geduld zu einem mehrere Stunden umfassenden Spektakel erhoben.
Allianzen bilden sich, werden gebrochen, durch neue Allianzen ersetzt und wieder munter durchgemischt. Stets schneiden die Cutter Gene Fowler Jr., Robert C. Jones und Frederic Knudtson zwischen einer Vielzahl an Figurengruppen hin und her, die von einem Schauplatz zum nächsten eilen – und unentwegt passiert etwas, das stürmisch durchexerziert wird. Atempausen sind in «Eine total, total verrückte Welt» seltener als Marvel-Verfilmungen ohne Stan-Lee-Cameo, die von einem Spitzencast verkörperte Figurenriege erhält ihre charakterbildenden Augenblicke sozusagen im Vorbeigehen, während hier ein Flugzeug abstürzt, dort sich ein Paar im Rennen ein Wortduell liefert und da die Bude brennt.
Der Ausnahmefilm von 1963 ist zweifelsohne ganz großes, hervorragend gemachtes Unterhaltungskino – und doch erschöpfend. Obwohl "erschöpfend" in der Filmkritik gemeinhin als abwertendes Adjektiv benutzt wird, ist es hier allerdings nicht so gemeint: «Eine total, total verrückte Welt» ist so groß, so turbulent, so ruhelos und so konsequent, dass es einfach kein Wunder ist, wenn dieses Komödienepos seinem Publikum den Atem raubt und es zunächst einmal wie erschlagen zurücklässt. Es ist halt nur diese seltene, erfüllende Art des Erschlagenseins.
«Infinity War»
"Hä? Ich dachte, das hier sei eine Kritik zu «Avengers | Infinity War»?" Keine Sorge. Es liegt kein Irrtum vor. Das hier
ist eine Kritik zu «Avengers | Infinity War». Bloß ist es keine handelsübliche Vorabrezension des neusten Marvel-Spektakels. Schlicht, weil die Presse dem Verleih versichern musste, keine inhaltliche Überraschungen zu verraten. Und mehr noch aus Respekt gegenüber der Marvel-Fangemeinde. Verständlicherweise ist bei einem Franchise-Film, auf den zehn Jahre lang hingearbeitet wurde, die Erwartungshaltung gigantisch und die Furcht davor, in letzter Minute den ungetrübten Filmgenuss verdorben zu bekommen, mindestens ebenso enorm. Dennoch sollte eine Kritik zu solch einem aufwändigen, mit unbändiger Liebe zum Ausgangsmaterial gestalteten, mit dem Budget einer mittelgroßen Nation hantierenden Kinoevent gerne mehr ausdrücken als nur: "Wow!"
Wie also die Erwartungshaltung von Fans, Gelegenheitskinogängern und Zweifelnden einnorden, dem Film gerecht werden und trotzdem vage bleiben? Lasst es uns versuchen: Die Brüder Anthony & Joe Russo, die nach dem actionreichen Politthriller «The Return of the First Avenger» und dem Superheldenkonflikt «The First Avenger – Civil War» nun ihren dritten Marvel-Film inszenieren, verrieten vorab, dass sie sich zur Inspiration für «Avengers | Infinity War» an die 90er-Gangsterfilme «2 Tage in L.A.» und «Out of Sight» gewendet haben. Sie hätten als Vorbild gedient, wie man ein großes, eklektisches Figurenensemble anpackt und dennoch eine intensive, packende erzählerische Energie beibehält. Dies haben sie in «Avengers | Infinity War» zweifelsohne erreicht – und dennoch ließe sich der mittlerweile 19. abendfüllende Film aus dem Marvel Cinematic Universe genauso gut als das in Superheldengewand gekleidete Kind von «Erdbeben» und «Eine total, total verrückte Welt» bezeichnen.
Das eine riesige Bandbreite an Marvel-Figuren vereinende Abenteuer, das wie schon die beiden vorhergegangenen Regiearbeiten der Russos vom Autorenduo Christopher Markus & Stephen McFeely verfasst wurde, ist einerseits ein sehr simpler Film. Der gigantische Kriegstreiber Thanos (Josh Brolin) möchte sämtliche Infinity Steine an sich reißen – mächtige Artefakte, die es ihm ermöglichen würden, mit einem Fingerschnipsen die Hälfte allen Lebens auszulöschen. Also machen sich einige der fähigsten Helden der Erde sowie eine gute Handvoll intergalaktischer Heroen auf, ihn davon abzuhalten. Annähernd 150 Minuten lang dreht sich alles genau darum. Es gibt keinen von dieser drohenden Katastrophe losgelösten Nebenschauplatz. Keine Verschnaufpausen, in denen sich die Handlungsträger eine Auszeit gönnen. «Avengers | Infinity War» ist durchgängig in Bewegung – und weil er einer geradezu irrsinnigen Auswahl an Helden folgt, werfen Markus & McFeely wiederholt Anfängerregeln des Drehbuchschreibens über den Haufen, um noch lange nach Filmbeginn weitere Parteien in diesem Getümmel einzuführen.
