«Der dunkle Kristall: Ära des Widerstands»: Klein, fein, sehenswert
Nach fast 40 Jahren ermöglicht uns Netflix wieder einen Abstecher in die wundersame Welt der Gelflinge und Skekse ...
Seit dem Aufkommen der aktuell (noch) den Markt bestimmenden Streamingdienste wurde immer häufiger medienwirksam die Frage gestellt, welche Formate eher die breite Masse ansprechen sollen und welche eher in der Nische beheimatet sind. Insbesondere die „Antwort“ von Netflix ist hochgradig interessant: Natürlich – und das dürfte den Entscheidern früh klar gewesen sein – brauchte es echte Zugpferde. Die beiden größten sind wohl – nicht nur aktuell, sondern auch ganz generell – «Stranger Things» und «Haus des Geldes» – Serien wie «Star Trek: Discovery» oder «Riverdale» sind schließlich keine klassischen Netflix-Original-Produktionen, obwohl das Portal sie weltweit populär gemacht hat. Aber es bedurfte eben vor allem auch der Abwechslung und Genrevielfalt.
Einerseits bedeutete das selbstverständlich Programmeinkauf (der durch die neuen Mitbewerber in Zukunft wesentlich komplizierter werden dürfte) im großen Stile – die entsprechenden Lizenzgebühren haben wir dabei selbstredend im Hinterkopf. Andererseits setzte das Unternehmen mit den roten Buchstaben eben auch seit jeher auf Eigenproduktionen – und wurde im Zuge seiner Bemühungen immer internationaler («Haus des Geldes» kommt etwa aus Spanien, «Dark» aus Deutschland usw.). Was die Führungsspitze allerdings ganz offensichtlich ebenfalls erkannte, war das riesige Potenzial, dass in (vermeintlichen) Programmen für Kinder und Jugendliche steckt. Interessanterweise setzte Netflix von Anfang an auf Computer-animierte Serien, klassischen Zeichentrick und Anime (oder vom Anime-Stil stark inspirierte westliche Cartoons) wie etwa «Trolljäger: Geschichten aus Arcadia», «Kulipari: Die Frosch-Armee», «Devilman Crybaby» oder «She-Ra und die Rebellen-Prinzessinnen». Insbesondere letztgenanntes Format eignet sich gut, um zu verdeutlichen, wie strategisch der Streamingriese bei der Auswahl für ihn relevanter Stoffe vorgeht.
Bekanntlich ging Mitte der 80er-Jahre einst «She-Ra – Prinzessin der Macht» aus «He-Man and The Masters of the Universe» hervor und sollte sich den Umstand zunutze machen, dass nicht nur Jungs, sondern auch viele Mädchen für Prinz Adam und sein Universum schwärmten. Vier Jahrzehnte später fungierte nun wiederum das Reboot rund um Adora, Glimmer, Hordak & Co. als eine Art Testballon für das Comeback von He-Man – erst kürzlich wurde «Masters of the Universe: Revelation» für das Kevin Smith, die personifizierte Popkulturkompetenz, verantwortlich zeichnen wird, angekündigt. Diesmal hatte man jedoch nicht nur im Sinn, männliche wie weibliche Jungfans anzusprechen, sondern vor allem auch die der ersten Stunde: die Eltern von heute, die sich ihr inneres Kind bewahrt haben.
Ganz ähnliche Überlegungen führten höchstwahrscheinlich zu der Entscheidung, eine Prequel-Serie zu dem modernen Klassiker «Der dunkle Kristall» von 1982 in Auftrag zu geben. Dennoch ist dieser Schritt als etwas mutiger zu bewerten als zum Beispiel der eben skizzierte. Immerhin geht es hier um keine gezeichnete oder gänzlich am PC entstandene Welt, sondern um eine, die von Puppen aller Art (Handpuppen, Stabpuppen, Ganzkörperpuppen sowie in gewisser Weise auch ferngesteuerter Puppen) bevölkert ist und deren Schauplätze (von einigen Landschafts- und Effektaufnahmen – dies gilt aber nur für die Neuauflage – abgesehen) das Ergebnis herausragender Set-Design-Arbeit sind.
Der Look sorgte schon damals für Erstaunen und stellte alles bis dato in dieser Form für TV und Kino Realisierte in den Schatten. Trotzdem war das Publikum diese Optik gewohnt – nicht nur in den USA, sondern natürlich auch in Deutschland. Ob «Augsburger Puppenkiste», «Sesamstraße» oder «Die Muppets», Puppenspiel war beliebt und gefragt. Kermit & Co. gehen auf den Großmeister dieser faszinierenden Kunstform, Jim Henson, zurück, die weltbekannte Wer-wie-was-der-die-das-Sendung prägte er zumindest nachhaltig. Seine Jim-Henson-Company gilt bis zum heutigen Tage als Synonym für Qualität und das, obwohl Henson selbst bereits 1990 gestorben ist. Sein langjähriger kongenialer Partner Frank Oz hingegen sprüht vielleicht nicht mehr so vor Tatendrang wie einst, ist allerdings noch am Leben und nach wie vor aktiv – «Star Wars»-Liebhaber verbinden diesen Namen seit einer gefühlten Ewigkeit mit Meister Yoda, dem er zuletzt in Episode VIII zu „etwas mehr Beweglichkeit“ verholfen hat.
