Der Täter ist die soziale Ungleichheit: Und obwohl der neue «Tatort» seine Episodenhauptrolle sehr feinsinnig zeichnet, neigt er im Gesamtbild doch zur banalen Überstilisierung.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Axel Milberg als Klaus Borowski
Almila Bagriacik als Mila Sahin
Katrin Wichmann als Peggy Stresemann
Aljoscha Stadelmann als Micha Stresemann
Sarah Hostettler als Victoria Dell
Stefanie Reinsperger als Ilona Schmidt
Thomas Kügel als Roland Schladitz
Hinter der Kamera:
Produktion: Nordfilm Kiel GmbH
Drehbuch: Sascha Arango
Regie: Andreas Kleinert
Kamera: Johann Feindt
Produzentin: Kerstin RamckeAuf der einen Straßenseite wohnen Peggy Stresemann (Katrin Wichmann) und ihr Mann Micha (Aljoscha Stadelmann). Er war früher für Gas, Wasser und Scheiße zuständig, heute arbeitet er als Elektriker. Sie sitzt im Mega-Markt an der Kasse. Das Paar war mal glücklich. Aber Peggy – die Haare kaputtgefärbt, die Ohrringe zu groß, das Make-up geschmacklos, die vergoldeten Schuhe billig – kann nicht akzeptieren, dass ihr Mann sich mit dem Kleinbürgerleben an der ständigen Schwelle zur völligen Unterschicht zufrieden gibt: „Warum willst ‘n du nich‘ auch mal was? Warum haben wir nich‘ mal Glück? Das hier nennst du Glück?!“
Auf der anderen Straßenseite wohnen Victoria und Thomas Dell (Sarah Hostettler und Volkram Zschiesche). Sie arbeiten als Dolmetscher. Weil Angehörige dieses Berufs nach der Logik deutscher Fernsehfilme zu den Topverdienern gehören, leben sie in einem geschmackvoll und teuer eingerichteten, deutlich größeren Haus, das man fast Anwesen nennen könnte. Und als Peggy eines Abends neidvoll auf die andere Seite der Straße hinüberblickt, während im Fernsehen gerade die Lottozahlen durchgegeben werden, rasten die betuchten Nachbarn komplett aus. Jackpot! Vierzehn Millionen für die da drüben!
Während Franz Biberkopf im Berlin der Zwischenkriegszeit mehr vom Leben will als das Butterbrot, will Peggy mehr vom Leben als das kleine Glück in der unteren Mittelschicht. Also marschiert sie in das Haus gegenüber, als die Nachbarn nicht da sind. Weil sie wohl hin und wieder mal einen Krimi guckt, zieht sie dazu Handschuhe an, um keine Spuren zu hinterlassen, aber weil sie auch ziemlich doof ist, säuft sie dort Champagnerreste aus Gläsern und frisst Pralinenschachteln leer. Im Nachtkästchen findet sie eine Pistole, aber keinen Lotterieschein.
Als der Nachbar unverhofft nach Hause kommt und die Einbrecherin entdeckt, dreht er nach einem kurzen Schock auf, betitelt sie als Putzfrau, schätzt sie gering, macht sie verächtlich. Er trifft ihren wunden Punkt – und sie schießt ihm sieben Kugeln in den Leib.
Ins Visier von Borowski (Axel Milberg) und Mila Sahin (Almila Bagriacik) gerät zunächst die Ehefrau des Opfers. Wegen ihrer äußeren Gefasstheit und ihrer persönlichen Zurückgezogenheit wird sie herzkalt, eitel, antisozial und dysfunktional genannt. Im Supermarkt, wo ihr tags zuvor die baldige Mörderin Peggy ein paar Flaschen Champagner über das Band zieht, sammelt sie keine Treuepunkte, hält kein Pläuschchen mit der Kassiererin, und als Kommissarin Mila sie auf der Wache verhören will, besteht sie auf einer Anwältin und verweigert jede Aussage. Zum Kotzen, diese anmaßenden reichen Leute, die ihre Rechte kennen.