Sobald alle Helden, Antihelden und Schurkenhandlanger auf dem Spielfeld platziert sind, werden sie immer wieder neu arrangiert, an wechselnde Orte transportiert und die Grüppchen wieder auseinandergebrochen. Im Gegensatz zu bisherigen Marvel-Blockbustern lässt sich «Avengers | Infinity War» nicht mal eben und mit links in die klassischen drei Akte einer Hollywood-Produktion einteilen. Will man diesem monumentalsten aller Katastrophenfilmen dieses Schema aufzwängen, muss man es mit aller Macht durch die Actionmechanismen pressen, die die Russo-Brüder virtuos in Bewegung halten, bis alles denkwürdig kulminiert.
Balance
In «Avengers | Infinity War» haben die Regisseure, die sich ihre Sporen in Comedyserien wie «Community» und «Arrested Developemt» verdienten, keinerlei Zeit zu verlieren – noch während des eröffnenden Marvel-Studios-Logos fallen die ersten Dialogzeilen. Die Weichen für die Bedrohung durch Thanos sind schon gestellt, bevor der Markenname zu lesen ist. Was folgt, ist die höchste Actiondichte, die das Superheldenkino bislang gesehen hat. Dabei machen sich die Russos ihr umfangreiches Figurenarsenal zunutze und feuern eine sprichwörtliche Attacke an sogenannten
Set-Pieces ab, die variantenreicher kaum sein könnte. Von temporeichen Handgemengen über wilde Schusswechsel hin zu Sci-Fi- und Fantasy-Trubel, chaotischem Getümmel und massiven Schlachten wird praktisch jede Subkategorie des Actionkinos bedient – der Gefahr der Monotonie ist also vorgebeugt, dem nahezu pausenlosen Leinwandgeschehen zum Trotz.
Zudem behalten die Filmschaffenden einen scharfen Blick für ihr Figurenpersonal. Kontrollfreak und Ex-Playboy Tony Stark alias Iron Man (Robert Downey Jr.) reagiert auf Thanos' Vorhaben anders als der nie erwachsen gewordener Lausebengel Peter Quill/Star Lord (Chris Pratt) oder der wichtigtuerische und strenge Doctor Strange (Benedict Cumberbatch). Und wenn die Autoren es schon raus haben, diese drei Unterkategorien des Typus "selbstverliebter Mistkerl" klar voneinander abzugrenzen, sollte es niemanden erstaunen, wenn es ihnen zudem gelingt, erneut Steve Rogers alias Captain America (Chris Evans) auf den Punkt zu treffen und ihn von Figuren wie dem kriegerischen Gott Thor (Chris Hemsworth) oder Gamora (Zoë Saldana), Thanos' erschütterter Ziehtochter, abzuheben.
Filmfacts: «Avengers | Infinity War»
- Regie: Anthony & Joe Russo
- Produktion: Kevin Feige
- Drehbuch: Christopher Markus, Stephen McFeely
- Darsteller: Robert Downey Jr., Chris Hemsworth, Mark Ruffalo, Chris Evans, Scarlett Johansson, Benedict Cumberbatch, Don Cheadle, Tom Holland, Chadwick Boseman, Paul Bettany, Elizabeth Olsen, Anthony Mackie, Sebastian Stan, Danai Gurira, Letitia Wright, Dave Bautista, Zoe Saldana, Josh Brolin, Chris Pratt
- Musik: Alan Silvestri
- Kamera: Trent Opaloch
- Schnitt: Jeffrey Ford, Matthew Schmidt
- Laufzeit: 149 Minuten
- FSK: ab 12 Jahren
Der Variantenreichtum an Actioneinlagen macht «Avengers | Infinity War» zu einem spektakulären Kinoritt. Die Zielgenauigkeit, mit der die vielen Figuren in ihrem Umgang mit der drohenden Katastrophe geschrieben sind und von ihren Darstellern verkörpert werden, gibt diesem Superheldenanschlag Persönlichkeit. Gleichwohl ist «Avengers | Infinity War» keiner dieser Bombastfilme, bei denen es sich zwecks Sehgenussoptimierung empfiehlt, vor Betreten des Kinosaales sein Gehirn gegen ein Snackmenü einzutauschen. Nicht nur, weil es gilt, die Übersicht über mehrere Dutzend Helden, deren Verfassung und ständig ändernden Taktiken und Aufenthaltsplätze zu bewahren. Sondern auch, weil Thanos mehr ist als bloß die neuste Bedrohung für das Universum, in dem die Marvel-Filmsaga spielt. Thanos ist deutlich fähiger und zielstrebiger als seine bislang recht passive Art in diesem Franchise mutmaßen lässt und findet sogar Gelegenheit, prägnant sein Vorhaben zu erklären. Dies lässt die dramaturgische sowie emotionale Fallhöhe massiv anschwellen – und die Russos werden dem gerecht.
