«Dark Tourist» und andere Dokus: Netflix entdeckt das echte Leben

Dokumentationen kommen derzeit im Mainstream an. Das liegt nicht zuletzt an Netflix, das von guten Inhalten massiv überzeugt ist – und millionenschwer investiert. Können die Dokus zu den großen TV-Serien aufschließen?

Mittagspause: Mensa, Schulhof, Kantine, WhatsApp. Und immer wieder die Fragen: Welche TV-Serie schaust du gerade? Hast du diese neue Crime-Serie gesehen? Wie fandest du diesen Horrorfilm, diesen Action-Blockbuster, diese Romantic Comedy?

Vielleicht drehen sich die alltäglichen Gespräche über unseren liebsten TV-Freizeitvertreib bald immer mehr über ein anderes Genre, ein Genre abseits von Serien und Filmen. Die Dokumentation tritt seit einigen Jahren einen Siegeszug an und wandelt sich vom Special-Interest-Format zum Mainstream-Medium. Ungescriptet, mit echten Menschen und echten Problemen, mit beeindruckenden Bildern und großen Geschichten aus dem Leben. Gemeint sind damit Premium-Dokumentationen abseits billiger Reality-Auswüchse. Ein Vorreiter – und gleichzeitig millionenschwerer Investor – des Doku-Siegeszuges ist Netflix. Ähnlich wie bei TV-Serien hat man hier Genre-Grenzen gesprengt und das Medium selbst verändert.

Die Geschichte der Doku-Erfolge bei Netflix ist in bislang drei Etappen erzählt. Die erste datiert vom Jahr 2015, als die True-Crime-Dokuserie «Making a Murderer» beim Streamingdienst erscheint. In den Monaten nach Erscheinen wird über den „Fall Avery“ berichtet, diskutiert, gestritten: Hat Steven Avery wirklich eine junge Frau umgebracht? Sitzt er unschuldig im Gefängnis? Wie schlüssig sind die Beweise? Die Doku zweifelt an der Schuld des Verurteilten, nach Veröffentlichung wird der Fall sogar vor einem US-Bundesgericht neu aufgerollt.

«Making a Murderer» verändert die Doku-Landschaft


Eine Doku wirkt auf das echte Leben hinaus, sie hat reale Folgen – das ist einer der Erkenntnisse, die «Making a Murderer» vielen Zuschauern vor allem in den USA vor Augen geführt wird. Implizit wissen wir: Dokus sind das echte Leben. Millionen Menschen streamen die Dokuserie; sie wird zu einem der erfolgreichsten Programme überhaupt bei Netflix. Und sie ist der Grundstein für eine massive Investitionsstrategie des Streamers: In den kommenden Monaten und bis 2017 kauft Netflix zahlreiche Dokumentationsfilme und -serien auf. Andere Streamer, vor allem Amazon, taten es gleich – die Investitonsbudgets wurden in Richtung Doku umgeschichtet. Der Markt war überhitzt, Dokus wurden für viel Geld zur heißen Ware. Studios, die sich vorher auf fiktionale Inhalte konzentrierten, produzierten zunehmend Non-Fiction. „Der Markt für Dokufilme und-serien erlebt ein Revival“, sagt Blumhouse Television Co-Präsidentin Marci Wiseman. „Dokus werden vom Specialty- zum Mainstream-Entertainment.“

Netflix wählt seine Einkäufe mit Bedacht aus. Die Formate sind oft charaktergetrieben, erzählen also nicht nur von einem Thema, sondern stellt Menschen in den Mittelpunkt. Und sie haben ein dramaturgisches Narrativ, fast schon wie eine gute Serie. So verbinden die Dokus den Entertainment-Faktor mit Wissen, das dem Zuschauer vermittelt wird – oder mit Dingen, die ihn ernsthaft zum Nachdenken anregen. In diesem Jahr gewann die von Netflix eingekaufte Dokumentation «Icarus» den Oscar. «Icarus» erzählt von Bryan Fogel, der ein Radsport-Amateurrennen mit illegalem Doping gewinnen will. Der Selbstversuch soll aufdecken, wie effektiv Doping wirklich ist. Als medizinischen Berater kann der Hobbysportler Grigori Rodtschenkow gewinnen, den Chef des russischen Anti-Doping-Programms. Im Laufe der Doku gerät Rodtschenkow ins Visier internationaler Anti-Doping-Fahnder, und Fogel deckt die Methoden auf, mit denen Rodtschenkow russische Athleten bei den Olympischen Winterspielen 2014 das unerkannte Doping ermöglichte. «Icarus» wird von einer Selbstversuch-Doku zu einem Sportpolit-Thriller internationalen Ausmaßes, mit einer Geschichte, die Nachwirkungen in den weltweiten professionellen Sport hat.

