Im Animationsfilm «Everest» findet ein kleines Mädchen dank eines pelzigen Fabelwesens einen Weg aus der Trauer um ihren verstorbenen Vater. Ein reifer, zu Herzen gehender Animationsfilm, der völlig unter dem Radar startet.
Filmfacts: «Everest»
Jahr: 2019
Genre: Animationsfilm/Abenteuer
FSK: 6
Laufzeit: 97 Min.
Kamera: Robert Edward Crawford
Musik: Rupert Gregson-Williams
Buch & Regie: Jill Culton
Mit den deutschen Stimmen von: Nilam Farooq und Julien Bam
OT: Abominable (CHN/USA 2019)
In den USA startete der Dreamworks-Animationsfilm «Everest – Ein Yeti will hoch hinaus» exakt ein Jahr nach Warners «Smallfoot». Dabei lag der Fertigstellungsprozess beider Filme ursprünglich deutlich dichter beisammen. Der Grund für das weit auseinander liegende Startdatum: In beiden Filmen geht es um die Geschichte eines Yetis, der unverhoffter Weise auf die von ihrer Entdeckung ganz schön irritierten Menschen trifft. Nun ist es nicht nur aufgrund der sehr ähnlichen Thematik schwierig, einen Film über Yetis in die Kinos zu bringen, kurz nachdem gerade erst ein solcher die Lichtspielhäuser geentert hat. «Smallfoot» war darüber hinaus auch noch ein ziemlich großer Erfolg an den US-Kinokassen, was für ein inoffizielles Nachfolgeprojekt wie «Everest» ja nun mal zweierlei Auswirkungen haben kann: Entweder ist das Publikum gesättigt, oder es verlangt erst recht nach mehr. Die Leute von Dreamworks sind offenbar von Ersterem ausgegangen, denn auch wenn sie «Everest» jetzt großflächig in die Kinos bringen, lief die Marketingmaschinerie bislang eher gemäßigt.
Das ist allerdings ziemlich traurig, denn auch ohne große Werbung gehört das herzlich-liebevolle Yeti-Abenteuer ganz klar zu den besseren Animationsfilmen in diesem Jahr und ist obendrein auch noch einen Tick gelungener als der bereits vielzitierte «Smallfoot», wenngleich die beiden Filme tonal völlig anders gewichtet sind und man sich daher gut und gern beide Filme (noch einmal) beide Filme anschauen darf.
Zurück zum Berg!
Ein kleiner Yeti ist aus einem Versuchslabor in Shanghai entkommen und sucht Zuflucht auf den Dächern der Millionenstadt. Dort begegnet er ausgerechnet dem neugierigen Teenager-Mädchen Yi (deutsche Stimme: Nilam Farooq) und ihren Freunden Jin (Julien Bam) und Peng. Schnell wird klar, dass das Trio den kleinen Yeti, den sie kurzerhand auf den Namen „Everest“ taufen, nur vor dem finsteren Laborleiter Burnish und der Zoologin Dr. Zara retten können, wenn sie ihn zurück in seine Heimat – den Mount Everest – bringen. Gemeinsam begeben sich die Freunde auf eine faszinierende Reise durch sagenhafte Landschaften Asiens, wunderliche Ereignisse und magische Momente, um Everest am höchsten Punkt der Erde wieder mit seiner Familie zu vereinen. Doch an jeder Ecke lauern Gefahren, die die Reise jederzeit beenden könnten…
Früher galt ja vor allem Pixar als die Speerspitze des generationenübergreifenden Animationsfilmkinos. Die Geschichten sprechen vom Kleinkind bis zum Erwachsenen jede Art von Zuschauer an. Ein Novum, dem nicht nur die innerhäusige Disney-Konkurrenz, sondern allen voran dank des «Drachenzähmen leicht gemacht»-Franchises auch Dreamworks Animation längst dicht auf den Fersen ist. «Everest – Ein Yeti will hoch hinaus» erzählt ganz in der jüngeren Tradition des Mondsichel-Konzerns nun ebenfalls eine sehr reife Geschichte, die Drehbuchautorin und Regisseurin Jill Culton («Jagdfieber») zwar immer wieder mit niedlichen Slapstickeinlagen des tapsigen Yeti-Jungen zu durchbrechen weiß. Trotzdem ist ihr die technische Mitarbeit an Pixar-Meisterwerken wie «Die Monster AG» oder «Toy Story» anzumerken, da es ihr allen voran um das Erzählen einer mitreißenden Geschichte geht.
