Das gerade beendete «Fleabag» geht als Meilenstein in die Seriengeschichte ein. In nur zwölf Folgen erzählt die schwarzhumorige Amazon-Serie ungemein kreativ von Liebe wie kein anderes Format.
Kaum zu glauben, dass eine Produktion, die als Meilenstein serieller Unterhaltung angesehen werden kann, gerade einmal zwei Staffeln lief. Doch zumindest bei britischen Produktionen, die zudem stets wenige Episoden pro Staffeln produzieren, darf man heutzutage noch immer darauf vertrauen, dass die Macher sich nicht vom Ruf des Geldes locken lassen. So endete auch «Fleabag» auf seinem Zenit. «Fleabag»? Viele deutsche Zuschauer werden womöglich noch nie von der romantischen Tragikomödie gehört haben, auch weil die Produktions- und Veröffentlichungsgeschichte eine breite Aufmerksamkeit nicht zuließ. Im Juli 2016 erschien das Format zunächst auf BBC Three und dann irgendwann still und heimlich in Deutschland bei Koproduzent Amazon. Fast drei Jahre später folgte erst die zweite Runde, die Amazon hierzulande dann noch immer sehr zaghaft bewarb.
In beiden Staffeln geht es um eine namenlose Protagonistin. Sie ist wütend, verunsichert, sexuell freizügig, lebt in London und bricht regelmäßig die vierte Wand, um ihre Gedanken mit dem Zuschauer zu teilen, was ihre Gesprächspartner in der Serie aber nicht mitbekommen. Es gibt wohl keine Serie, die sich Serienschaffende dringender ansehen sollten als «Fleabag». Das von der britischen Schauspielerin und Autorin Phoebe Waller-Bridge erdachte Format stellt eine greifbar realistische, multidimensionale und namenlose Frauenfigur in den Fokus, die der Unterhaltungsindustrie mit ihren häufig flachen weiblichen Charakteren als Lehrstück dient.
Vom Theater zur Serie
Eigentlich war «Fleabag» ein Ein-Personen-Theaterstück, das Waller-Bridge im Jahr 2013 aufführte. In der Serie steht die Autorin selbst im Mittelpunkt. Das übergreifende Thema des Formats ist Trauerbewältigung, denn der gesamte Seins-Zustand von «Fleabag» lässt sich auf den Tod der besten Freundin der Hauptfigur zurückführen. All die One-Night-Stands, Diebstähle, Kraftausdrücke, Boshaftigkeiten und Alkoholexzesse der Figur sind nicht einfach nur provozierend und schamlos, sondern Teil eines sensiblen Portraits. einer modernen jungen Frau mit all ihrem Schmerz und ihren Unsicherheiten. «Fleabag» ist trotz vieler schwerer Themen auch Comedy mit teilweise langgezogenen Szenen, die nur auf eine herrlich absurde Pointe hinauslaufen. Zartbesaitete Gemüter sollten hiervon jedoch Abstand nehmen, denn vor expliziten Themen wird nicht zurückgeschreckt. Doch die Serie hat auch etwas Romantisches, denn die Lösung für alle Probleme der Hauptfigur ist – genau – Liebe.
Seit dem 17. Mai befinden sich die vollen sechs Folgen der zweiten Staffel in der Mediathek von Prime Video. Seitdem übertrifft sich die Journaille mit Jubelarien selbst, was für ein Format, das insgesamt nur 12 Folgen zählt und schon endete außergewöhnlich ist, aber völlig zurecht der Fall. Stets provozierend handelt die zweite Staffel von der Liebe «Fleabags» zu einem Priester. Der soll eigentlich ihren Vater vermählen, welcher nach dem Tod der Mutter «Fleabags» ihre Patentante heiraten will (herrlich manipulativ und unerträglich gespielt von Oscar-Gewinnerin Olivia Colman). Doch beim von Andrew Scott («Sherlock») verkörperten Geistlichen handelt es sich um einen ausfälligen Alkoholkranken, der als Kind von seinem Vater missbraucht wurde. Damit passt er bestens zur ebenfalls emotional stark geschädigten Hauptfigur.
Um Scotts Figur, die sich als „Hot Priest“ einen Namen machte, drehten sich viele Diskussionen im Internet. Tatsächlich wäre Staffel zwei gar nicht zu Stande gekommen, hätte Scott nicht zugesagt, wie Waller-Bridge in in einem Interview verriet. Den Reiz der unheiligen Verbindung zwischen «Fleabag» und dem Priester macht natürlich dessen Zölibat aus. Aus dem Umstand, dass beide ihre Zuneigung gegenüber einander im Zaum halten müssen, erwächst eine ungemeine Chemie. Religion ist gleichzeitig eines der übergreifenden Motive der zweiten Staffel, denn noch immer sucht «Fleabag» nach einer Möglichkeit, die Trauer über den Tod ihrer besten Freundin in den Griff zu bekommen. Hart eingeschnittene Rückblenden verdeutlichen ihren inneren Kampf gegen ihre eigenen Emotionen.