Die neue Strategie: In eigene Inhalte investieren


Für Netflix ist «Icarus» der vorläufige Höhepunkt der eigenen Doku-Ambitionen. In der aktuellen dritten Phase der Entwicklung setzt der Streamer vermehrt auf Eigenproduktionen in diesem Genre. Ähnlich wie bei TV-Serien schafft man damit exklusive Inhalte, die nirgendwo anders zu sehen sein werden. Die unabhängigen Produzenten von Dokus haben dabei derzeit das Nachsehen: Sie sprechen von einem „Unterschied wie Tag und Nacht“, wenn man die Investitionssummen zwischen 2017 und 2018 vergleicht.

Die Kunden merken von diesen Strategien im Hintergrund wenig. Sie sehen stattdessen die ersten Früchte, die im Zuge der Netflix-Eigenproduktionen entstehen. Rund 20 Dokuserien hat man bislang im Jahr 2018 veröffentlicht, das sind jetzt schon mehr als im gesamten Vorjahr – die einzelnen Dokumentationsfilme noch gar nicht mitgerechnet. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Food-Formaten, die oftmals mit kulturellen Aspekten verbunden werden. «Somebody feed Phil» schickt einen Sitcom-Produzenten um die ganze Welt, um kulinarische Besonderheiten aufzutreiben. «Ugly Delicious» tut dasselbe mit Restaurantchef David Chang – in jeder Folge geht es hier um ein bestimmtes Gericht und darum, wie es an verschiedenen Orten der Welt interpretiert und zubereitet wird. Im Oktober folgt mit «Salt, Fat, Acid, Heat» eine minimalistische Kochserie.

Hoch im Kurs stehen ebenfalls die True-Crime-Serien, von denen «The Staircase» (Foto) derzeit vielbesprochen wird. Mit «American Vandal» parodiert Netflix sogar dieses Doku-Untergenre. Oftmals wagt sich der Streamer auch an ungewöhnliche, an polarisierende Themen: In «Dark Tourist» reist ein Journalist an Orte, die von Tod und Tragödien heimgesucht wurden. «Wild Wild Country» zeichnet die Geschichte eines indischen Gurus nach, der im USA der 1980er Jahre eine Kommune freiheitlicher Religion und Spiritualität aufbauen wollte. «Dope» begibt sich an die Basis von Drogendealern und erzählt die Realität des Straßenhandels aus ihrer Sicht, aber auch aus der von Junkies.

All diese Doku-Formate haben den genannten narrativen Charakter, sie haben einen Spannungsaufbau – und vor allem meist eine zentrale Figur, an der sich die Geschichte entlang aufbaut. Viele puristische Dokumentare begegnen dieser Entwicklung mit Skepsis. Auf die Macher wächst der Druck, sich stärker kommerziell zu orientieren und die neuen Konzepte zu bedienen. Die Formate müssten „charaktergetrieben oder sehr high-concept“ sein, sagt Dokufilm-Produzent Kevin Iwashina. „Man kann nicht länger nur ein einfaches ‚Thema‘ bedienen.“

In jedem Fall befindet sich das Doku-Genre in einer Zeit der Neuorientierung – auch durch Netflix. Geht man von einer ähnlichen Entwicklung wie bei den TV-Serien aus, so wird der Markt in den kommenden Jahren größer und vielfältiger – aber vielleicht auch ideenärmer.
23.08.2018 08:40 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/103223