Die erste gemeinsame Regiearbeit der beiden war der Film mit dem Originaltitel «The Dark Crystal», und man kann es nicht anders sagen: Die beiden Masterminds der Branche übertrafen sich bei diesem Projekt selbst. Das Duo erschuf zusammen mit unzähligen genialen Kreativen eine (im doppelten Wortsinn) fantastische Welt (Thra), deren Geschichte und Mythologie ganz zentral für die Handlung des Ausgangs- und Nachfolgewerks waren und sind. Da gibt es die bösen Skekse und die weisen Mystiker (oder Urus), die einst getrennt worden, und noch immer durch eine Art unsichtbares Band verbunden sind – wird einer von ihnen verletzt, verletzt sich sein Gegenstück ebenfalls.
Mindestens genauso wichtig sind die sogenannten Gelflinge, die sich in sieben verschiedenen Clans organisiert haben: den Vapra, den Drenchen, den Steinwald, den Sifa, den Dousan, den Spriton und den Grottan. Außerdem gilbt es unzählige Tiere und Pflanzen zu entdecken sowie selbstredend viel Magisches und Mystisches. Das war 1982 nicht anders als 2019 und da die neuen Abenteuer viele Trigonen – ein Hoch auf einen kreativen Umgang mit der Zeit und den zugehörigen Begrifflichkeiten – vor den Ereignissen des „Eineinhalbstünders“ spielen und man für diejenigen, die ihn noch nicht kennen, selbstverständlich nicht alles spoilern muss, geht es ab jetzt ausschließlich um den neusten Netflix-Streich.
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Für ihn maßgeblich verantwortlich zeichneten Lisa Henson, die Tochter der Puppenspiel-Ikone, und Louis Leterrier, der beispielsweise einst bei «Transporter» oder «Der unglaubliche Hulk» Regie geführt hatte. Auf der Basis zahlreicher Ideen, Notizen, Skizzen und Erwähnungen aus dem Film selbst ist eine Geschichte entstanden – so viel sei vorweggenommen –, die es absolut lohnt, erzählt zu werden. All die ungeklärten Fragen (primär die Gelflinge und Skekse betreffend) wurden entweder direkt beantwortet oder man erhielt hilfreiche Hinweise, um eventuell selbst das eine oder andere herauszufinden respektive bis zur endgültigen Auflösung in einer etwaigen weiteren Staffel die eine oder andere Vermutung anstellen zu können.
Abwechselnd erhält der Zuschauer Einblicke in das Leben der beiden Hauptparteien: Die bösen, ein wenig an Krähen oder Geier (in Menschengestalt) erinnernden Kreaturen sind besonders spannend: Obwohl es nur noch verhältnismäßig wenige von ihnen gibt, regieren sie als Herrscher des Kristalls über Thra, und obwohl sie das tun, hintergehen sie einander ziemlich häufig, weil einige von ihnen eine ganz eigene Agenda verfolgen. Alle sieben Clans der am ehesten noch als Kobold-Elfen-Mischwesen zu beschreibenden Gattung befolgen seit ewigen Zeiten deren Befehle und hinterfragten deren Entscheidungen bislang nie. Dies änderte sich schlagartig, als die Skekse eines Tages in ihrem ewigen Streben nach Macht(erhalt) eine Grenze überschritten und so eine Kettenreaktion auslösten.
Eine große Rolle spielten dabei die Gelflinge Rian, Prinzessin Brea und Deet. Was auffällt, ist, dass die Drehbücher viel Raum für Grautöne lassen, was bei «Der dunkle Kristall» in dieser Form nicht gegeben war. Logischerweise ist eine facettenreichere Zeichnung der einzelnen Charaktere in zehn Folgen auch wesentlich leichter möglich als in 93 Minuten, in die Tat umsetzen muss man ein solches Vorhaben jedoch dennoch erst einmal. Das nicht ganz unproblematische Verhältnis der Clans zueinander wird ebenso thematisiert wie das Problem des blinden Gehorsams.
Der Gemeinschaftssinn steht Eigeninteressen entgegen, das Maßhalten der Gier sowie die Achtung der Natur deren Ausbeutung. Die Parallelen zur realen Welt sind unverkennbar und der erhobene Zeigefinger ist trotzdem kein erzwungener, sondern vielmehr einer, der sich sehr organisch in das erzählte Geschehen einfügt. Wirklich ungewöhnlich und daher an sich doppelt lobenswert ist, dass man sich gleichermaßen intensiv der dunklen und hellen Seite widmet. Dabei wird es teilweise – aus Kinderaugen (auch heutiger) gedacht – ziemlich gruselig (düstere Settings, fast schon brutal anmutende Szenen und grausame Charaktere lassen grüßen und die FSK-12-Einstufung nachvollziehbar erscheinen). Nicht selten geraten Antagonisten recht farblos, diese hier sind überdurchschnittlich präsent – und für ihre Verhältnisse – „farbenfroh“.
