Regisseur Hans Weingartner beschenkt das deutsche Kino mit einem wunderschönen Road Movie, das Erinnerungen an Richard Linklaters «Before»-Trilogie weckt.
Filmfacts: «303»
- Regie und Produktion: Hans Weingartner
- Drehbuch: Hans Weingartner, Silke Eggert
- Darsteller: Mala Emde, Anton Spieker
- Kamera: Mario Krause, Sebastian Lempe
- Schnitt: Benjamin Kaubisch, Karen Kramatscheck, Hans Weingartner
- Musik: Michael Regner
- Laufzeit: 145 Min
- FSK: ab 12 Jahren
Obwohl Film ein visuelles Medium ist, gibt es sie: Diese Filme, deren Magie in erster Linie von ihren Dialogen ausgeht. «Der Club der toten Dichter» ist so einer. Kevin Smiths Debütfilm «Clerks» ist ein noch extremeres Beispiel, hat er als krude gefilmte Faulenzerkomödie doch sonst kaum etwas zu bieten. Jim Jarmuschs «Coffee and Cigarettes» bietet sich als intellektueller Gegenentwurf zu «Clerks» an. Und obwohl es ein präziser inszenierter Thriller ist, besticht auch Michael Manns «Heat» in erster Linie durch seine Dialoge. Es gibt so viele weitere Beispiele – und dennoch gelten dialoglastige Filme weiterhin als Risiko. Regisseur Hans Weingartner («Die fetten Jahre sind vorbei») bekam dies mit seinem Road Movie «303» qualvoll zu spüren:
Inspiriert von einer redseligen Fahrt in einem 303-Reisebus, die er zu seiner Hausbesetzerzeit unternommen hat, und von Richard Linklaters bezaubernd-eloquenter «Before»-Trilogie (bei deren Auftakt Weingartner als Produktionsassistent mitwirkte), trug er lange die Idee eines Reisefilms mit sich, in dem ein Student und eine Studentin ihre Weltanschauungen austauschen und durch diese fesselnden Gespräche eine persönliche Bindung zueinander aufbauen. Rund 300 Seiten an Dialogentwürfen legte er sich zurecht, um die Geschichte mit den besten und im Zusammenspiel stimmigsten daraus zu bereichern. Aber vom ersten Anlauf im Jahr 2003 scheiterte das Vorhaben immer und immer wieder.
Mal, weil Weingartner sich selber nicht für bereit hielt. Mehrmals, weil die Finanzierung zusammenbrach. Weil sich Filmförderungen vom "vielen Gerede" abschrecken ließen und TV-Sender in letzter Sekunde ihre Finanzierung zurückgezogen haben. Zwischenzeitlich überlegte der Regisseur, Produzent und Autor, nach Hollywood auszuweichen Er konnte für seinen Plan B sogar Emile Hirsch («Into the Wild») gewinnen – dann zog der Österreicher allerdings die Reißleine. Für den ihn vorschwebenden Stil des beiläufig-angeregten Dauerphilosophierens sei die deutsche Sprache schlicht die reizvollere, da sie auf poetische Weise präzise und in ihren einfachen Möglichkeiten des Begriffekonstruierens komplexer ist. Also musste «303» doch irgendwie im deutschsprachigen Raum umgesetzt werden. Dass der Film nun in die Kinos gelangt, ist trotzdem kein Wunder, sondern das, was passiert, wenn Risikobereitschaft, ein enger finanzieller Gürtel und innige Passion zum Material zusammentreffen.
Weingartner kürzte das Budget radikal zusammen, bis das Risiko zum großen Teil nur noch auf seinen Schultern ruhte. Die Crew bestand beim Dreh bloß aus acht Leuten. Und der Bus, in dem sich ein Großteil des Films abspielt, stammt aus Weingartners Privatbesitz. Was «303» an Budget und Personalkraft fehlt, macht die Produktion durch Weingartners Ambitionen wett: Zur Recherche reiste er in seinem alten Mercedes-Wohnmobils auf eigene Faust von Berlin bis zu den Klippen beim portugiesischen Aljezur. Er führte zahlreiche Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, um seine Dialogentwürfe auf Aktualität und Authentizität abzuklopfen. Zwei Jahre lang suchte er nach den richtigen Personen für die Hauptrollen, bis er sie in Mala Emde und Anton Spieker gefunden hat.
