«Spuk in Hill House» & Co.: Warum virales Marketing heute einfacher denn je ist

Immer wieder machen beim Erscheinen neuer Horrorware Meldungen über extreme Zuschauerreaktionen die Runde - und die Produktionen profitieren. Warum das den Produktionen mehr denn je hilft.

Die Vermarktung verschlingt sowohl bei Filmen als auch bei Serien zuweilen Unmengen an Kosten und verlangt Kreativen immer wieder neue und innovative Strategien ab, um Aufmerksamkeit für frische Produktionen zu generieren. Zuschauer, die auch ein Blick auf Marketing und PR haben, werden sich in der jüngeren Vergangenheit an die wahnwitzigen Meta-Spots von «Deadpool» (Foto) erinnern, an Sacha Baron Cohens berüchtigte Pressetour für «Borat», an eine eigens kreierte Freizeitpark-Website für «Jurassic World» oder den Nachbau berühmter Handlungsorte für den «Simpsons»-Film. Marketing muss jede Produktion in der Unterhaltungsindustrie betreiben. Nur das Horror-Genre verlässt sich seit längerer Zeit auf die immer gleichen verstaubten Muster und Klischees. Warum? Weil es funktioniert, heute besser denn je.

Das Horror-Genre ist das profitabelste


Paradox wirkt, dass Horror gleichzeitig das Genre darstellt, wo wirkungsvolles Marketing häufig den höchsten Ertrag bringt. Das Spiel mit der Angst, das Horror-Produktionen innewohnt, scheint nämlich einer der größten Anreize zu kennzeichnen, um Leute vor die Bildschirme oder Leinwände zu locken. Eine Lehrstunde in raffiniertem und gleichzeitig sehr erfolgreichem Marketing erteilte der Branche einst «Blair Witch Project». Ein Jahr bevor der Film veröffentlicht wurde, erstellte das Produktionsstudio eine Website, auf der die zentrale Gruselgeschichte des Streifens erzählt wurde, die bis ins Jahr 1785 zurückging. Lesern wurde weisgemacht, die Familien der Vermissten hätten darum gebeten, die Geschichten ihrer Geliebten zu verfilmen. Es gab inszenierte Polizeifotos, falsche Nachrichtenberichterstattung oder Interviews mit den Familien. So wurde der Horror-Film als Doku verkauft und Interessenten, die das gerne glauben wollten, waren so fasziniert, dass der Film bei einem aus heutiger Sicht lächerlichen Budget von 60.000 Dollar weltweit 250 Millionen Dollar einspielte.

Dieser Wahnsinns-Erfolg muss freilich im Kontext der damaligen Zeit betrachtet werden. «Blair Witch Project» erschien im Jahr 1999, als es um die Medienkompetenz im Internet noch nicht besonders gut bestellt war und somit viele Nutzer die Geschichten für bare Münze nahmen. Des Weiteren kennzeichnete der Film erst den eigentlichen Beginn des Found-Footage-Genres, also das Verkaufen inszenierten Materials als authentisch, das seitdem zu einer beliebten Spielart im Horror-Bereich wurde. Was damals revolutionär war, ist heute längst Standard. Doch wie genügsam Horror-Fans sind, zeigte sich einige Jahre später im Rahmen von «Paranormal Activity». Im Grunde bediente sich der erste Film von Oren Peli im Jahre 2007 genau der gleichen Strategie wie «Blair Witch Project», als scheinbar dokumentarische Aufnahmen aus einem mutmaßlich von Geistern heimgesuchten Haus als echt verkauft wurden. Wider besseren Wissens sprangen Horror-Zuschauer darauf an. Aus dem für 15.000 Dollar produzierten Film erwuchs ein Einspielergebnis aus 250 Millionen Dollar und die erfolgreichste Horrorfilmreihe der jüngeren Vergangenheit.

Das Internet hilft Horror-Produktionen enorm


Schnell ließ im neuen Jahrtausend also die Fantasie der Studios nach. Doch verdenken konnte es ihnen kaum jemand, schließlich funktionierte das Marketing blendend. Auf dem Zenit des Internet-Zeitalters scheint die Vermarktung von Horrorfilmen mittlerweile sogar einfacher denn je. Mittlerweile mehrere Beispiele dafür lieferte Netflix. Zuletzt machten sich Produktionen beim Streaming-Anbieter nämlich gar keine große Mühe mehr, Geschehnisse in Horrorfilmen als authentisch zu verkaufen oder als „auf wahren Begebenheiten beruhend“, wie es auch in anderen Genres gerne heißt.

