Ein alter Mann hält Lebensrückschau und will kitten, was er angerichtet hat: «Das Leben vor mir» ist in vielerlei Hinsicht ein typischer Aufarbeitungsfilm – aber ein untypisch progressiver.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Matthias Habich als Cornelius
Stephan Kampwirth als Frank
Eleonore Weisgerber als Julia
Maren Eggert als Natascha
Florian Panzner als Abel
Sebastian Fräsdorf als Wilhelm
Lola Klamroth als Carmen
Hinter der Kamera:
Produktion: Leitwolf Filmproduktion GmbH
Drehbuch: Sathyan Ramesh
Regie: Anna Justice
Kamera: Adrian CranageCornelius (Matthias Habich) will bald den fünfundzwanzigsten Jahrestag mit seinem deutlich jüngeren Lebenspartner Frank (Stephan Kampwirth) begehen und hat für diesen Anlass bereits Konzertkarten besorgt. Doch aus der trauten Zweisamkeit wird so schnell nichts: Vor der Tür steht Julia (Eleonore Weisgerber), die Mutter von Cornelius‘ Kindern, die er vor knapp drei Jahrzehnten hat sitzen lassen, als er endlich bereit war, als offen homosexueller Mann zu leben. Julia ist damals nach San Francisco gezogen, ans andere Ende der Welt, so weit weg wie möglich von dem fürchterlichen Lebenseinschnitt. Jetzt sei ihr Leben zu Ende und sie wisse nicht, wohin, sagt sie. Cornelius und Frank, beide im Grunde aufrichtige Leute, lesen aus diesen Sätzen das Schlimmste heraus und nehmen Julia bei sich auf.
Unweigerlich beginnt ein Prozess der Aufarbeitung, der auch vor dem zerrütteten Verhältnis zu den mittlerweile erwachsenen Kindern nicht Halt macht: Der Kontakt ist sporadisch, und die Sprösslinge sind mittlerweile vornehmlich mit ihren eigenen Lebenslügen beschäftigt. Der Sohn hat sich finanziell übernommen und ist nun Leibeigener eines Moskau-Inkasso-Verschnitts, die Tochter lebt in einer kaputten Ehe, will die Mutter wegen einer alten, unverwundenen Ungerechtigkeit nicht sehen und erläutert dem Vater ohne Grausamkeit, aber deutlich sein jahrelanges Fehlverhalten und Versagen, das seinen Teil zu ihrer heutigen Misere beigetragen hat.
Das Thema – ein alter Mann hält Lebensrückschau, erkennt, was er angerichtet hat, und versucht nun, auf den letzten Metern zu kitten, was noch geht – ist bei öffentlich-rechtlichen Sendern wohl auch wegen ihrer Zuschauerstruktur besonders beliebt – mithin so sehr, dass man seinen Vertretern guten Gewissens eine eigene Genrebezeichnung zuweisen könnte: den Aufarbeitungsfilm.
Doch während sich die meisten Aufarbeitungsfilme mit einem eng umschriebenen Untersuchungsfeld begnügen und es zum Zwecke der maximalen Konfrontation gerne kammerspielartig betrachten, verzettelt sich «Das Leben vor mir» angesichts der Vielzahl seiner unterschiedlichen Konflikte im Kleinklein, und findet dabei weder zu erzählerischer Klarheit noch zu einer dramaturgisch sinnigen Struktur.
Eine alte Frau, die nicht mehr weiß, wohin. Ein überschuldeter Sohn, der sich zum Büttel von Gaunern machen muss und dessen eigene Liebesbeziehung darüber schmerzhaft zerbrochen ist. Eine depressive Tochter mit völlig zerstörter Ehe, die so antriebslos geworden ist, dass sie die Hausarbeit an ihre Vorschulkinder delegiert. Ein Mann voller Lebensenergie in glücklicher Partnerschaft, der sich blöderweise neu verliert. Und inmitten all dieser Katastrophen der alte Cornelius, dem mit seinem Umfeld auch sein Leben um die Ohren fliegt: Dieser Film kämpft an viel zu vielen Fronten und wird deshalb an so gut wie jeder von ihnen viel oberflächlicher, als seine mit großem psychologischen Interesse gezeichneten Charaktere sein müssten. Auch die eloquenten, mitunter gewitzten Dialogzeilen können diese strukturellen dramaturgischen Probleme nicht überspielen.
Dagegen gefällt, dass «Das Leben vor mir» sich nicht boulevardesk auf seinen vermeintlichen Tabubruch – die Erzählung einer homosexuellen Liebesgeschichte – stürzt, sondern die mit der Narrative einhergehenden Konflikte stattdessen mit einer völligen Normalität erzählt, auch wenn der Film – ein ähnlicher Vorwurf, der gegen das vielgepriesene amerikanische «Modern Family» erhoben wird – sehr zurückhaltend hinsichtlich homosexueller Zärtlichkeiten ausfällt. Die progressive Haltung kennt noch Grenzen, aber sie macht Fortschritte. Einer von ihnen ist vielleicht dieser Film. Schon dafür hat er sich gelohnt.
Das Erste zeigt «Das Leben vor mir» am Mittwoch, den 24. Oktober um 20.15 Uhr.