Was einem Wunder gleichkommt, ist wie wenig «303» diese Anstrengungen anzumerken sind: Dieser 145-minütige Trip durch Europa wirkt zu keinem Augenblick dramaturgisch konstruiert, die nahezu pausenlosen Gespräche zwischen den studentischen Hauptfiguren kommen so natürlich rüber, dass man glauben möchte, sie seien improvisiert. Und so kommt es zu einem weiteren filmischen Wunder ... «303» ist so aufgeweckt, liebenswert und hinreißend, dass völlig außer Frage steht: Das lange Warten und die großen Bemühungen Weingartners haben sich gelohnt. Eine schönere Version dieses Films ist quasi nicht vorstellbar.
Auf Europatour und Selbstentdeckungsreise
Zwei Berliner Studierende, ein Oldtimer-Wohnmobil: Der politisch idealistische, im zwischenmenschlichen misstrauische Politstudent Jan (Anton Spieker) will zu Beginn seiner Semesterferien nach Spanien. Ein Überraschungskennenlernbesuch bei seinem dort lebenden, leiblichen Vater steht an. Doch seine Mitfahrgelegenheit lässt ihn sitzen. Als er nach einer neuen Möglichkeit sucht, diese Reise anzutreten, die ihn emotional mehr mitnimmt als er sich anmerken lassen will, bringt ihn der Zufall mit Jule (Mala Emde) zusammen. Die Biologiestudentin ist auf dem Weg nach Portugal, wo sie mit ihrem Freund bereden will, ob sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen soll. Wie Jan will auch Jule ihren emotionalen Ballast unter den Teppich kehren – und wohl auch deswegen nimmt sie den Tramper freudig in ihrem markanten Gefährt auf.
Schon bald darauf kommt es allerdings zum großen Knall: Jan erwischt die gemeinhin lebensfroh-optimistische Jule argumentativ auf dem falschen Fuß. Der Reisebussegen hängt schief. Aber die Zufallsreisegemeinschaft erhält vom Schicksal die Chance, sich aus diesem Tief zu manövrieren, woraufhin sich die Mittzwanziger in Diskussionen über Kleinigkeiten, weltverändernde Thesen, politische Philosophien und persönliche Angelegenheiten verstricken …
Das, was sich in «303» auf der Leinwand entfaltet, mag das Produkt jahrzehntelanger Drehbucharbeiten sein. Aber das ist ihm nicht anzumerken. Weingartner und seine Ko-Autorin Silke Eggert siebten die Unmengen an Dialogmaterial mit Herzensblut aus und formten sie zu einem natürlich fließenden Strom aus Gedankenaustausch und charaktervollem Geplänkel. Die inhaltlichen Schwerpunkte, Themenübergänge und Schlenker zwischen nachdenklich, hochtrabend und scherzend sind ungeheuerlich lebensecht. Es ist so, als dürften wir, das Publikum, im geräumigen Oldtimer Jules Mäuschen spielen. Wir dürfen zuhören und zuschauen, wie zwei hinreißende junge Menschen sich beschnuppern, gemeinsam die ausgedehnte Reisezeit totschlagen und ganz nebenher, ganz heimlich dabei auch Zeit schinden, um das jeweilige Reiseziel und die dort wartende, aufreibende Situation hinauszuzögern.
Dieses Gefühl könnte nicht entstehen, wären Spieker und Emde nicht so phänomenal in ihren Rollen: Als würden sie völlig mit ihren Figuren verschmelzen, drücken sie die Persönlichkeiten ihrer beiden Europareisenden nicht nur durch die Intonation ihrer Dialoge und mit nuancierten Blicken aus. Jede noch so kleine Geste sitzt, selbst kurze Atmer fügen sich stimmig in die Figurenzeichnung und erwecken Jule und Jan zum Leben – die Chemie zwischen Spieker und Emde tut dann ihr übriges. Unaufdringlich, dennoch elektrisierend, knistert es zwischen den Reisenden und so schafft «303» eine liebevoll-zartee, kuschelig-romantische Atmosphäre.
