Kristin Derfler: „Die Streaming-Dienste sind eine heilsame Konkurrenz“

Über Monate hinweg hat Kristin Derfler («Brüder») für ihren neuen Sat.1-Movie «Dein Leben gehört mir» recherchiert. Eine Arbeit, die aus ihrer Sicht im Ausland mehr geschätzt wird als in Deutschland. Der Stalking-Thriller ist zudem der erste, der komplett nach „K‘18“-Richtlinien umgesetzt wurde.

«Dein Leben gehört mir» erzählt von einer wahrlich wahnsinnigen Liebe, die in üblem Stalking endet. Ein wichtiges Thema…
Allerdings. Das Thema Stalking hat mich zwar schon länger beschäftigt, genauso wir meinen Produzenten Christian Balz, in dem ich ein kongeniales Gegenüber für dieses wichtige Projekt gefunden habe. Das ganze Ausmaß ist mir aber erst während der Recherchen klargeworden. Stalking kann wirklich jeden von uns treffen, das geht durch alle Gesellschaftsschichten. Wir denken ja zunächst an liebestolle, aber immer noch harmlose Schwärmereien für eine bestimmte Person oder Star. Aber im „normalen Alltag“ findet stalking eben auch statt und zwar in sehr unterschiedlichen Ausprägungen und irgendwann verschwimmen sogar die Grenzen zwischen Stalking und Mobbing. Dann ist es oft nur noch ein kleiner Schritt, bis der Stalker zum Gewalttäter wird oder gar sein Opfer in den Suizid treibt.

Männer stalken aber deutlich häufiger als Frauen…
Das ist richtig. In etwa 85 Prozent der Fälle sind Frauen betroffen. Allerdings bin ich bei meinen Recherchen auch auf einen bemerkenswerten Fall aus Leipzig gestoßen, in dem eine Frau jahrelang einen Pfarrer gestalkt hat. Aber in aller Regel sind es stalkende Männer, die ihr eigenes Selbstbild wie eine Monstranz vor sich hertragen, die um ständige Anerkennung und ständige Aufmerksamkeit buhlen, denen es auch um Macht und Ohnmacht geht, um Kontrolle. Hier gibt es verschiedene Kategorien von Stalkern – bei Typ 3 und 4 ist das Treiben auf ein rein negatives Ziel ausgerichtet, nämlich, das Opfer psychisch und physisch zu zerstören. Hier wird sehr perfide vorgegangen, die Frauen werden ihrer eigenen Wahrnehmung beraubt, sie trauen sich irgendwann selbst nicht mehr und auch Freunde glauben ihnen ab einer bestimmten Eskalationsstufe nicht mehr. Ein Teufelskreis, weil sich das Opfer dann immer weiter isoliert und den Mut verliert, an die Öffentlichkeit zu gehen, Polizei, Freunde und Arbeitgeber miteinzubeziehen, das ist aber oft die einzige Chance, um den Stalker zu stoppen.

Wie haben Sie diese Thematik umgesetzt?
Ich wollte diesmal kein klassisches Drama erzählen, sondern einen Thriller mit hohem Drama- Anteil. Wir zeigen sehr genau, wie perfide Stalker Hannes agiert und wie er seine Techniken immer weiter verfeinert, unsere Protagonistin Malu zunehmend verunsichert und ihr stets zwei, drei Schritte voraus ist. Als Autorin, die „characterdriven“ erzählt, brauche ich all das recherchierte Wissen, um die Handlung konsequent aus den Charakteren zu entwickeln. Jeder Twist in der Geschichte ergibt sich aus dem jeweiligen Charakter. Hannes ist dem Typ 4 zugeordnet, hochintelligent, aber eben auch unberechenbar mit psychopathischen Zügen. Ohne spoilern zu wollen - aber wie Hannes in den letzten 15 Minuten Malu in die Falle lockt, die sie wiederum als Charakter selbst sucht, entspringt Hannes kranker Psyche und Malus Entschlossenheit, die Sache selbst zu beenden, sich zu befreien. Beide Protagonisten unterschätzen jeweils den anderen, das macht den Reiz beim characterdriven erzählten Schreiben aus. Bedeutet, als Autorin muss ich auch in die kranke Psyche eines Hannes Jäger einsteigen, um dann solche Plot Ideen erfinden zu können.

Sie sind Gründungsmitglied der Autoreninitiative „Kontrakt´18“. Ist dieses Projekt auch schon nach den Vorgaben von K18 entstanden?
Das darf ich mit Fug und Recht behaupten – obwohl der Vertrag bereits im Mai 2017 geschlossen wurde, also ein Jahr bevor K´18 öffentlich wurde. Als der große mediale Aufschlag von K´18 kam, waren wir schon mitten in der Buchentwicklung. Allerdings war die Zusammenarbeit mit der Sat.1-Redaktion von Anfang an auf Augenhöhe. Wie haben uns alle gegenseitig im besten Sinne herausgefordert, wir haben uns rein gar nichts geschenkt. Auch mit unserem wunderbaren Regisseur Jochen Alexander Freydank war die Zusammenarbeit stets loyal und vertrauensvoll. Mal habe ich nachgegeben und eine Szene umgeschrieben. Mal haben die anderen sich von meiner Sichtweise überzeugen lassen. Und zum ersten Mal in der Sat.1-Geschichte durfte eine Autorin „offiziell“ bei der Rohschnittabnahme mit dabei sein. Ich war total begeistert von dem Ergebnis, hatte ausnahmsweise gar nix zu meckern! Im Anschluss haben wir zusammengesessen und uns nochmal gefragt, mit welchen Bildern wir in unseren Film einsteigen wollen und ob das offene Ende zu krass sein könnte. Wir haben dann gemeinsam die beste Lösung gefunden. Ich finde es wichtig, dass der Autor auch an solchen Entscheidungsprozessen mit beteiligt bleibt, da er beziehungsweise sie ja normalerweise am längsten mit der Stoffentwicklung zubringt.

