'Easy Watching': Wie «Aufräumen mit Marie Kondo» zum Netflix-Hit wurde

Eine neue Aufräum-Doku-Serie schaffte es zuletzt als einzig nicht-fiktionale Sendung unter die meistabgerufenen Streaming-Formate in Deutschland. Was steckt dahinter?

Immer relevanter wird Streaming heutzutage, insofern geben die seit Kurzem erhobenen Video-On-Demand-Charts häufig interessante Einblicke, was zurzeit bei den mittlerweile Millionen von Nutzern angesagt ist. Das sind bis auf wenige Ausnahmen alles Serien-Formate. Eine dieser Ausnahmen heißt seit Neuestem «Aufräumen mit Marie Kondo». Die Sendung mit dem unscheinbaren Titel erschien am 1. Januar 2019 weltweit im Netflix-Angebot. Weder wurde der Starttermin im Vorhinein heiß erwartet, noch wussten Zuschauer zunächst, was sie vom Netflix-Titel zu erwarten haben. Trotzdem wurde die Produktion allein zwischen dem 4. und 10. Januar 1,72 Millionen Mal abgerufen (siehe Info-Box).

Marie Kondo, Retterin der Kram-Chaoten


Dabei verrät der Titel bereits ungemein viel über «Aufräumen mit Marie Kondo». Ja, im Format wird im Wesentlichen aufgeräumt. In Wohnungen, Häusern, Garagen und überall dort, wo sich eben ein Haufen Kram ansammeln und zu Unordnung führen kann. Jede Episode befasst sich die Sendung mit einer anderen Behausung und dem ihr innewohnenden Chaos. Mal mit der Situation einer Mutter von vier Kindern, die ihre Kinder daheim unterrichtet, mal mit einer Familie, in deren Haus die Tupperware-Sammlung der Mutter den halben Wohnraum einnimmt und mal mit einem Paar, das zu sehr mit streiten beschäftigt ist, um ans Aufräumen denken zu können.

Die Retterin all dieser Leute heißt Marie Kondo. Zugegeben, die mangelnde Bekanntheit ihres Namens in Deutschland rechtfertigt nicht unbedingt ihre Erwähnung im Sendungstitel. Doch bei Kondo handelt es sich um eine japanische Bestsellerautorin, deren Bücher in 27 Sprachen übersetzt und weltweit sieben Millionen Mal verkauft wurden. Ihre Bücher heißen „Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen ihr Leben verändert“ oder „Wie Wohnung und Seele aufgeräumt bleiben“, was schon andeutet das ihre Aufräum-Philosophie nicht nur pragmatische, sondern auch spirituelle Ziele verfolgt.

Das nahm Netflix zum Anlass, um zunächst in acht Folgen die Heime und Seelen von verschiedenen Familien entrümpeln zu lassen. Bei deutschen Zuschauern weckt der Gedanke an ein Aufräum-Format wohl ungute Gedanken an Docutainment-Formate, die sich lange Zeit auf RTL-Sendern tummelten. Doch bei «Aufräumen mit Marie Kondo» kriegen es Netflix-Abonnenten nicht etwa mit Sendungen wie «Einsatz in 4 Wänden» oder Ekel-Formaten wie «Raus aus dem Messie-Chaos» zu tun, sondern mit beruhigendem Entschleunigungs-TV par excellence, das von der Wirkung viel besser zu aktuellen Phänomenen wie «Bares für Rares» passt – insbesondere weil Deutschland als Keller-, Dachboden- und Flohmarkt-Nation ohnehin viel Bedarf zum Ausmisten hat.

‘Home Improvement‘ mit persönlicher Note


Nein, «Aufräumen mit Marie Kondo» ist nicht so lebensverändernd wie die Titel der Kondo-Bücher nahelegen. Zunächst einmal werden Zuschauer mit der von Kondo geprägten KonMari-Methode vertraut gemacht, die im Grunde vorsieht, allen lose herumfliegenden Kram auf einen Haufen zu schmeißen, jedes Stück in die Hand zu nehmen und nur das zu behalten, was "Freude entfacht". Darauf hätte man zugegebenermaßen auch selbst kommen können. Doch die Sendung wäre nicht innerhalb weniger Tage zum Erfolg auf Social Media geworden, hätte sie nicht noch mehr zu bieten.