Oberflächlich gesehen mag «Everest» zwar ein klassisches Roadmovie-Abenteuer darüber sein, dass drei Jugendliche ein fremdes Wesen zurück in seinen ursprünglichen Lebensraum bringen. Doch letztlich ist der beschwerliche Weg zum Mount Everest auch ein Prozess der Abnabelung für Protagonistin Yi, respektive der Trauerarbeit. Denn seit Yi vor Kurzem ihren Vater verlor, kapselt sie sich von ihrer Familie ab und hat sogar aufgehört, Geige zu spielen, da sie dies zu sehr an ihren Dad erinnert.
Ein audiovisuelles Erlebnis
Dass durch diese Prämisse gewisse Storyabschnitte vorgezeichnet sind, ist in diesem Genre wenig überraschend. Natürlich greift auch Jill Culton auf Versatzstücke des (Familien-)Kinos zurück, denen ein wenig mehr Variation vielleicht sogar ganz gutgetan hätte. Doch letztlich sind die in dieser Geschichte stattfindenden, erzählerischen Meilensteine wie etwa Yis erstmalige Auseinandersetzung mit der Trauer einfach viel zu begeisternd inszeniert, als dass einem der Mangel an Kreativität da als erstes auffallen würde. Insbesondere eine Szene, in der Yi an einem besonders schönen Ort plötzlich das erste Mal wieder anfängt, Geige zu spielen und um sie herum wie von Zauberhand Blumen aus der Erde sprießen, während der asiatisch angehauchte Violinenscore immer dichter mit Coldplays Powerballade „Fix You“ verschmelzt, ist einfach ganz großes Kino – auch wenn wir zugeben müssen, dass man schon sehr viel falsch machen muss, damit einen „Fix You“ im Zusammenhang mit einer solchen Filmszene kalt lässt.
Vielleicht geht Culton in solchen Momenten ein wenig zu manipulativ in der audiovisuellen Gestaltung ihres Filmes vor. Doch am Ende fügen sich die herausragende Optik detailgetreu nachempfundener Asia-Kulissen, die dazu passende Akustik (zu der übrigens auch die im Deutschen starken Synchronleistungen gehören!) sowie die Geschichte selbst einfach absolut stimmig zusammen, sodass sich auch das bisschen Kitsch wunderbar verschmerzen lässt.
Den lässt Culton nämlich sonst zumeist beiseite. Nicht zuletzt, weil «Everest» ja eben nicht nur die emotionale Reifung seiner Protagonistin thematisiert, sondern in erster Linie ein kurzweiliges Abenteuer ist. Insbesondere die Seite der Bösewichter genießt eine angenehm ambivalente Zeichnung inklusive eines eigentlich althergebrachten Twists, den wir so allerdings nicht haben kommen sehen, da Culton ihn nur sehr subtil, wenngleich schlüssig vorbereitet. Darüber hinaus gefällt es sehr, dass der ewige Kampf zwischen Gut und Böse in «Everest» nie allzu düstere Stimmungen kreiert. Zwar wird es gerade im Schlussakt ganz schön aufregend, was ein allzu junges Publikum vielleicht bisweilen verschrecken könnte. Trotzdem steht hier ganz klar das Gute und Magische im Vordergrund – und Everest selbst ist als Grimassen schneidendes Nicht-Ungeheuer sowieso immer für einen Lacher gut.
Dass dieser übrigens auch noch magische Fähigkeiten hat, verhilft dem Film selbst zu einigen tollen Setpieces wie einer aus dem Ruder geratenen Blaubeer-Jagd oder einem Blumenfeld, das sich zu einer gigantischen Welle auftürmt, nimmt der Geschichte hier und da aber auch ihre Ecken und Kanten. Wann immer Yi und ihre Freunde nicht weiterwissen, können sie eben auf Everests Zauberkraft zurückgreifen. Immerhin wissen so schon die Jüngsten, dass ihr kleiner Held somit nie ernsthaft in Gefahr schwebt. Aus Erwachsenensicht lässt sich das vielleicht kritisieren. Doch es ist irgendwie auch ganz schön, dass «Everest» in erster Linie zum Staunen einladen will, anstatt auf Biegen und Brechen auf dem alten Gut-gegen-Böse-Thema rumzureiten.
Fazit
«Everest» ist ein charmant erzählter und wunderschön bebildeter Animationsfilm, der Themen wie Trauer und Trauerarbeit kindgerecht verhandelt und trotzdem eine bemerkenswerte Reife an den Tag legt. Gerade das bittersüße Ende dürfte selbst bei einem älteren Publikum für die ein oder andere Träne gut sein.
«Everest – Ein Yeti will hoch hinaus» ist ab dem 26. September bundesweit in den deutschen Kinos zu sehen – auch in starkem 3D.