Wurde früher gerne das eine oder andere unnötig angepasst und manch halbgarer Kompromiss getroffen, wollen sich die Sender jetzt mit den großen internationalen Projekten messen.
Autorin Kristin Derfler über die "heilsame Streaming-Konkurrenz"
Sie haben jetzt einen Sat.1-Film geschrieben. Wie sehr war das immer im Hinterkopf, dass es ein Film für einen Privatsender und für eine wohl junge Zielgruppe wird?

Natürlich denkt man daran. Aber in erster Linie geht es ja darum, eine emotional fesselnde, höchst spannungsreiche, von Charakteren angetriebene Geschichte zu erzählen, die hoffentlich auch die junge Zielgruppe in ihren Bann zieht. Meine Kinder sind 15 und 20, die werden auf jeden Fall am Montag mit mir vor dem Fernseher sitzen! Zudem hatte ich wie gesagt eine Redaktion, die mich stets ermutigt hat, dem Affen Zucker zu geben, sodass ich alle Kopf Handbremsen lösen konnte, die sich mitunter einschleichen. Denn ein Autor hinterfragt ja ständig die eigenen Entscheidungen zu Charakter und Plot, ist sich selbst der größte Kritiker im Schreibprozess. Außerdem hat sich in den vergangenen zwei Jahren eine Menge auf dem freien Markt getan. Die Streaming-Dienste sind eine sehr heilsame Konkurrenz. Wurde früher gerne das eine oder andere unnötig angepasst und manch halbgarer Kompromiss getroffen, wollen sich die Sender jetzt mit den großen internationalen Projekten messen. Aus meiner Sicht eine sehr positive Entwicklung, die eben auch rein „characterdriven“ erzählte Geschichten ermöglicht.

Wie hat Ihnen das konkret geholfen?

Jedes neue Projekt wirft neue Fragen auf und bedeutet einfach nur Arbeit im Steinbruch des Hirnschmalzes... Wenn wir als Autoren den Charakter mal „in die Ecke spielen“, dann müssen wir vielleicht auch mal zwei oder drei Tage abwarten und Ideen sammeln, bis wir ihn da wieder rauskriegen – um ihn mit Tempo in die nächste Ecke flitzen zu lassen. Früher hatte ich Angst davor, Charaktere „in die Ecke zu schreiben“, die Hürde, sie da wieder heraus bringen zu müssen und scheitern zu können, erschien mir einfach zu hoch. Aber mittlerweile mache ich das bewusst und mit Lust.

Ich war manchmal schon frustriert, dass „Recherche“ bei der Drehbuchentwicklung in Deutschland nach wie vor so wenig goutiert, geschweige denn bezahlt wird.
Autorin Kristin Derfler
In unserer Kritik hieß es: Beim Zuschauen wird es teils unangenehm, weil der Film so realistisch ist. Ihre intensive Recherche hat sich also gelohnt?
Es freut mich, dass Sie das so sehen. Ich war manchmal schon frustriert, dass „Recherche“ bei der Drehbuchentwicklung in Deutschland nach wie vor so wenig goutiert, geschweige denn bezahlt wird. Ich hatte ja zuvor den Mehrteiler «Brüder» geschrieben und im Vorfeld ein Jahr intensiv dafür recherchiert. Daraus ist mit Hilfe der Islamwissenschaftlerin Dr. Nina Wiedl ein umfangreiches Recherche Dossier entstanden, das später auch dem gesamten Filmteam zur Vorbereitung zur Verfügung stand. Selbst die Kostümbildnerin konnte aufgrund der darin enthaltenen Beschreibungen, Fotos und Videolinks sich ein Bild von deutschen Salafisten und IS-Kämpfern machen. Aber leider wird diese ganze Vorarbeit immer noch nicht genügend anerkannt, anders als in den USA, Großbritannien oder auch Skandinavien, wo ganze Rechercheteams den Autoren zuarbeiten und natürlich dafür bezahlt werden. Hier ist es immer noch ein Kampf, dass diese wichtige Arbeit für uns Drehbuchautoren mitfinanziert wird.

Welche Pläne haben Sie für die nächste Zeit?
Es stehen zwei große Serienprojekte an. Eines für Warner Brothers in Köln und eins für die Constantin, letzteres steckt noch in den Kinderschuhen, da will ich noch nicht zuviel verraten. Für Warner mache ich eine horizontal erzählte Crime-Drama-Serie, die – wir mir erst mitten in der Entwicklung auffiel – eigentlich auch eine Mutter-Tochter-Geschichte ist. Es geht um einen privaten Impact, der so heftig ist, dass er noch Jahre später Auswirkungen für alle Beteiligten hat. Es ist natürlich auch eine Crime-Story, die aber so konsequent character-driven erzählt wird, dass sich das persönliche Erleben direkt auf den Crime-Strang bezieht. Als Setting habe ich eine mitteldeutsche Stadt gewählt, die aus lauter Flickenteppichen besteht, wie die Menschen, die in ihr leben und immer wieder neu ihre eigenen Grenzen ausloten müssen. Das „Normale“, aber auch das Abgründige in der deutschen Provinz reizt mich zurzeit mehr als zum Beispiel Berlin, in der gefühlt jede zweite Serie angesiedelt ist. Es gibt soviel zu entdecken - und das zu tun wird mir stets Antrieb bei der Entwicklung eigener Ideen und Visionen sein.

Danke für das Gespräch.
01.04.2019 04:00 Uhr  •  Manuel Weis Kurz-URL: qmde.de/108240