«The End of the F***ing World» Staffel 2: Erwarte das Unerwartete … und lebe damit?

James und Alyssa sind zurück ... und überraschen ihr Publikum in mehrerlei Hinsicht.

Es ist immer ein Wagnis, das Unerwartete zu tun. Denn wenn man sich für das Erwartbare entscheidet, gibt es schließlich immer diejenigen, die sich genau darauf freuen. Im anderen Fall enttäuscht man zumeist diejenigen, die sich mehr vom Liebgewonnen erhofft haben. Und wenn man mit seiner Idee auch diejenigen nicht für sich gewinnen kann, die Neuem gegenüber aufgeschlossen sind, hat man erst einmal niemanden auf seiner Seite und erntet vornehmlich Kritik. All das sind Überlegungen, die im Zeitalter der Hochglanzserien nahezu täglich von inhaltlich Verantwortlichen auf der ganzen Welt angestellt und doch logischerweise nie vollkommen identisch beantwortet werden. Überraschen dürfte das jedoch niemanden, da die Fiktion schließlich von der Abwechslung lebt.

Insbesondere bei der Produktion einer zweiten Staffel kommt sehr schnell der Punkt, an dem klar sein muss, welchen Weg man einschlagen möchte. War die erste ein voller Erfolg, wird die Angelegenheit noch etwas schwieriger als ohnehin schon – oder vielleicht doch nicht? Wenn man im Negativen herausstellen kann, dass im Internet gerne und häufig verlautbart wird, was Person XY nicht gefällt – am besten ohne Begründung –, so muss man unbedingt ebenso anführen, dass man mit Sicherheit auch jede Menge Kommentare finden wird, in denen die Dinge hervorgehoben werden, die dem Verfasser oder der Verfasserin gefallen haben. Sprich: Das Erwartbare ist stets leicht zu identifizieren.

Und natürlich muss Season 2 immer etwas Erwartbares beinhalten, denn sonst – Achtung, Wahnsinnserkenntnis – würden wir von einer völlig neuen Serie sprechen. Dieses Erwartbare ist im Idealfall gleichzusetzen mit dem Kern des Formats und weniger mit der Wiederholung einzelner Handlungselemente. Einen solchen Kern als Außenstehender, der nicht in die Realisierung eines potenziellen Streaminghits involviert war, benennen zu können, setzt selbstredend eine persönliche Deutung voraus und dennoch ist dieses Vorgehen weit weniger subjektiv, als man meinen könnte. Und genau an diesem Punkt kommt nun endlich «The End of the F***ing World» ins Spiel.

Was ist von Staffel 1 geblieben? James (Alex Lawther), der Junge, der gerne einmal jemanden umbringen wollte, und Alyssa (Jessica Barden), die er als sein Opfer auserkoren hatte, die auf einem der kuriosesten Roadtrips der TV-Geschichte eine Tankstelle überfallen und außerdem einen Psychopathen (Jonathan Aris), der Freude am Quälen von Frauen und Schlimmerem hat und die junge Protagonistin vergewaltigen wollte, töten, nachdem sie in dessen Haus eingebrochen sind. Darüber hinaus das Austricksen eines Tankwarts, ihre „speziellen“ Eltern (Christine Bottomley und Steve Oram) – inklusive Abstecher zu Alyssas Vater (Barry Ward) – sowie der Showdown mit der Polizei, der in dem Schuss auf James gemündet ist.

Was bedeutet das für Staffel 2? Selbstverständlich braucht es (vermeintlich) wieder einen richtigen Roadtrip, und wieder die beiden Publikumslieblinge im Mittelpunkt des Geschehens, einen Psychopathen und wieder einen Mord sowie eventuell noch ein paar andere Verbrechen. Und was soll man sagen? All das findet sich in Staffel 2 – auf die übrigens keine mehr folgen soll. Trotzdem hat sich die Channel-4-Produktion, die außerhalb des Vereinigten Königreichs auf Netflix gestreamt werden kann, auf den ersten Blick sehr stark verändert. Woran liegt das?

Nun ganz einfach: Zum einen hat Schauspielerin und Drehbuchautorin Charlie Covell, der kreative Kopf hinter «TEOTFW» diesmal komplett ohne Vorlage gearbeitet. Interessant daran ist, dass man hier sehr schön sehen kann, welch einen Unterschied es offenbar doch macht, was adaptiert wird. Denn dass «GoT» auf einer Romanreihe basiert, hat sich spätestens ab dem Moment herumgesprochen, als sich HBOs liebstes Kind auch nur ansatzweise anschickte, zum Welthit zu werden. «The End of the F***ing World» hingegen basiert auf einem Comic, genauer gesagt einer Graphic Novel. Diese wiederum ist eine Zusammenstellung von Web-Comics, die aus der Feder von Charles Forsman stammen. Covell nahm dessen Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes als erste Skizze. Das Endergebnis entspricht bekanntlich nahezu nie dem ersten Entwurf, und dennoch stößt man bei einem Vergleich schnell auf die Dinge, die von Anfang an offenbar als die mit der höchsten Priorität angesehen worden sind und die sich nur unwesentlich von dem Ausgangskonzept unterscheiden.

