Die glorreichen 6 – Netflix-Originalfilme, die man gesehen haben muss (Teil II)
Egal, ob Netflix sich auf einem Filmfestival die weltweiten Auswertungsrechte gesichert hat oder den Film überhaupt erst in Auftrag gegeben hat: Diese Filme sind Netflix-Titel – und zeigen den VOD-Dienst von seiner besten Seite. Wie «Okja».
Filmfacts: «Okja»
Regie: Joon-ho Bong
Produktion: Joon-ho Bong, Dooho Choi, Dede Gardner, Lewis Taewan Kim, Jeremy Kleiner, Woo-sik Seo, Tilda Swinton
Drehbuch: Joon-ho Bong, Jon Ronson
Darsteller: Tilda Swinton, Paul Dano, Jake Gyllenhaal, Seo-hyun Ahn, Michael Mitton
Musik: Jaeil Jung
Kamera: Darius Khondji
Schnitt: Meeyeon Han, Jin-mo Yang
Veröffentlichungsjahr: 2017
Laufzeit: 120 Minuten
In einer nicht allzu weit entfernten Zukunft hat der Mirando-Konzern eine Lösung gefunden, um den weltweiten Hunger zu bekämpfen. Die New Yorker Oligarchin Lucy Mirando (Tilda Swinton) und führende Wissenschaftler aus der Nahrungsmittelindustrie haben mithilfe von Gentechnik riesengroße Okja-Schweine gezüchtet, die die Welt mit schmackhaftem Fleisch versorgen sollen. Um den Eindruck einer naturgemäßen Aufzucht zu erwecken, werden 26 dieser Schweine über die ganze Welt an Farmer verteilt, unter deren Aufsicht die Tiere aufwachsen sollen. Von den tierschutzwidrigen Bedingungen in den unterirdischen Laboratorien des Konzerns soll Niemand etwas erfahren. Die vierzehnjährige Mija (Seo-Hyun Ahn) freundet sich mit dem Schwein ihres Vaters an, der Okja zehn Jahre lang in der Natur der südkoreanischen Gebirge groß werden lässt. Als der Mirando-Konzern sein Eigentum zurück fordert, um die Ergebnisse der Bevölkerung zu präsentieren, setzt Mija alles daran, ihren liebenswerten Freund zu beschützen und schließt sich dafür einer Gruppe von Tierschützern an, die unter der Leitung des engagierten Jay (Paul Dano) alles daran setzz, die düsteren Machenschaften der Tierquäler aufzudecken.
Darüber, ob Netflix eine Gefahr für die Filmindustrie darstellt, oder bislang verschlossene Türen öffnet, darf man gern streiten. Im Falle von Joon-ho Bongs 2017 auf Cannes uraufgeführten Film «Okja» geht die Tendenz jedoch erst einmal in Richtung letzterem Argument, denn es ist fraglich, ob das Projekt, so wie es ist, überhaupt einen mutigen, deutschen Verleih gefunden hätte. Nun mag es aus der Sicht der Skeptiker bei irgendeinem Streamingdienst versauern, obwohl er die große Leinwand verdient gehabt hätte. Aber sehen wir das an dieser Stelle optimistisch: Immerhin bekommen wir es überhaupt zu sehen. Denn nachdem schon Bongs letzter Film «Snowpiercer» – der zum damaligen Zeitpunkt als einer der besten Filme aller Zeiten gehandelt wurde – nur knapp den Kampf um einen Kinostart gewonnen hatte, hätte «Okja» mit Sicherheit ein ähnliches Schicksal ereilt.
Der Grund, beziehungsweise das (aus Marketingsicht betrachtet) Problem: Ein solch komplex inszeniertes Werk wie dieses hier ist schwer an den Mann zu bringen. Das erkennt man schon, wenn man sich einmal durch sämtliche internationale Kritiken kämpft. Da ist nicht selten von einem Familien- oder gar Kinderfilm die Rede, doch sogar das Portal Netflix direkt vermerkt ihr Produkt mit der Überschrift „nicht für Kinder geeignet“. Doch wenn man einmal ehrlich ist, müsste «Okja» fortan zur filmischen Grunderziehung gehören, denn der dystopische Mix aus Familienabenteuer, Drama und Wirtschaftssatire bringt spektakulär auf den Punkt, was in unserer heutigen Gesellschaft falsch läuft.
Es ist ein offenes Geheimnis, unter welchen Bedingungen Tiere aufwachsen müssen, die für den Verzehr gezüchtet werden. Und so möchte man eigentlich gar nicht mehr davon ausgehen, dass ein Film mit einer solchen Thematik heute noch so richtig schocken kann. Doch Joon-ho Bong ist sehr geschickt darin, die von ihm selbst und Jon Ronson («Männer, die auf Ziegen starren») geschriebene Geschichte inszenatorisch zu etablieren. In der Eröffnungssequenz gibt Tilda Swinton («Doctor Strange») in einer astreinen Over-the-Top-Performance die Figur einer knallharten Geschäftsfrau zum Besten, die so verbissen versucht, ihre finsteren Machenschaften wegzulächeln, dass man selbst ohne genaue Kenntnisse der Handlung sofort weiß, dass hier Etwas gewaltig im Argen liegt. Die von ihr getätigten Aussagen über das Okja-Superschwein klingen so, als würde ihre Lucy Mirando gerade die Vorzüge eines neuen Sportwagens anpreisen; und zwar eines solchen, der kein Benzin verbraucht, sogar gut für die Umwelt und zu allem Überfluss kostenlos für jedermann erhältlich ist.