Bei aller Lebensnähe ist «303» gleichzeitig zielgerichtet genug, um als Film eine Aussagekraft zu entwickeln: Es ist nicht so, als hätte Weingartner einfach über zwei Stunden an Gesprächen aneinandergereiht und würde darauf hoffen, dass das Publikum nicht erkennt, wie viel anregender es wäre, selber ein ausführliches Gespräch mit einer reizvollen Person zu führen. Die Dialoge mögen lebensnah wirken, sind aber, im besten «Before»-Stil, erzählerisch aufeinander abgestimmt. Es ergeben sich dramaturgisch ausgefeilte, wenngleich völlig unauffällige Rückgriffe, wie sie kaum jemandem spontan im beiläufigen Gespräch oder im emotionale hitzigen Diskus einfallen würden. «303» wird dadurch zu mehr als einer bloßen filmischen Dauerdiskussion – Weingartner und Eggert heben es zu einem cineastischen Porträt einer Teilgeneration empor, die klare gesellschaftliche Ideen hat und im Privaten teils notgedrungen, teils aus einer Laune heraus dauerimprovisiert.
Von den Kameramännern Mario Krause und Sebastian Lempe wird dies in semi-dokumentarischen Bildern festgehalten: Die sachte geführte Schulterkamera fängt nur Blickwinkel ein, die auch stille Mitreisende dieses Gespanns zu sehen bekommen würden. Diese Unmittelbarkeit intensiviert die Nähe zu Jan und Jule und unterstreicht die Unverfälschtheit der meisterlich geschriebenen Dialoge. Gleichwohl sorgt der saubere, ruhige Schnitt Weingartners, Benjamin Kaubischs und Karen Kramatschecks wiederholt für Entschleunigung und verträumte Bilderfolgen. Im Zusammenspiel mit dem entzückenden Soundtrack, bestehend aus mildsüßen Indie-Liedern, verleiht dies «303» ein behagliches Reisegefühl – weg von Alltagspflichten und ununterbrochener Telekommunikation, einfacht raus in die betörenden Landstriche, die Europa zu bieten hat. Und sich vielleicht auch gegen jede Vernunft in jemanden vergucken ...
Selbstverständlich widersprüchlich
Diese bezirzende Leichtigkeit von «303» generiert sich außerdem aus der einnehmenden Natürlichkeit, mit der Weingartner und Eggert die Figuen skizzieren: Sie stecken voller kleiner Widersprüchlichkeiten, die im großen Ganzen paradoxerweise ein rundes, stimmiges Gesamtbild ergeben – ganz so wie bei echten Persönlichkeiten. Im Laufe des Europatrips werden Jules und Jans Charakteristiken, Weltanschauungen und zwischenmenschliche Ticks Schicht um Schicht aufgedeckt. Politstudent Jan, dem aufgrund seiner kompromisslos liberalen Bewerbung ein Stipendium bei der konservativen Adenauerstiftung verwehrt bleibt, wird laut und unbeugsam, wenn er Jule von der Abschaffung des Kapitalismus träumt. Zunächst drängt sich die Frage auf: Wo ist bitte der Idealist hin, als den wir Jan kennengelernt haben? Doch wie sich schleichend zeigt, ist dies keine inkonsequente Drehbuchentwicklung: Jan mag innerhalb des existierenden Systems Idealist sein, doch er als strebsamer Politstudent weiß, wo die Grenzen des Machbaren sind – und bei aller Liberalität ist ihm bewusst, dass der Kapitalismus zu mächtig ist, als dass wir ihn abschaffen könnten.