Nur die wenigsten Fans haben bei ihrer Beurteilung der ersten 8 Folgen auf die 176 bebilderten Seiten, die konsequent in schwarz-weiß gehalten sind, Bezug genommen. Und das ist auch nicht unbedingt nötig, ist es genau genommen nie. Wer sich jedoch neben der entstanden Serie auch die Vorlage, also den Roman, den Film, die Kurzgeschichte, das Theaterstück oder – in diesem Fall – den Sammelband zu Gemüte führen will, weil sie oder er Freude am Abgleichen hat, soll das natürlich tun. Doch von wesentlich bedeutsamer als das ewige „Was ist besser?“ oder das „Mit welchem Medium sollte man beginnen?“ ist im Grunde etwas anderes: Denn ob Adaption, Rebooot oder Remake, es kommt stets darauf an, ob ein Werk für sich stehen kann – also quasi selbst ein adaptionswürdiges Original sein könnte.

Und im Falle der ersten Staffel von «TEOTFW» ließen sich sicherlich einige Gründe finden, warum letztgenannter Punkt durchaus zutrifft. Aber viel wichtiger als die „Einbruchparty“, der Mord oder das Aufsuchen von Alyssas Vater ist die Tatsache, dass die Tonalität des Comics mehr als nur getroffen wurde. Diesem Umstand ist es nämlich im Wesentlichen zu verdanken, dass man das Gefühl bekommt, dass die erzählte Geschichte durch den Medienwechsel noch besser wirken, den Zuschauer noch besser packen kann. Die fehlenden Farben respektive der Schwarz-Weiß-Look geben beispielsweise zwar ihr Bestes, um die Tristesse und die innere Leere, die das Leben der Protagonisten offenbar schon lange bestimmt, für den Leser so greifbar zu machen, wie es nur irgendwie geht, allerdings wirkt Stille einfach noch etwas mehr als etwas rein visuell Vermitteltes. Ein Voiceover wirkt mehr als Gedankenblasen. Und wenn die Kamera auf das Duo oder nur einen von ihnen hält, und gerade niemand spricht beziehungsweise keine Hintergrundmusik zu hören ist, dann sind die eben beschriebenen Emotionen und Eindrücke allgegenwärtig. Da sich Situationen dieser Art im Laufe der Handlung konsequent in abgewandelter Form wiederholen, verfestigt sich das angesprochene Gefühl bei den Zuschauenden, und wird dadurch eben zum Grundton dieses gelegentlich an eine Tragikomödie erinnernden Titels.


Gleichzeitig haben Schauspieler selbstverständlich ein viel größeres Repertoire an Mitteln als gezeichnete Figuren, um umgekehrt zu verdeutlichen, in welchen Momenten der inneren Leere echte Hoffnungsschimmer entgegengesetzt werden. Das kann ein Lächeln sein, ein Lachen, die Betonung eines Wortes/Satzes oder die Art, wie man jemanden ansieht. Und dieser Kontrast, dieser Wechsel zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit oder Sinn und Sinnlosigkeit, das ist der eigentliche Kern von «The End of the F***ing World». Und damit das Ganze nicht nur in Extremen erzählt wird, setzt man auf einen sehr speziellen Humor, der – meist unterstützt durch Musik – besonders makabere, brutale oder beklemmende Szenen so abschwächt, dass das Publikum sie nicht so ernst nehmen kann, wie es sie eigentlich nehmen müsste.

Erfahren Sie auf der nächsten Seite, inwiefern sich die Hauptcharaktere im Vergleich zur ersten Staffel verändert haben und welche Rolle dabei die neue Figur Bonnie spielt.



Und exakt dieser Kern findet sich auch in Covells Staffel 2, er wird nur von deutlich mehr Schichten überlagert. Warum dem so ist, lässt sich selbstredend nur mutmaßen, das Format selbst hat aber im Grunde alles, was es braucht, um zumindest fundiert über das Zustandekommen dieser Entscheidung spekulieren zu können: So ist die Serie – wie auch der Comic – als solches an sich sehr darum bemüht, auf keinen Fall den Anschein zu erwecken, jeder oder jedem gefallen zu wollen. Im Gegenteil: Vieles, was James und Alyssa erleben, ist Minimum befremdlich, nahezu alle Nebenfiguren sind einem unsympathisch oder man verabscheut sie regelrecht und die Hauptcharaktere entsprechen keinem gängigen Klischee, wodurch sie besonders nahbar erscheinen. Es braucht ein wenig, um sich an sie zu gewöhnen, um ihre Chemie zu verstehen und um auszublenden, dass James Alyssa ursprünglich töten wollte – ob sie das jemals erfährt, bleibt offen, was es so gesehen auch muss, sofern man die Sache „rund" bekommen möchte.