Lucy Mirando propagiert eine Art eierlegende Wollmilchsau, aus der Niemand auf der Welt einen Nachteil ziehen würde und die, ganz nebenbei, auch noch den Welthunger bekämpft. Doch dabei lässt ihre Figur nicht bloß den Faktor Tier außer Acht, sondern auch die Tatsache, dass diese Idealvorstellung niemals zu bewerkstelligen wäre. Gleichsam ist ihr Enthusiasmus, gepaart mit der Idee an sich, absolut ansteckend. Wenn da nicht zwangsläufig die Alarmglocken schrillen würden.
Nach dem von Swinton im Alleingang bewerkstelligten Eröffnungsmonolog widmet sich «Okja» den eigentlichen Hauptfiguren. Ohne viel Worte, dafür mit Witz, Abenteuerflair und sogar ein paar kleineren Albernheiten zeigt Joon-ho Bong die junge Hauptdarstellerin Seo-Hyun Ahn («Maeul: Achiaraui Bimil») im Zusammenspiel mit der riesigen, computeranimierten Kreatur, die an eine Mischung aus Schwein und Nilpferd erinnert. Dabei fallen zwei Dinge sofort auf: Zum Einen präsentieren sich die Trickeffekte bis auf einige wenige Ausnahmen (Stichwort: Rettung am Abhang) auf einem äußerst starken Niveau, sodass nie das Gefühl aufkommt, die Kleine hätte nicht tatsächlich mit einem Okja-Schwein interagiert. Zum Anderen besitzt Ahn selbst eine derart einnehmende Präsenz, dass sie selbst alteingesessene Darsteller wie Tilda Swinton und den zwielichtigen Naturexperten Johnny Wilcox (gespielt von Jake Gyllenhaal, «Southpaw») an die Wand spielt. Wenn die beiden erst einmal aus ihrer gemeinsamen Idylle gerissen werden und Mija in New York darum kämpfen muss, Okja aus den Fängen des Konzerns zu befreien, ist das auch ganz besonders wichtig.
Hier wird «Okja» zu einem rasanten Action-Abenteuer mit einigen halsbrecherischen Manövern, in denen sich die kleine als kämpferische Heldin beweist, die ihrem geliebten Freund auch schon mal viele Kilometer hinterher läuft, um sich anschließend mit einem lebensgefährlichen Sprung auf das Dach des Transport-LKWs zu befördern. Die Aufopferungsbereitschaft Mijas für Okja ist hinreißend und ansteckend, doch dieses Abenteuerflair muss einer ganz anderen Facette des Films schon bald Platz machen; im letzten Drittel wird aus «Okja» plötzlich ein hartes Drama, das in seiner Drastik nachhaltig verstört. Vor allem aber auch deshalb, weil man weiß, wie nah sich die hier zunächst so überhöht wirkenden Zustände an der Wahrheit befinden.
Dass das von Lucy Mirando heraufbeschworene Ideal irgendwann in sich zusammenbrechen wird, ist von Anfang an klar. Doch mit was für einer markerschütternden Direktheit Joon-ho Bong hier vorgeht, dürfte selbst eingefleischte Nicht-Vegetarier für einen Moment verstummen lassen. Natürlich trägt auch die persönliche Komponente um die Beziehung zwischen Mija und Okja dazu bei, dass einem das Schicksal der vielen, vielen Okja-Schweine wesentlich weniger egal ist, als das von jenen Tieren, die tagtäglich „anonym“ auf unseren Tellern landen. Doch Bong ist nicht nur absolut radikal in dem, was er zeigt (spätestens hier disqualifiziert sich «Okja» als Familienunterhaltung, wenngleich eigentlich jeder – ob Jung oder Alt – einmal gesehen haben sollte, wie die Fleischindustrie wirklich funktioniert). Er nimmt sich auch so gezielt vereinzelte Facetten der ohnehin drastischen Thematik vor, dass die Abartigkeit hinter dem System noch einmal besonders stark zur Geltung kommt.
Bong verzichtet darauf, abgegriffene Momente von schlimmen Haltungsbedingungen oder hartherzigen Schlachtprozessen zu zeigen. Der Regisseur geht dahin, wo es wehtut, und beschwört unter Zuhilfenahme von Themen wie erzwungener Paarung, Fleischentnahme am lebenden Tier oder Bildern von routiniert abgetrennten Köpfen die Perversion hinter etwas herauf, von dem unsereins einfach nichts wissen will. Trotzdem bleibt «Okja» in einer Hinsicht absolut menschlich: Am Ende geht es um Mija und darum, wie sie ihren Freund vor all dem bewahren kann. Das ergibt dann vielleicht kein absolutes Happy End, wohl aber ein leider realistisches.
«Okja» ist, wenig überraschend, via Netflix abrufbar.