Obwohl ihrer Inszenierung eine gewisse Verspieltheit nicht abzusprechen ist, wirkt sie sich nämlich nur subtil auf «Avengers | Infinity War» aus. Die Ästhetik passt sich dezent den dominierenden Persönlichkeiten einer jeden Szene an – wenn Captain America in einen Faustkampf verstrickt ist, rückt Kameramann Trent Opaloch etwas näher ans Geschehen, zudem erhöhen die Cutter Jeffrey Ford und Matthew Schmidt die Schnittfrequenz. Es kommt ein leichtes «The Return of the First Avenger»-Feeling auf – kinetisch, aber im Vergleich bodenständig, zumal die Farbsättigung minimal gedämpft ist. Brechen an anderer Stelle die Guardians of the Galaxy in ihren frechen Galgenhumor aus und nehmen sich überbordenden Weltallsorgen an, nimmt die Einstellungsgröße zu, ist der Farbkontrast satter und der Schnitt schafft Raum, damit die semi-dysfunktionale Heldeninteraktion atmen kann. Doch so sehr sich die wirren Weltallchaoten in Zynik flüchten oder Okoye (Danai Gurira) noch immer über kuriose Vorfälle stutzt und so Schmunzler provoziert: «Avengers | Infinity War» ist weder so launig wie der erste «Avengers»-Part, noch gönnt er sich die amüsante Kauzigkeit, in die sich «Avengers – Age of Ultron» flüchtet.
«Avengers | Infinity War» balanciert das Wesen des gigantischen Figurenensembles aus, zollt in kleinen Phasen den Charakteristiken vergangener Marvel-Filme Tribut, und führt dies alles zu einem rastlosen, bombastischen Superheldenkatastrophenfilm zusammen, in dem selbst die flippigsten Heroen einsehen müssen, wie groß der Ernst der Lage ist. Die Erzählung springt von einem Brandherd zum nächsten. Mal ist die Lösung des (Teil-)Problems offensichtlich, aber schwer zu erreichen. Andere Male drängen Thanos und seine Handlanger die Helden in diffizile Zwickmühlen, durch die «Avengers | Infinity War» bei allem gebotenen Prunk und Getöse zu einem Unterhaltungsfilm wird, bei dem gerne der Atem ins Stocken gerät. Scherzchen werden weiterhin gemacht, allerdings in arg reduzierter Form, wenn die Figuren beim besten Willen nicht anders können.
Das mag mancher Erwartungshaltung entsprechen und manch anderer widersprechen. Aber es geht nicht darum, ob «Avengers | Infinity War» der Film ist, den sich Fans zuvor ausgemalt haben. Darum sollte es nie gehen. Es geht darum, wie sich Erfolgsproduzent Kevin Feige mit diesem Giganten von einem Film dem Ziel nähert, das er konsequent anvisiert. Und mit diesem effekttechnisch nahezu makellosen, abwechslungsreichen und durch und durch intensiven Superheldenmonumentalfilm gelingt ihm ein ungeheuerlich beeindruckendes Zwischenfinale für sein Marvel Cinematic Universe. Eines, das nach 18 Filmen voller Comicvergnügen für Balance sorgt, indem es ganz mutig und selbstverständlich den Frohsinn für dramatisch-kolossale Nonstop-Actioneskalation pausiert.
Fazit: Darauf haben die Marvel Studios zehn Jahre und 18 Filme lang hingearbeitet. Es sprengt Drehbuchgesetze. Es erschöpft – auf faszinierende Art. Es ist atemberaubend!
«Avengers | Infinity War» ist ab dem 26. April 2018 in zahlreichen Kinos zu sehen – in 3D und 2D.