«Anne Will»: Denkt zurück an das Gasometer!
Die übersteigerte Kritik an Anne Wills Talk-Show übersieht einen wichtigen Aspekt: Polit-Talk geht viel, viel schlimmer – etwa wie bei ihrem Sendeplatzvorgänger Günther Jauch.
An deutschen Polit-Talks gibt es viel zu kritisieren. Medienbeobachter tun das nur zu gern – und haben sich dabei, nicht zuletzt wegen ihres exponierten Sendeplatzes, die Sendung «Anne Will» als Aufhänger ausgesucht, um all die Elemente herauszustellen, die an dieser journalistischen Spielform defizitär sein sollen: Im besten Fall sei die Talk-Show unnütz und einfallslos, eine laue Pflichtveranstaltung, ein schmuckloses Abhaken von Bildungs- und Informationsauftrag. Besonders kritische Beobachter unterstellen ihr gar eine unbotmäßige Skandalisierung und reißerische Themengestaltung, die die Stimmung aufhetze und Sachdebatten unangemessen und schädlich emotionalisiere.
Ein Vergleich mit dem Vorgängerformat auf diesem Sendeplatz dürfte unter der Würde von Anne Will als Journalistin sein, und sicherlich zeichnet sich ihre Sendung trotz aller konzeptimmanenten Schwierigkeiten und Fallstricke nicht nur dadurch aus, dass sie die desaströsen Fehler unterlässt, die Günther Jauch vier Jahre lang am Sonntagabend freudestrahlend machte. Dennoch lohnt es, sich einmal zu vergegenwärtigen, wie sich die ARD noch vor wenigen Jahren seriöse politische Meinungsbildung vorgestellt hat. Denn wer Anne Wills Sendung Skandalisierung und unanständige Emotionalisierung vorwirft, hat vergessen, wie es im Gasometer zuging:
Schon in der ersten Ausgabe am 11. September 2011 wurde ersichtlich, wohin die Reise gehen würde. Zum zehnten Jahrestag der islamistischen Terroranschläge auf New York, Washington und Pennsylvania lud sich Jauch Ex-Fußballtrainer Jürgen Klinsmann als US-Experten ein, der die Position der amerikanischen Regierungen zur internationalen Sicherheitspolitik erörtern sollte. Klinsmanns Kernkompetenz auf diesem Gebiet: Er lebt seit einiger Zeit in Kalifornien. Man stelle sich vor, es wäre andersherum, und Heidi Klum säße bei Rachel Maddow und würde dort erklären, warum Angela Merkel nicht mehr als CDU-Vorsitzende kandidiert, oder Kirsten Dunst hätte im vergangenen Winter bei «Meet the Press» das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen auseinandersetzen müssen. Zum Schießen.
In ähnlichem Stil ging es weiter: Niki Lauda galt bei «Günther Jauch», warum auch immer, als Experte für Rohstoffpreise, Ranga Yogeshwar sollte trotz in eklatanter Weise fehlender Expertise einer Diskussionsrunde über den NSA-Skandal intellektuell-fachkundiges Gewicht verleihen, wenn nicht gar unseriösen Persönlichkeiten wie Jürgen Todenhöfer durch ihre unkommentierte Präsenz neben Leuten von Gewicht ein unpassendes Forum geboten wurde. Ganz zu schweigen von der unkommentierten Hofierung rechtsradikaler Brandstifter wie Björn Höcke.
Doch das bestimmende Element von «Günther Jauch» – und was diese Sendung so unsäglich machte – war nicht einmal die ständig (und willentlich!) verunglückte Gästeauswahl, sondern der vollkommene Unwille zu einer seriösen Debatte. Jegliche Ernsthaftigkeit musste durch boulevardeske Taschenspielertricks und eine unnötig konfrontative Dramaturgie konsequent vermieden werden. Ein Beispiel von vielen: Als auf einem der Höhepunkte der Euro-Schuldenkrise der damalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis zugeschaltet war, ging es nicht darum, seine (per se seriösen) Ansätze zur Wiederherstellung der hellenischen Schuldentragfähigkeit zu diskutieren, sondern darum, die Bagatelle einer lange zurückliegenden unflätigen Geste Varoufakis‘ zu verhandeln, die wiederum dem neben Jauch sitzenden Scharfmacher Markus Söder – einem Mann, der für vieles bekannt ist, aber nicht für ökonomischen Sachverstand – als Steilvorlage für seine heimattümelnde Abwertung Südeuropas diente.
Nun mag nicht jede Ausgabe von «Anne Will» eine Glanzstunde journalistischer Finesse sein. Trotzdem ist unverkennbar, dass sich Wills Sendung, anders als Jauchs, von integeren journalistischen Grundsätzen leiten lässt, und nicht davon, sich einem gefühlten Stimmungsbild anzubiedern und Ressentiments zu schüren, weil das gut ankommt. Zuspitzungen, die ins Unanständige gehen, und boulevardeske Entgleisungen, die eine Sachdiskussion zur bornierten Farce degenerieren, gibt es in ihrer Sendung nicht. Verglichen mit ihrem Sendeplatzvorgänger ist damit schon viel gewonnen, während Wills sachkundige, angenehm fokussierte Gesprächsführung auch ihren Kollegen auf anderen Sendeplätzen zum Beispiel gereichen darf.