Zum vierten Jahrestag der folgenschweren Entscheidung von Angela Merkel will das ZDF die Ereignisse rekonstruieren. Das gelingt erstaunlich gut - allerdings leider nicht mit letzter Konsequenz.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Heike Reichenwallner als Angela Merkel
Aram Arami als Mohammed Zatareih
Emre Aksizoglu als Ahmed Herraf
Stefan Mehren als Bernhard Kotsch
Tilla Kratochwil als Beate Baumann
Gerhard Meseke als Peter Altmaier
Manfred Callsen als Werner Faymann
Hinter der Kamera:
Produktion: AVE Publishing GmbH & Co. KG
Drehbuch: Sandra Stöckmann und Marc Brost
Regie: Christian Twente
Kamera: Dirk Heuer, Facundo Altube und Martin Christ
Produzenten: Tim Klimeš und Walid Nakschbandi“In einer politischen Krise gibt es immer Schlaumeier“, leitet Thomas de Maizière in einer Interviewpassage diese Doku-Fiction ein, um gleich zu Beginn die traurige Dramaturgie vorwegzunehmen, die nach dem 4. September 2015 zunehmend den öffentlichen Diskurs in Deutschland bestimmen würde: der Aufstieg der nichtbeteiligten Wegducker zu den Gallionsfiguren des bürgerlichen Flügels der Merkel-muss-weg-Bewegung, die Verklärung der Bedenkenträger, die unbändige Überinterpretation dessen, was sich tatsächlich ereignet hatte.
Aber erst einmal zu den konkreten Begebenheiten: Denn wenn man die wesentlichste Ambition dieses Films nennen wollte, wäre es wohl die Versachlichung: Am 4. September 2015 erreichte die Situation am Budapester Bahnhof einen Kipppunkt: Tausende syrische Flüchtlinge saßen dort fest, im von Viktor Orbán geschürten antiliberalen Elend wollte verständlicherweise keiner bleiben, die unmittelbaren Lebensbedingungen wurden stündlich katastrophaler. In Not und Desillusionierung machte sich schließlich eine große Gruppe zu Fuß nach Westen auf, mit dem Ziel Österreich, Deutschland oder Schweden. Donald Trump würde von einem
Caravan sprechen.
Dieser Umstand zwang nun auf politischer Ebene zum Handeln: In Wien und Berlin war man besorgt, Viktor Orbán könnte den Menschenzug jederzeit auch mit tödlicher Gewalt auflösen lassen, wenn Deutschland und Österreich signalisieren sollten, ihre Grenzen zu schließen und das Problem allein auf die ungarische Seite abzuwälzen. Und während Angela Merkel von den rechtskonservativen bis rechtsradikalen Kräften mittlerweile geschlossen als Grenzöffnungsideologin abgekanzelt wird, sehen wir sie in «Stunden der Entscheidung» in einer Rolle, die (nach den bisherigen Erkenntnissen) den tatsächlichen Ereignissen eher entspricht: Aufgrund von politisch-administrativen Sachzwängen kann sie ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann zunächst kaum nennenswerte Zusicherungen geben, und wie alle Politiker, die ihre Funktion verstehen, hat auch sie die möglichen machtpolitischen Auswirkungen ihrer Entscheidungen klar vor Augen. Merkel, die Zögerliche.
© ZDF/Hans-Joachim Pfeiffer
Angela Merkel (Heike Reichenwallner) hat ihre engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um sich versammelt. Trotz der sich in den Tagen zuvor zuspitzenden Lage der Flüchtlinge in Ungarn ahnt noch niemand der Anwesenden, welche Eigendynamik die Flüchtlingsfrage am 4. September 2015 entwickeln wird.
Dieser Film lädt auch zur Kritik an Merkels grundsätzlicher Haltung ein – und der ihrer engsten Vertrauten, ihrer Büroleiterin Beate Baumann: „Wer schweigt, hat die Macht“, gibt sie der Kanzlerin in diesem Film telefonisch mit auf den Weg. Das mag Merkels humanistische Grundüberzeugung nicht schmälern, verdeutlicht jedoch die Machiavelli’schen Grundprinzipien des Politbetriebs, die erst recht in Krisenmomenten zutage treten.
Dabei verkennt der Film jedoch, dass der wesentliche Kritikpunkt woanders läge: Erst 2015, als die humanitäre Krise auch im Zentrum Europas erschreckende Ausmaße erreichte und unmittelbare deutsche Interessen betraf, erkannte die deutsche Bundesregierung, dass es nur eine „europäische Lösung“ geben konnte. Vier Jahre zuvor, als die Regierung Berlusconi eben jene „europäische Lösung“ angemahnt hatte, um die Drecksarbeit der Flüchtlingsrettung nicht im Alleingang bewerkstelligen zu müssen, war sie von der Regierung Merkel, respektive ihrem damaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich, noch barsch zurückgewiesen worden: „Italien muss sein Flüchtlingsproblem selbst regeln.“ Dass Deutschland in der Flüchtlingskrise in Europa irgendwann allein auf weiter Flur stand, war ein hausgemachtes Problem, zurückzuführen auf mangelnde Weitsicht und fehlenden politischen Gestaltungswillen.
Diesen großen Bogen will «Stunden der Entscheidung» nicht spannen – wahrscheinlich, weil er die Rekonstruktionsdramaturgie stören würde, in der ein entscheidender Tag chronologisch und weitgehend ereignisnah nacherzählt werden soll. Doch auch dieser Tag hatte eine Vorgeschichte und ist nicht allein aus sich selbst heraus zu begreifen.
Trotzdem gelingt es diesem Film, mit einem wachen Auge die klaren Haltungen der handelnden Personen herauszuarbeiten. Überspitzt formuliert: Man kann sich wie Angela Merkel den Problemen stellen und versuchen, sie im Angesicht der gegebenen Umstände bestmöglich zu managen, oder wie Horst Seehofer einfach nichts ans Telefon gehen, wenn es opportun scheint. Das Diktum „Wer schweigt, hat die Macht“ sollte sich hier leider ein weiteres Mal bewahrheiten.
Das ZDF zeigt «Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge» am Mittwoch, den 4. September um 20.15 Uhr.