In seiner am Montagabend startenden Dokureihe begleitet VOX den ganz normalen Alltag ganz normaler Schüler und Lehrer an einer ganz normalen Schule - und ist ganz und gar nicht gewöhnlich. Über einen starken Neustart, der die Schule einmal nicht hauptsächlich als Hort der Probleme und des Versagens darstellt.
Wann wurde wo, was und wer gefilmt?
- 6 Wochen lang an der Gemeinschaftsschule Albert Schweitzer in Aschersleben
- in jeweils 2 Klassen der 5. und 9. Jahrgangsstufe
- Schulleitung, Lehrer und über 470 Schüler mitsamt ihrer Eltern gaben ihr Einverständnis (etwa zehn Schüler taten dies nicht, diese sind nicht in der Sendung zu sehen)
- Katrin Jelitte (Schulleiterin) zur Reaktion auf die Drehanfrage: "Wir haben diese Idee dann im Team mit den Eltern, Schülern und Lehrern besprochen. Da gab es erstmal die unterschiedlichsten Reaktionen. Manche waren verhalten, manche sehr aufgeschlossen, und da haben wir einfach gesagt: 'Wir hören uns jetzt mal an, unter welchem Aspekt diese Dreharbeiten überhaupt stattfinden sollen.' Als klar wurde, dass bei diesem Projekt Schule so dargestellt werden soll, wie sie wirklich ist, haben wir zugestimmt."
Pünktlich zum neuen Schuljahr hat sich der in den kommenden Jahren absehbare Bildungsnotstand aufgrund akuten Lehrermangels zwischen die seit Jahren omnipräsente Migrations- und Flüchtlingsfrage gequetscht. Diese problemorientierte Herangehensweise an das Thema Schule hat ihre gesellschaftspolitische Berechtigung, sorgt aber auch dafür, dass einmal mehr die defizitorientierte Betrachtungsweise dieses Mikrokosmos vorherrscht. Dass Schule bzw. das Schüler- und Lehrer-Dasein aber nicht nur Stress, Druck und Probleme mit sich bringt, sondern auch Freude machen, den Glauben an die eigene Befähigung sowie das gemeinsame Miteinander stärken kann, zeigt die neue VOX-Sendung
«Unsere Schule» ab diesem Montag - ohne jedoch die Schwierigkeiten kleinzureden. Damit ist die brandneue Dokureihe nicht nur eine Bereicherung für die deutsche Bildungsdebatte, sondern auch für das Privatfernsehen.
Das Konzept der aus Großbritannien stammenden und dort bereits sechs Staffeln umfassenden («Educating...») Sendung ist im Grunde simpel: Mit 30 festinstallierten Kameras und mehreren Kamerateams wird der Alltag an einer Gemeinschaftsschule im sachsen-anhaltinischen Aschersleben begleitet, wobei man als eines der wenigen Projekte dieser Couleur (VOX selbst spricht sogar von erstmals) den gesamten Schulalltag bis hin zum Geschehen im Lehrerzimmer und Sekretariat über einen längeren Zeitraum hinweg filmen durfte. Das mehrere tausend Stunden umfassende Drehmaterial wurde dann von Produzent Imago TV für die TV-Ausstrahlung auf sechs (Brutto-)Einstünder gekürzt, die jeweils zur besten Sendezeit um 20:15 Uhr laufen sollen.
Hoher Aufwand für eine möglich realitätsnahe Abbildung der Wirklichkeit
Ein gehöriger Aufwand also für alle Beteiligten, denn auch die Schule musste die Einverständniserklärung von mehr als 470 Schülerinnen und Schülern sowie ihren Eltern zusammentragen, was bis auf einige wenige Ausnahmen allerdings gelang (siehe Infobox oben). Das hat sich allerdings gelohnt, denn die Auftaktfolge deutet schon einmal sehr deutlich an, dass man bei dieser Sendung tatsächlich weitgehend authentisches Material aus dem Schulalltag geboten bekommt und keine kamerataugliche Imitation dessen. Es mag zwar etwas skurril anmuten, wenn inmitten einer Gruppenaufnahme plötzlich ein einziges Gesicht verpixelt ist, da bei diesem Lernenden die Eltern keine Einverständniserklärung unterschrieben, aber das ist nicht weiter dramatisch. Natürlich lässt sich auch nicht komplett ausschließen, dass der eine oder andere Schüler oder die eine oder andere Lehrkraft an mancher Stelle im Wissen um die Kamera ein wenig anders agierte, aber diese Verzerrungseffekte fallen marginal aus.