Zwar erinnern die Vorher-Nachher-Vergleiche am Ende jeder Episode stark an bereits erwähnte Home-Improvement-Formate, «Aufräumen mit Marie Kondo» hat aber eine sehr viel persönlichere Facette. Auf dem Weg zum aufgeräumten Heim befasst sich die Sendung, die stets von angenehmer Klimpermusik begleitet wird, immer auch mit den Geschichten und Situationen der Familien. Sich von den überflüssigen Dingen zu trennen erfordert dabei immer einen, meist emotionalen, Wandlungsprozess, wobei die Sendung auf mögliche psychologische Gründe für die Hortung von Gegenständen eingeht. Dafür, dass die Sendung vom Aufräumen handelt, was wohl nur die Wenigsten gerne machen und daher auch – sollte man meinen - wenige gerne mitansehen, gerät «Aufräumen mit Marie Kondo» einnehmender als man zunächst erwarten würde. Auf der anderen Seite hat es wohl auch etwas Befriedigendes mitanzusehen, dass andere Menschen noch deutlich unordentlicher leben als man selbst.

Womit sich Marie Kondo selbst womöglich keinen Gefallen tut, ist, die täuschend simplen Aufräum-Parolen ihrer Bücher tatsächlich umzusetzen. Immer wieder kommt Kondo auf ihre Methode zurück, wonach ein Gegenstand, den man behalten sollte, Freude entfachen soll. Das führt anfangs aufgrund der prätentiös wirkenden Spiritualitäts-Devise mehr als einmal zu einem Augenrollen auf Seiten der Zuschauer und zu Unverständnis auf Seiten der Protagonisten, die oft wenig damit anfangen können. Ohnehin kann man der Sendung nicht wirklich vorwerfen, eine Dauerwerbesendung für die Ordnungsberaterin zu sein. Dafür liegt der Fokus zu sehr auf den wechselnden Familien. Kondo selbst schneit nur ab und zu mit ihrer Übersetzerin herein und ist in einzelnen Segmenten zu sehen, die praktische Tipps für Zuschauer geben.

‘Easy Watching‘ als neuer Netflix-Trend


Eine weitere angenehme Facette des Formats kennzeichnet die Haltung, die Kondo-Klienten nie für ihre Fixierungen und Macken zu verurteilen. Beide Parteien treffen sich immer irgendwo in der Mitte. Häufig sind die Gründe, warum die Personen an den Gegenständen festhalten kompliziert, sentimental oder tatsächlich hanebüchen. Doch das ist genau die Botschaft, die das Format vermitteln soll. Zuschauer wollen sich wohl nicht in den Personen wiedererkennen, die es nicht übers Herz bringen, ihre Umstandsmode wegzuschmeißen oder ihre Sammelkarten und Schulhefte auszusortieren. Aber sie werden es.

«Aufräumen mit Marie Kondo» ist Teil eines neuen Netflix-Trends, den man wohl am besten als „Easy Watching“ beschreibt, analog zum Easy Listening in der Musik. Der Streaming-Dienst installierte in der jüngeren Vergangenheit eine Vielzahl an Formaten zum Nebenbei-laufen-lassen, die Themen behandeln, von denen viele Abonnenten nicht einmal wussten, dass sie sich dafür interessieren. Dazu zählen «Die außergewöhnlichsten Häuser der Welt», «Geniale Innenarchitektur», «Spielzeug», «Bildschöne Welt», «Abstrakt», «Queer Eye», «Minimalism» und eine Vielzahl an Essens-Dokus. Doch das Aufräum-Docutainment überrascht auch durch eine außergewöhnlich persönliche Herangehensweise, die einen Mehrwert bringt und nicht selten bewegt.
20.01.2019 11:23 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/106629