Getreu einer kriminologischen Binsenweisheit ist nicht Armut, sondern (empfundene) Ungleichheit ein herausragender Treiber für die Verbrechensquote. Mit seiner im Grad der Arm-Reich-Kluft betont scharfen, aber nicht unrealistischen Gegenüberstellung will „Borowski und das Glück der Anderen“ diesem Phänomen in Form von Peggy Stresemann ein Gesicht geben. Doch dieses Thema zwingt zur Haltung – und der neue «Tatort» findet ums Verrecken zu keiner kohärenten.
Am Ende liegen seine Sympathien bei Peggy Stresemann, die weder durch Ausweglosigkeit noch durch konkrete Abstiegsängste oder einen unmittelbaren Zorn zur Mörderin wurde, sondern durch ihre Empfindung einer diffusen gesellschaftlichen Geringschätzung. „Ich war noch nie wichtig“, ersäuft sie sich an anderer Stelle in Selbstmitleid, bevor sie der Frau, deren Mann sie totgeschossen hat, vorhält, an der Supermarktkasse sei sie für Leute wie sie unsichtbar, „um halb sechs räumen wir für Sie die Regale ein, wir sagen brav Bitte und Danke“. Der echte Täter, so wollen Peggy und der Film suggerieren, ist die soziale Ungerechtigkeit.
Gelungen ist, dass diese Ungerechtigkeit oder Ungleichheit nicht allein auf ihre wirtschaftliche Ausgestaltung zurückgeführt wird, denn in der Kontrastierung aus Peggy Stresemann und Victoria Dell werden offensichtliche Unterschiede deutlich, die mit den finanziellen Möglichkeiten nicht unmittelbar zu tun haben: im Kleidungs- und Umgangsstil, im Duktus, im Geschmack, in den intellektuellen Prioritäten und der emotionalen Gefasstheit.
Das Attribut „herzkalt“ will Borowski als Beschreibung von Victoria Dell nicht durchgehen lassen, wohl aber antisozial und eitel. An dieser expliziten Charakterisierung stößt jedoch sauer auf, dass die Hinterbliebene des Opfers abgekanzelt werden muss, nur weil die Mörderin ihres Mannes einer niedrigeren sozialen Stellung entstammt, als sei dies eine Art Ausgleich für die deutlich begrenzteren wirtschaftlichen und intellektuellen Möglichkeiten ihrer Figur.
Ähnliche Fehler und Vereinfachungen finden sich auch in den Werken der zeitgenössischen (und populären) französischen Autoren Didier Eribon und Édouard Louis, die vor allem von ausländischen Rezensenten als Fundgrube für diffuse Erklärungsansätze herhalten müssen, um das Erstarken rechts- wie linksradikaler Kräfte in Frankreich zu verstehen. Besonders Louis geht bei seinen Beschreibungen der Abgehängten, Vergessenen und Zurückgelassenen der Gesellschaft oft sehr detailliert – und literarisch höchst wertvoll – auf die Äußerlichkeiten der von ihm beschriebenen Protagonisten ein, in seinen belletristischen wie in seinen journalistischen Arbeiten. Auch „Borowski und das Glück der Anderen“ gelingt auf Seiten der Figuren aus der Unterschicht eine solch haargenaue Zeichnung. Doch die kann mitunter nur deshalb an Stärke gewinnen, weil die „andere Seite“ der Reichen und Wohlsprechenden unangenehm kalt, zynisch, distanziert, gar klinisch steril geführt wird.
Bei dieser banalisierenden Überstilisierung passt ins Bild, dass dieser Film auch sehr viel Zeit mit dem Irrelevanten verbringt: Clownereien auf der Dienststelle, einer dramaturgisch bedeutungslosen Wohnungssuche von Kommissarin Sahin, klamaukhaften Schießereien und einer dem Zuschauer als solche bekannten falschen Fährte. Dass am Schluss eben nicht die soziale Ungleichheit sondern Peggy Stresemann geschossen hat, wäre ferner ein passenderer Schlusspunkt gewesen als die Flaschen sammelnde Oma, die doch einmal Glück hat.
Das Erste zeigt «Tatort – Borowski und das Glück der Anderen» am Sonntag, den 3. März um 20.15 Uhr.