«Fleabag» erzählt ungemein kreativ
Facts zu «Fleabag»
- Genre: Tragikomödie / Romantic Comedy
- Idee: Phoebe Waller-Bridge
- Regie: Harry Bradbeer
- Darsteller: Phoebe Waller-Bridge, Sian Clifford, Olivia Colman, Bill Paterson u.v.w.
- Episodenzahl: 12 (2 Staffeln)
- Episodenlaufzeit: 23-28 Minuten
- Run: 21. Juli 2016 - 8. April 2019
Die besondere Verbindung der beiden schlägt sich auch im Stilmittel der direkten Zuschaueransprache nieder. Wenn «Fleabag» wie Frank Underwood in die Kamera spricht, handelte es sich in Staffel eins häufig um Erklärungen, Erläuterungen zum Kontext, Schuldeingeständnisse und Aufforderungen an den Zuschauer, über sie zu urteilen. Manchmal waren die Ansprachen regelrecht feindselig oder dienten als Entschuldigungen, aber sie waren immer durch und durch ehrlich, denn dem Zuschauer konnte sich die junge Frau gefahrenlos öffnen. Als «Fleabag» das erste Mal das Gespräch mit dem Priester verlässt und sich dem Zuschauer zuwendet, fällt es diesem allerdings unmittelbar auf. Es ist der erste Moment, in dem eine Figur die namenlose Protagonistin wirklich sieht und den Zuschauer gleich mit – eine ungemein originelle Entscheidung zum Beleg der spirituellen Verbindung beider Charaktere.
Was für manche Zuschauer vielleicht banal wirkt, ist im Universum der Serie eine große Sache. Denn «Fleabag», diese gebrochene und extrem verunsicherte Person, die ihre starken Gefühle der Trauer nur mit sich selbst und dem Zuschauer ausmacht, hat von dem Brechen der vierten Wand selbst nichts. Diese Einbahnstraße ist komfortabel, gefahrenlos, aber auch wirkungslos für «Fleabag». Deshalb kennzeichnet der Moment, in dem sich «Fleabag» später in einem Beichtstuhl auf ihre Gefühle einlässt eine Offenbarung für diese Figur. Sie befindet sich nun auf dem Weg der Rettung, was nicht als Statement für Religion zu verstehen ist, sondern für menschlichen Austausch und die Bedeutung von Geborgenheit. Wenn der Priester und «Fleabag» auch ihr Verlangen füreinander nicht mehr wegschieben können, schiebt die Hauptfigur die Kamera, die ihr die ganze Zeit noch als Substitut für echte Intimität diente, beiseite. Sie braucht den Zuschauer nun nicht mehr, um ihre Gefühle zu teilen.
«Fleabag» ist ein Meilenstein
Die einst sehr schwarzhumorige, sehr britische und ungemein komische Serie, die als Studie über passive Aggression, toxische Familienkonstellationen und weibliche Selbstzerstörung begann, endet hoffnungsvoll mit einem neuen Gefühl der Selbstakzeptanz. Wohl keine Serie schaffte es bislang, ein derart komplexes Gefühlsleben in so kurzer Zeit zu transportieren. Die wirkliche Originalität von «Fleabag», das wie viele andere Formate aus dem Zynismus gegenüber der Moderne entstand, besteht im emotionalen und ungemein kreativen Bruch mit den eigenen erzählerischen Grenzen.
„Das ist eine Liebesgeschichte“, sagt «Fleabag» gleich zu Beginn der Staffel mit einer blutenden Nase in Richtung Kamera. Und tatsächlich sollte es die Serie trotz allem emotionalen Chaos auch bleiben. Nachdem die erste Staffel bloß eine Meditation über den Umgang mit Trauer war, wurde Staffel zwei erzählerisch viel offener, begleitet ihre Figur bei einem Heilungsprozess, der erst gegen Ende so richtig deutlich wird und destilliert die rohsten menschlichen Gefühle in sehr präzisen und zeitlich effizienten Dialog, der von großartig aufgelegten Schauspielern dargeboten wird. Diese Serie ist trotz kurzer Laufzeit ein tiefschürfender Meilenstein hinsichtlich ungemein vieler verschiedener Themen und dazu ein sehr feministisches Werk mit perfektem Ende.