Welcher Tatsache man sich beim Konsum des Formats, das tendenziell eben eher von einem löblichen Fallbeispiel in der deutschen Bildungspluralität erzählt, aber doch bewusst sein sollte: Die Auswahl der Schule, der partizipierenden Lehrkräfte, der fokussierten Klassen, der gefilmten Kinder und Jugendlichen sowie der von allen getätigten Aussagen kann schon dazu beigetragen haben, dass positive Aspekte überbetont und Schattenseiten im Verborgenen blieben. Dieser Problematik muss sich ein jedes Format stellen, das Realität abbilden möchte und auf die Bereitschaft der Abgebildeten angewiesen ist, dabei mitzuwirken. Der springende Punkt aber ist: Eine bewusste Manipulation der Realität findet zumindest im dem Zuschauer ersichtlichen Rahmen nicht statt.
Das gefilmte Material umfasst im Wesentlichen drei Dinge:
- Szenen aus dem Unterricht, dem Pausenhof oder dem Sekretariat, bei denen zumeist schlichtweg Momentaufnahmen aus dem Alltag gezeigt und meist mehrere Akteure oder ganze Gruppen (vornehmlich Klassen) gefilmt werden.
- Reflektierende Gespräche im Anschluss an die reine Gruppen-Beobachtung, in denen zumeist Lehrkräfte oder Schüler die jeweilige Situation kommentieren und einordnen.
- Eine Mixtur aus den beiden ersten Punkten, da sich die Macher auf einige wenige Protagonisten fokussieren. Hier deutet ein Blick auf die kommenden Wochen schon an, dass die Leiterin der Schule durchgehend begleitet wird, während vor allem auf Schülerseite jede Folge andere Personen näher beleuchtet werden.
Fokus auf wenige Personen sorgt für Differenzierung und Intimität
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Es gab Schüler, die am Anfang sehr verhalten waren. Die haben erstmal überlegt: Was passiert jetzt hier? Aber das ging sehr schnell weg. Und viele fanden es auch total interessant, zu beobachten, wie die ganze TV-Technik auf- und abgebaut wurde und wie die Interviews geführt wurden. Im Team gab es natürlich bei manchen auch die Befürchtung: 'Was ist, wenn ich jetzt in der falschen Situation erwischt werde, ich bin ja auch nur ein Mensch, was denken die Leute dann von mir?' Anfangs kamen auch noch Fragen unter Kollegen wie 'Bist du gerade verkabelt, hört das gerade jemand?' Am Ende war das jedem egal. Und die Zusammenarbeit mit dem Drehteam und wie man miteinander umgegangen ist, hat einfach Spaß gemacht. Wir haben allerdings Kollegen, die gesagt haben, sie möchten bei dem Projekt nicht dabei sein, das waren wenige, aber auch das muss man akzeptieren.
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Katrin Jelitte, Schulleiterin der teilnehmenden Gemeinschaftsschule, zu ihrer Sicht auf die Dreharbeiten.
An dieser Fokussierung tut «Unsere Schule» auch gut, um den Zuschauer emotional an die Sendung zu binden. Bei rund 500 Menschen, die an dieser Schule verkehren, ist es ohnehin kaum möglich, in sechs Einstündern den kompletten Überblick zu erhalten - es droht viel mehr die Gefahr, dass Lernende wie Lehrende zu einer anonymen Masse verkommen, von denen zusammenhanglose und damit letztlich auch egale Bilder gezeigt werden. Um das zu verhindern, stürzen sich die Verantwortlichen in der ersten Folge etwa auf den neu an die Schule gekommenen Anthony, der erst in der fünften Klasse ist, aber schon den vierten Schulwechsel hinter sich hat - und nun in Aschersleben auf dem besten Wege ist, endlich irgendwo anzukommen. Die zweite Schülerin, der ein besonderes Interesse gilt, ist die Neuntklässlerin Lisa, die den Unterricht häufig stört, schnell pampig reagiert und ihrer Englischlehrerin sogar den Mittelfinger zeigt.
