«Lindenstraße»: Die heilige Kuh auf der Schlachtbank

Die Zeiten haben sich geändert, die «Lindenstraße» nicht. Mit der alten Bundesrepublik verschwand auch die Grundlage dieser Serie: Mutter Beimers Ruhestand war fällig.

„Relikt der alten Bundesrepublik“ ist wohl das häufigste Schlagwort, mit dem die «Lindenstraße» in den Tagen nach der Ankündigung ihrer Absetzung beschrieben wurde. Das trifft es ganz gut: Denn Relikte haben es an sich, dass sie unbrauchbar geworden sind, ein unnötiger Klotz am Bein, aber wegen einer irrationalen Verklärung noch irgendwie weiterwanken.

Sieht man sich aktuelle Folgen des Seriendinosauriers an, erkennt man rasch, wie sehr das Format in der Vergangenheit feststeckt, in einer schon lange zum Anachronismus gewordenen Trutschigkeit. Die «Lindenstraße» ist eine Nostalgiemaschine, eine fetischistische Verklärung von Vergangenem und Altbackenem, ein televisionäres Seniorenheim, wo die Reste der spießbürgerlichen Kleinbürgerlichkeit eine Parade abhalten.

In den oft wehmütigen Analysen und Kommentaren zur Absetzung lässt sich feststellen, dass das, was sich hinter dieser Beschreibung verbirgt, auch positiv sein kann: Draußen ist es kalt, schnelllebig und modern, kompliziert und vertrackt. Aber hier drinnen, in den Wohnungen, Cafés und Restaurants der Münchener «Lindenstraße», wedeln immer noch Mutter Beimer und Gabi Zenker durch wie zu den besten pantoffeligen Hausmusikabenden vor drei Jahrzehnten: Alles ist einfach, klar und wie früher. Die Einfachheit und die Vertrautheit sind Sehnsuchtsorte, und nichts ist so einfach und vertraut wie die «Lindenstraße». Damit ist es nun vorbei.

Die «Lindenstraße» war hochpolitisch, wird gegenüber solchen Ausführungen gerne ins Feld geführt. Eine Beobachtung, der man nicht sinnvoll widersprechen kann: Die erste in eklatanter gesellschaftlicher Normalität geführte homosexuelle Liebesbeziehung, Mobbing, Rassismus, bayerische Heuchelei und deutsche Schande wurden allsonntagabendlich neben brandaktuellen tagespolitischen Ereignissen verhandelt. Diese Leistung darf man bei aller Kritik anerkennen, während die Hypothese, die linksliberale Haltung der Sendung habe dazu beigetragen, den verkrusteten alt-bundesrepublikanischen Muff aufzubrechen, sicherlich nicht abwegig ist.

Doch mit der Zeit ist die «Lindenstraße» auch in diesem Hinblick eine Karikatur ihrer selbst geworden, wie in einem Handlungsstrang in einer der jüngsten Folgen: Dort verfasst eine der Figuren in einer Schülerzeitung einen Artikel über Erdogan, was in seiner Mutter das Engagement weckt, ihren Sohn zu einer Karriere als Journalist zu motivieren. Man begnügt sich mit dem Buzzword, um den Haken auf der Liste der «Lindenstraßen»-Rezeptur setzen zu können.

In ihren Anfangsjahren war die «Lindenstraße» Abbild des Alltags und gesellschaftlicher Sehnsuchtsort gleichermaßen. Doch die Gesellschaft von damals gibt es nicht mehr, die Heimeligkeit der alten Bundesrepublik ist Makulatur und Vergangenheit. Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen, heißt es lapidar, aber zutreffend: Und diese allsonntagabendliche «Lindenstraße» ging nicht mehr mit der Zeit, sie war gefangen im Altmodischen und Piefigen, weil das ihre Essenz war. Ein leeres Ritual vor dem «Tatort», ein irgendwie liebgewonnener Anachronismus, ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Mutter Beimer sei der televisionäre Ruhestand gegönnt.
29.11.2018 11:26 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/105542