Letzteres traf zwar auch auf «Verónica» zu, das im Frühjahr 2018 auf Netflix erschien, doch es genügte schon Internetzuschauern glauben zu machen, hierbei handle es sich um den wahlweise „schlimmsten“, „gruseligsten“ oder auch „härtesten“ Horror-Film aller Zeiten – einen Titel, den Horror-Produktionen immer wieder gerne für sich beanspruchen. Garniert wurde diese Behauptung mit kolportierten Zahlen, die beweisen sollten, das die meisten Leute den Film abbrechen. Um «Verónica» entstand ein riesiger Hype im Netz, dabei trafen die Superlative keineswegs auf den durchaus effektvoll inszenierten Film zu, den Netflix aus Spanien vermutlich günstig einkaufte.

Welche Rolle spielen Online-Medien?


Dem Video-on-Demand-Dienst deswegen einen Vorwurf zu machen, wäre aber auch falsch, denn die Aufmerksamkeit, die «Verónica» erreichte, ist im Wesentlichen das Ergebnis neuer Medien-Mechanismen, die durch das Internet entstanden. Jede Nachrichtenseite, jedes Magazin und jeder Blog im Internet kämpfen im World Wide Web um die begrenzte Aufmerksamkeit der Nutzer und sind dabei gezwungen, mit Superlativen um sich zu schmeißen, um die höchsten Klickzahlen zu erzielen. Das machen sich Firmen längst zunutze, die mit übertriebenen Pressemitteilungen dankbare Abnehmer in den verschiedensten Online-Medien finden.

Doch Überraschung: auf Nachfrage verschiedener Online-Dienste stellte sich heraus, dass Netflix weder Pressemitteilungen zu «Verónica» verschickt hatte, noch Statistiken, auf denen zu sehen war, wie viele Menschen den Film abbrachen. Netflix veröffentlichte kurze Zeit später tatsächlich eine derartige Liste, auf der «Verónica» aber fehlte. Das rückte die mutmaßliche Marketing-Kampagne in ein völlig neues Licht, schienen doch entweder Internetnutzer oder die berichtenden Medien selbst diese Zahlen frei erfunden zu haben. Die Kollegen haben danach munter abgeschrieben.

Würden nun vermeintlich unabhängige News-Seiten das Marketing für Horrorfilme übernehmen, würde das den Online-Journalismus in ein noch schlechteres Licht rücken als ohnehin schon. Aufklären lassen sich diese Ungereimtheiten im Zuge von «Verónica» nicht, doch Serienfans werden womöglich bemerkt haben, dass sich Ähnliches zuletzt wiederholte – und wieder profitierte eine Produktion auf Netflix: «Spuk in Hill House», das am 12. Oktober 2018 auf Netflix erschien, stattete der Streaming-Dienst mit einer vergleichsweise kleinen Marketing-Kampagne aus. Es dauerte aber nicht lange bis die Serie trotzdem im Netz in aller Munde war. Gemeint sind nicht die sehr wohlwollenden Kritiken zur toll umgesetzten Horror-Serie, sondern Medienberichte von Erbrechen, Ohnmachtsanfällen oder Schlaflosigkeit der Zuschauer. Nach dem gruseligsten Horrorfilm im Frühjahr hatten die Medien nun ein halbes Jahr später auch ihre „gruseligste/härteste/ekligste Horrorserie aller Zeiten“.

Etliche Seiten sprangen auf den Zug auf, zitierten Twitter-Nutzer, denen die Serie scheinbar zugesetzt hatte und hypeten «Spuk in Hill House» damit in Sphären, die die qualitativ sehr gute Produktion auch wirklich verdient hatte. Die kostenfreie Werbung, die die Serie dadurch erhielt, schmeichelte den Produzenten sicher, führte aber erneut in die Irre. Zu großen Teilen fand sich in «Spuk in Hill House» nämlich auch ein Familien-Drama und das knapp zehnstündige Format ließ in einigen Folgen den großen Grusel vermissen. Natürlich gibt es dennoch Momente, in denen Zuschauer die Angst aufgrund großartiger Inszenierung kaum aushalten, wirkliche Genre-Fans könnten aber aus dem Stegreif deutlich härtere Horror-Ware nennen.

Da nun eine Produktion von fragwürdigem Marketing profitiert hat, der man es gönnt, könnten kritische Beobachter dieser Entwicklungen im Online-Bereich es ja nun gut sein lassen, oder? Ja, allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem es mal wieder eine minderwertige Horror-Produktion zu unverdientem Ruhm schafft, weil Online-Redakteure aufgrund von ein paar Tweets nicht an sich halten können. Der Moment wird kommen und er wird immer häufiger kommen. Und diejenigen, die Marketing betreiben sollten, sind womöglich nicht einmal schuld.
16.11.2018 11:16 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/105231