Dass er im Zwiegespräch mit Jule bloß entgegnet, wie abstrus er ihren Wunsch findet, den Kapitalismus abzuschaffen, lässt ebenfalls tief in Jans Persönlichkeit blicken. Statt diplomatisch und seinem Weltbild entsprechend zu sagen, dass er Jules Meinung verstehen kann, selbst wenn sie kaum in die Tat umgesetzt werden zu können, kehrt er seine liberale Seite unter den Teppich und sucht die intellektuelle Konfrontation. Und zwar, weil dies Teil seiner Flirttaktik ist: Er, der verständnisvolle, empathische Typ, überbetont seine kantigen, machohafteren Züge. Ein Stück weit augenzwinkernd, ein Stück weit, weil er hofft, so bei Jule Eindruck zu schinden.
Ähnlich verhält es sich mit Jule: Die Biologiestudentin, die mit ihrem an atypische Beziehungsstrukturen glaubenden Freund eine Fernbeziehung führt, entromantisiert im Laufe ihres Austausches mit Jan das Thema Zwischenmenschlichkeit – und weißt auf biochemische Reaktionen hin. Ein Themengebiet, mit dem sie bei Jan offene Türen einrennt, der begeistert sein eigenes Halbwissen teil. Und dennoch hat Jule eine ausgeprägte romantische Ader.
Allein schon ihr Reiseplan, im vererbten Mercedes-Wohnmobil quer durch Europa fahren, ist in seiner Nostalgie romantisch angehaucht. Und wenn die Westentaschenphilosophiediskurse zwischen ihr und Jan das Thema Liebeskonstrukte erreichen, schwärmt sie mit glänzenden Augen von geistigen Verbindungen, die die reine Chemie übersteigen, und stärkt der Monogamie den Rücken. Gleichwohl ist sie es, die im Verbalkampf der Ideologien Jans These des dauerwettstreitenden Menschen ablehnt und Empathie als Grundposition betrachtet, die in Stresssituationen harscher wird und Jan hilflos dastehen lässt, sobald sich die Funkwellen, auf denen die Beiden senden, zu weit voneinander entfernen.
Ein heimlicher Europa-Film
«303» ist darüber hinaus ein wundervoll-subtiler, selbstverständlicher Beitrag darüber, wie schön und beschützenswert die Idee der Europäischen Union ist. Jule und Jan fahren sorg- und problemlos durch einen großen Teil Europas. Grenzen werden mit einem Lächeln auf den Lippen und einem ironisch-kitschigen High-Five durchfahren. Ohne die EU je ein einziges Mal aktiv zu thematisieren und so diese Diskussion mahnend-belehrend zu führen, zeigt Weingartner in «303», welche Freiheiten der Gemeinschaftssinn Europas erlaubt. Dieses unkomplizierte, genüssliche Beisammensein der verschiedenen Nachbarstaaten ist es doch schlussendlich, worum es bei der Idee der Europäischen Gemeinschaft geht, bricht man sie erst einmal herunter.
Es wäre eine Schande, diese Idee wegen teils arg hochgekochter politischer Unstimmigkeiten aufzugeben. So altmodisch Jule und Jan in mancherlei Hinsicht sein mögen, die jungen Erwachsenen, die während ihres Urlaubs nur höchst selten ihr Smartphone auspacken und die dauerquatschend in einem alten Gefährt Europa bereisen. Sie sind auch eine kleine, utopische Zukunftsvision: Sie sind keine Berliner, keine Deutschen – sie sind Europäer. Sie lassen geografische und gedankliche Grenzen hinter sich und ziehen keine unüberwindbaren Gräben zwischen ihnen, wann immer sich philosophische oder politische Differenzen abzeichnen. Sie wissen, dass man seine Individualität bewahren und dennoch harmonisch beisammen sein kann. Und wie die Europäische Union nimmt die angeregt diskutierende Zwei-Personen-Reisegruppe ihren Anfang als Zweckgemeinschaft. Nur bleibt es nicht dabei. Und so wird der Trip aufgrund der Freude, die Jule und Jan zusammen haben, um einen Zwischenhalt nach dem anderen verlängert. Zusammen ist es halt doch schöner …
Fazit
Durch kleine Gesten und große Gesprächsthemen kommen sich zwei Fremde näher: So schön wie in «303» war schon lange keine Filmreise mehr.
«303» ist ab dem 19. Juli 2018 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.