In Stuttgart beißt einer nach dem anderen von Annes Pflegepatienten ins Gras. Das ruft Lannert und Bootz auf den Plan – und einen der besten «Tatorte» in letzter Zeit.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Richy Müller als Thorsten Lannert
Felix Klare als Sebastian Bootz
Katharina Marie Schubert als Anne Werner
Carolina Vera als Emilia Alvarez
Jürgen Hartmann als Daniel Voigt
Julischka Eichel als Svenja Fuchs
Felix Eitner als Joachim Fuchs
Hinter der Kamera:
Produktion: Südwestrundfunk
Drehbuch: Wolfgang Stauch
Regie: Jens Wischnewski
Kamera: Stefan SommerHessen hat sich
letzte Woche – trotz eines interessanten, offen geführten Mörders – einem eingehenden Psychogramm verweigert. Der am Sonntag ausgestrahlte «Tatort» nähert sich seiner Kernfigur hingegen mit deutlich größerem Interesse, und ist dazu auch bereit, einige der allzu engen Konventionen des Sendeplatzes etwas zu dehnen, wenn auch nicht zu sprengen.
Bei der ambulanten Altenpflegerin Anne (Katharina Marie Schubert) häufen sich in letzter Zeit die Todesfälle: Ein herrschsüchtiger, vulgärer ehemaliger Hotelier ist kürzlich an Herzversagen verstorben, ein gebrechlicher ehemaliger Bauarbeiter mit tödlichem Ausgang die Treppe hinuntergefallen. Bei beiden hatte es, wie Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) rasch ermittelt haben, in den Monaten zuvor sonderbare Kontobewegungen gegeben, die sich weitgehend mit den immensen finanziellen Löchern decken, die Anne bei ihren desolaten Privatfinanzen kürzlich gestopft hat: Ihr Teenager-Sohn, auf den sie all die Wünsche ihres eigenen jungen Lebens projiziert, und der ob des mickrigen Einkommens seiner Mutter nicht mit den Kids aus der Stuttgarter Hanglage mithalten kann, raubt ihr nicht nur den letzten Nerv, sondern räumt auch regelmäßig ihre Konten leer.
Dass die Stuttgarter Kripo ihr nur schwerlich eine Straftat wird nachweisen können, wird von den Polizisten zwar pflichtbewusst alle paar Minuten vorgetragen, ist aber inhaltlich weitgehend irrelevant. Die Ermittlungsarbeiten sind nur ein behelfsmäßiges Gerüst; der erzählerische Kern ist Pflegerin Anne.
Leicht hätte aus diesem Stoff eine pathetische oder süffisante Anklage der eklatanten Missstände in der deutschen Pflege werden können, die so allseits bekannt wie jedes Mal aufs Neue erschauernd sind. Doch „Anne und der Tod“ geht einen ambitionierteren, tiefsinnigeren, psychologischeren, ja: intelligenteren Weg. Das Untersuchungsfeld beschränkt sich nicht auf die äußeren Zustände und Umstände, die von Politik, Gesellschaft, Administration und dem Gesundheitswesen gesetzt werden und zu abstrakt sind, um sie klug und effektiv in einem Krimi zu verwursten. Stattdessen geht es um die Personen, die in diesem System leben müssen: Pflegerin Anne und ihre Patienten.
Nur langsam enthüllt dieser Film seine Hauptfigur, ihre Verzweiflung, ihre Perspektivlosigkeit, ihre Ausweglosigkeit, ohne sie jemals auf diese Elemente zu reduzieren. Anne ist weder Monster noch gute Seele, sondern in ihren unterschiedlichen Rollen, Funktionen und Persönlichkeitseigenschaften zutiefst menschlich, mit ihren Fehlern und ihren Vorzügen. Doch diese Tristesse ist keine in tristem Grau gehaltene Lebensunlust, nicht einmal ein Ausgeschlossen-Sein aus der finanziell potenteren und gebildeteren Oberschicht. Schuld an Annes Misere ist nicht unbedingt ihr Platz im Leben, sondern ihre Unfähigkeit und Unmöglichkeit, die an ihr vollzogenen Grenzüberschreitungen der Pflegepatienten, der Familie, der Vorgesetzten – und schließlich auch der Polizisten – abzuwehren.
Der ursprüngliche Titel dieses Films – „Schande“ – hätte wohl zu früh offenbart, auf welches Hauptmotiv dieser Film hinauswill: Diese Schande hat mit den sexuellen Übergriffen zu tun, die alte, gebrechliche, halb-demente Männer an Anne vollziehen, und denen sie nicht zuletzt aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit nahezu machtlos gegenübersteht. Und diese Schande, die Ächtung, die soziale Grenzüberschreitung, ist schlimmer als alles Andere, als jedes Verhör, jede Strafe, jeder Preis.
Neben Katharina Marie Schuberts glänzendem Spiel ist es auch der schonungslosen Inszenierung von Regisseur Jens Wischnewski geschuldet, dass die ausgeklügelten psychologischen und sozialen Vorstellungen des Drehbuchs von Wolfgang Stauch in der Inszenierung deutlich werden, ohne ins deklamierte Überdeutliche abzugleiten. Wischnewski sieht auch bei den abstoßenderen Vorgängen niemals weg, und schafft es zugleich, sie dabei nicht unappetitlich zum Skandal hochzustilisieren. Die Stimmung ist ihm wichtiger als der schnelle Schock-Effekt, wie auch das Drehbuch einnehmende Motive den schneidigen Phrasen vorzieht, während die Dialoge dabei nichts an Prägnanz einbüßen.
Das Erste zeigt «Tatort – Anne und der Tod» am Sonntag, den 19. Mai um 20.15 Uhr.