Filme sehen, ja, das ist nicht schwer. Filme verstehen, oh, dagegen sehr.
Junge schreibt heimlich unter dem Schultisch ein Liebesgedicht. Junge lässt Liebesgedicht weiterreichen, damit es sein Ziel erreicht. Gedicht wird gelesen. Junge wird verängstigt angeblickt. Und nicht etwa erfreut-verliebt. So kann es kommen. Intention und Rezeption können sich weit, weit unterscheiden. Das kann auch in einem größeren Rahmen passieren: Sämtliche Beteiligten an «American History X» wollten ein schockierendes Drama machen, das die Gefahr zeigt, die von Neo-Nazis ausgeht. Und viele, viele Menschen verstehen «American History X» auch exakt so, wie der Film intendiert wurde. Und dann gibt es jene, die den Film komplett missverstehen und als Feier ihrer ultrarechten Gesinnung sehen. Yikes.
Eine ähnliche Erfahrung musste Oliver Hirschbiegel mit «Der Untergang» machen: Sein Historiendrama über die letzten Tage Hitlers wird in rechten Kreisen mitunter als Hitler vermenschlichender Film gehuldigt, der zeigt, wie wacker die deutschen Truppen Berlin in den finalen Atemzügen des Zweiten Weltkrieges verteidigt haben. Hirschbiegels Intention, Hitler als egomanischen Irren zu zeigen, der sein Umfeld durch freundliches Auftreten zu manipulieren wusste, und wie viele Menschenleben verloren gegangen sind, weil die Nazis ihren aussichtslosen Kampf nicht einfach aufgegeben haben, geht an diesen Menschen vorbei.
Und auch aus anderen politischen Zirkeln hagelte es Kritik an «Der Untergang», der zu melodramatisch und sentimental sei. Hirschbiegels Jahre später inszeniertes Drama «Elser – Er hätte die Welt verändert» wirkt da direkt wie der Versuch, «Der Untergang» zu korrigieren: Hitler ist in diesem Historienfilm nur mit verzerrter, kaum zu entziffernder Stimme zu vernehmen und mit Nachdruck zeigt Hirschbiegel die umgreifende Unmenschlichkeit in einem nach und nach der Nazi-Ideologie verfallenden Deutschland. Fehldeutung nahezu ausgeschlossen.
Die Gefahr der Fehldeutung ist auch der Grund dafür, dass die politsatirische Mockumentary «Bob Roberts» von und mit Tim Robbins nie ein offizielles Soundtrackalbum erhalten hat. In dem Film geht es um einen nationalistischen Folksänger, der Lieder gegen Migranten und soziale Leistungen verfasst. Regisseur und Hauptdarsteller Robbins befürchtete, dass Leute die satirischen Songs aus seinem Film ohne Kontext als ehrlich gemeinte Botschaften missverstehen würden.
Eine faszinierende Inversion des Ganzen ist wohl "der erste US-Blockbuster", «Geburt einer Nation». Regisseur D. W. Griffith war, so weit Filmhistoriker dies aus vorliegenden Informationen rekonstruieren können, alles andere als ein Rassist. Jedoch hat er offenbar den offensichtlichen Subtext seiner Romanvorlage komplett übersehen – und ihn dennoch authentisch von der Vorlage in die Adaption gerettet. Sein Film sorgte für die bis heute anhaltende Renaissance des Ku Klux Klans und Griffith war von der Deutung seines Films so erschüttert, dass er den Rest seiner Karriere damit beschäftigt war, in seinen Filmen deutliche Botschaften gegen Intoleranz zu vermitteln.
Eine wiederkehrende Feststellung ist wohl: So sehr filmverliebte Menschen und viele, viele Filmkritiker Subtilität loben, können Filmschaffende wohl in manchen Themengebieten einfach nicht deutlich genug vorgehen, um Missverständnissen vorzubeugen. Man sehe sich nur «Starship Troopers» an: Aus jeder Pore dieses Science-Fiction-Films ätzen Gift und Galle darüber, wie dumm Kriegstreiberei, der amerikanische Jingoismus und faschistoide Tendenzen sind. Die Werbespots innerhalb der Filmwelt sind dicker überzeichnet als «Switch reloaded»-Werbeparodien. Und dennoch wurde Paul Verhoeven von unzähligen Kritikern und Freigabebehörden vorgeworfen, kriegs- und gewaltverherrlichend zu sein.
Und auch ein weiterer Regisseur, dem Subtilität ein Fremdwort ist, hat mit einem seiner am meisten übertreibenden Filmen an weiten Teilen des Publikums vorbei gezielt: Joel Schumachers Ein-Mann-dreht-durch-Thriller «Falling Down – Ein ganz normaler Tag» zeigt Michael Douglas als cholerische Bedrohung für die Allgemeinheit. Von Filmminute zu Filmminute wird er wahnsinniger und unangenehmer – und laut Schumacher bekommt der Regisseur noch immer regelmäßig Komplimente dafür, mit diesem Film endlich mal "die Wahrheit gezeigt zu haben", und dass Douglas' Rolle ja ein Vorbild sei. Autsch.
Aber so ist das wohl mit dem Gewaltdurst der Menschheit. Nach «Das Millionenspiel», einem deutschen Fernsehklassiker über eine tödliche Gameshow, kamen der Legende nach mehrere Briefe in die Sendeanstalt geflattert – mit Fragen, wo man sich denn bewerben könnte. Dazu passen auch die ganzen Fanfictions über «Battle Royale» und «Die Tribute von Panem», in denen Fans davon träumen, an den Killerspielen teilnehmen zu dürfen. Von den ganzen Fight Clubs, die nach dem toxische Maskulinität durch den Kakao ziehenden «Fight Club»entstanden sind, mal ganz zu schweigen. Und die oft als majestätisch und "cool" betrachtete Helikopterszene in «Apocalypse Now» wurde von Francis Ford Coppola gezielt mit dem Ritt der Walküren untermalt: Er wollte in der Szene die US-Streitkräfte mit den Nazis gleichsetzen und so unmissverständlich karikieren. Und nun zählt man bitte, wie viele Hommagen an diese Szene diesen kritischen Tonfall beibehalten …
Mitunter trägt wohl auch unser aller schlechte Gedächtnisleistung Schuld an solchen Missinterpretationen. Das kollektive Popkulturgedächtnis feiert «Saturday Night Fever» für John Travoltas coole Moves und die schmissigen Songs der Bee Gees. Was passiert wirklich im Film? Achtung,
Spoileralarm für einen jahrzehntealten Meilenstein der Popkultur: Travoltas Figur erkennt, nur aufgrund der rassistischen Ansichten der Jury gewonnen zu haben, gibt die Trophäe an die Zweitplatzierten ab und hängt resigniert sein Leben in der Disco-Subkultur an den Nagel. Ein Abgesang auf den Disco-Lifestyle ist nun die Atemmaschine, die die komatöse Disco-Ära noch am Leben hält.
Jo. Passiert.