Es wäre ein Leichtes gewesen, vor allem Lisa als Prototypen einer verzogenen pöbelnden Asozialen zu stilisieren - und hätte man an einer anderen Schule und für eine andere Sendung gedreht, wäre genau dies wahrscheinlich auch geschehen. Stattdessen arbeitet man die Ambivalenz in Lisas Auftreten heraus und zeigt auch, wie stark sie ihren Problemen in der Familie begegnet, wie sie trotz ihrer verbalen Ausfälle und temporären Null-Bock-Einstellung die Klasse dennoch vorantreibt und sogar gar nicht mal so schlechte Schulleistungen zeigt. Diese Abkehr davon, in einer Schülerin bloß den platten Stereotypen zu erkennen, ist ein wichtiges Qualitätskriterium für die pädagogisch-didaktische Arbeit - und auch durchaus eines für gute, intelligente Fernsehunterhaltung. Es ist dem Format hoch anzurechnen, dass es dies auch tatsächlich zu leisten bereit ist.
Die vielleicht spannendste Nebengeschichte der Auftaktfolge ist aber auf Lehrerseite zu verorten: Frau John erzählt in einem sehr intimen Moment gegenüber dem Kamerateam von ihrer eigenen Geschichte im Lehramt, genauer gesagt von ihrem Beinahe-Scheitern vor einigen Jahren, als die an einer anderen Schule in der Nähe gerade ihr Referendariat begann. Dort kam sie überhaupt nicht zurecht, zweifelte an ihrer Befähigung und bekam derart negatives Feedback, dass sie ihren Vorbereitungsdienst sogar abbrach und sich als angehende Lehrkraft aufgab - bis sie von Schulleiterin Jelitte (Foto) gefördert wurde. Es ist selten, dass eine Lehrerin im Fernsehen derart offen auch über das eigene Scheitern, die eigenen Zweifel und die eigenen Probleme spricht und macht Mut für die kommenden Wochen, dass es dem Kamerateam gelungen ist, derart positiv auf die Beteiligten einzuwirken, dass weitere ähnlich offene und bereichernde Impulse zu erwarten sind.
Fazit: VOX festigt seinen guten Ruf abermals
Was der Sendung gegenüber «Die wunderbare Welt der Kinder», mit dem sie VOX übrigens sogar selbst in Zusammenhang bringt, ein wenig fehlt, sind die spielerischen Elemente in Form der wissenschaftlichen Experimente, die ins besagte Format immer wieder mal integriert wurden und das Geschehen zusätzlich ausgelockert haben. Zudem sah sich «Unsere Schule» mit der Herausforderung konfrontiert, einer deutlich höheren Zahl von jüngeren und älteren Protagonisten ansatzweise gerecht zu werden, was aller Voraussicht nach auch nicht gelingen kann. Hier müssen sich Imago TV und VOX darauf konzentrieren, in erster Linie den Bedürfnissen des Fernsehpublikums Rechnung zu tragen, weshalb wohl einige Schülerinnen und Schüler in den kommenden Wochen nur als Randerscheinung fungieren können - bei einem sechsteiligen Fernsehformat ist das okay und kaum anders zu händeln, in der Schule sollte es so natürlich nicht laufen.
Ansonsten aber dürfen sich die Zuschauer auf eine weitere sehenswerte und facettenreiche Dokumentation des Senders freuen, welche die Schule als einen Lebensort betont, an dem man sich als Heranwachsender wohlfühlt und seine eigene Persönlichkeit entwickeln kann. Dass es nicht immer so läuft und der Schulalltag auch viele Konflikte bereithält, deutet das Format (vielleicht an der einen oder anderen Stelle zu sanft) durchaus an, zielt aber eher auf das "Ja!" als auf das "Aber!" ab. Für einen Mikrokosmos, der sonst meist eher negative Schlagzeilen generiert und auch im Fernsehen eher selten positiv belegt ist, tut das mal ganz gut - und wird die Rolle des Senders als werbefinanzierter Akteur mit sehr sehenswerten, unaufgeregten faktualen Inhalten weiter stärken.
VOX zeigt insgesamt sechs Folgen von «Unsere Schule» immer montags um 20:15 Uhr. Im Anschluss daran läuft mit «Eine Nacht mit dem Ex» ein weiterer Neustart, der bei uns ebenfalls besprochen wird.