Einerseits liegt dies selbstverständlich an der Gestaltung der Figuren und deren Erscheinungsbild insgesamt – dies orientiert sich sehr an den 80er-Jahre-Designs und die leichten Modernisierungen, zu denen es kam, stellen zweifelsohne eine Verbesserung dar. Um zu garantieren, dass der Vibe des Films in Bezug auf Welt und Bewohner möglichst optimal in die Prequel-Episoden würde überführt werden können, holte man sogar Toby Froud, den Sohn des Mannes (Brian Froud), der diesen einzigartigen Look kreierte und auch entscheidend an der 2019er-Version mitwirkte, an Bord.
Andereseits – und dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen – liefern neben den für die Musik Verantwortlichen auch die verpflichteten Synchronschauspieler – in der englischen und der deutschen Fassung – bemerkenswerte Performances ab. Der US-Cast ist sogar gespickt mit wirklich klangvollen Namen wie den «Game of Thrones»-Stars Nathalie Emmanuel (Deet), Lena Headey (Maudra Fara) und Natalie Dormer (Onica), den beliebten «Star Trek: Discovery»-Darstellern Jason Isaacs (Der Mächtigste) und Shazad Latif (Kylan) oder Hollywood-Prominenz wie Taron Egerton (Rian), Helena Bonham Carter (All-Maudra), Alicia Vikander (Mira) oder Luke Skywalker alias Mark Hamill persönlich (Der Gelehrte), der als Voice Actor primär für seine unnachahmlichen Einsätze als Joker seit frühesten «Batman – The Animated Series »-Tagen gefeiert wird.
Die deutschen Sprecher sind natürlich bei Weitem nicht jedem ein Begriff, bei ihren Stimmen dürfte das aber schon deutlich anders aussehen. Hier gilt ebenfalls die Devise: Das Beste ist gerade gut genug! Immerhin finden sich schon unter den Skeksen drei Feststimmen von Ausnahmeakteuren wie Thomas Nero Wolff (Hugh Jackman), Daniela Hoffmann (Julia Roberts) oder Florian Halm (Jude Law). Dass man darüber hinaus die Rolle der Erzählerin, die das Publikum in den ersten Minuten an die Hand nimmt und ihm ermöglicht, sich in diesen fantastischen Kosmos einzufinden, mit der großartigen Karin Buchholz besetzt hat, passt da wunderbar ins Bild – vor allem wenn man weiß, dass sie Sigourney Weaver (die Erzählerin im Original) in fast jeder TV- oder Kino-Produktion seit 1995 synchronisiert hat.
Und darüber hinaus hat man beispielsweise die drei Protagonisten-Parts an mittlerweile längst etablierte, allerdings noch nicht komplett in der Wir-leihen-A-Listern-unsere-Stimme-Kategorie angekommene Synchronschauspieler mit großem Potenzial vergeben: Amadeus Strobl als sanftmütiger und gleichzeitig sehr bestimmter Rian, Amelie Plaas-Link als sehr kluge und zugleich gewitzte Brea sowie Maximiliane Häcke als nachdenkliche und ungemein einfühlsame Deet.
Abgerundet wird das gelungene Bild durch das Besetzen sehr erfahrener Sprecher, die viele vorwiegend aus Serien kennen dürften wie Michael Iwannek (Der General), Julia Kaufmann (Seladon) oder Vera Teltz (Maudra Fara). Dieses sehr überzeugende Endprodukt ist das Ergebnis der tollen Arbeit von Mike Betz als Dialogregisseur und Joachim Kunzendorf, der eben genannten Job 1982 innehatte und 2019 stattdessen das Dialogbuch beisteuerte, wodurch für den deutschen Zuschauer ein noch leichteres Eintauchen in einen dadurch noch vertrauter anmutenden Kosmos ermöglicht wird.
Wer sich wirklich einmal wieder beim Konsumieren einer Serie förmlich „verlieren“ und seinem Alltag entrissen werden will, sollte «Der dunkle Kristall: Ära des Widerstands» definitiv eine Chance geben. In Sachen Deatailverliebtheit muss sich dieses Universum in jedem Fall keineswegs vor denen von «Harry Potter» oder «Der Herr der Ringe» verstecken. In erster Linie dürfen es wohl jedoch tatsächlich Vertreter der Ü-30-Fraktion sein, die zu der Serie finden werden, aber wer weiß? Vielleicht stoßen ja auch nach und nach die einer jüngeren Generation auf diese kleine, feine und sehenswerte Serie mit dem beachtlichen Hauch Nostalgie, der so gar nichts Angestaubtes an sich hat.
«Der dunkle Kristall: Ära des Widerstands»steht ab sofort bei Netflix zur Verfügung.
30.08.2019 06:20 Uhr
• Florian Kaiser
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