Es ist außerdem vollkommen klar, dass sich viele Fans in den Episoden 9 bis 16 noch mehr dieser unbeschwerten, innigen Momente zwischen dem Chaos-Pärchen gewünscht hätten. Doch an sich gibt das Finale von Season 1 in vielerlei Hinsicht die Richtung vor, wenn man vorhat, die Geschichte fortzuschreiben. Am Ende ist nämlich endgültig nichts mehr so, wie es war – und es war vor allem nie so gut, wie die „Partner in Crime“ es sich kurzzeitig eingeredet hatten: Es musste Konsequenzen geben und dass sich die Zwei erst einmal nicht mehr würden sehen dürfen, war schlicht logisch angesichts ihrer Vergehen. Dass Alyssa die Erkenntnis, dass ihr viel zu lange fälschlicherweise von ihr glorifizierter Vater im wahrsten Sinne des Wortes eine „Luftnummer“ ist, musste sie noch weiter runterziehen und dieses kleine bisschen Stabilität, das ihr das, was sie und James hatten, gegeben hatte, ist auch hin, was ebenfalls nicht spurlos an ihr vorübergehen konnte – ebenso wenig wie die Beinahe-Vergewaltigung und der Mord direkt vor ihren Augen.

Ihr Weltbild zeichnete sich bis dato bekanntlich ohnehin nicht dadurch aus, ein sonderlich positives zu sein, und nach Erfahrungen, wie sie die Schüler gemacht haben, ist es eher unwahrscheinlich, dass sich daran zeitnah oder überhaupt etwas ändert. Daher auch diese Hochzeit – die bereits im Trailer überdeutlich angeteasert wurde –, die Ausdruck einer absoluten Ratlosigkeit ist. Nach dem Motto: „Wer weiß? Vielleicht hilft das ja, machen immerhin viele so.“ Dazu passt, dass der Name ihres Bräutigams ( „Todd", der von Josh Dylan gespielt wird) fast nie fällt. Er ist auch nicht wichtig, weil es bei der ganzen Sache nie um ihn ging. Er war einfach der, der zum Zeitpunkt V an Ort W war und aus diesem Aufeinandertreffen ergaben sich dann eben die Handlungen X, Y und Z – ohne dass auch nur eine von ihnen alternativlos gewesen wäre.

Bei James wiederum war nach dem Schuss im Prinzip alles denkbar: Er hatte durch das Erstechen von Clive Koch die Gewissheit, dass das Töten ihm nicht die innere Genugtuung oder das Glücksgefühl verschafft, das er erwartet hatte. Den Selbstmord seiner Mutter schleppt er ohnehin seit seiner Kindheit mit sich herum. Alyssa hatte ihn schlicht dadurch, dass sie da war respektive dadurch, dass sie war, wie sie war, gewissermaßen ins echte Leben zurückgeholt. Ohne sie bricht dort sein Glückskartenhaus, das in Ansätzen entstanden war, direkt wieder zusammen. Dazu ein weiterer passender Vorwand und zack, schon ist es nachvollziehbar, wieso er abermals ihre Nähe sucht – sich allerdings zunächst nicht zu erkennen gibt. Und ja, nett zu jemandem zu sein, gehörte wohl noch nie so recht zu Alyssas Stärken und ihr Mitstreiter hatte schon beim letzten Mal eine Menge abbekommen, jedoch beweist sie eindrucksvoll, dass diesbezüglich bei ihr noch Luft nach oben bestanden hat. Dies stört ihren Gegenüber aber weit weniger, als dass es ihn einfach freut, wieder bei ihr zu sein.


So oder so: Es ist – wie erwähnt – nichts mehr, wie es war. Die Schichten waren folglich die logische Konsequenz aus den Taten des Duos. Deshalb ist es in sich absolut stimmig, eine neue Figur einzuführen, um den Annäherungsprozess der beiden zu beschleunigen und ihnen so zudem zu ermöglichen, sich spürbar weiterzuentwickeln. Und dass die Auftaktfolge genutzt wird, um ebendiese nach allen Regeln der Kunst einzuführen, war der Inbegriff von einem „unerwarteten Schritt“ oder eben ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr das Format darauf ausgelegt ist, nicht zu gefallen. Mit Gewissheit lässt sich dies selbstredend nicht sagen, allerdings hätte ein einfaches „Weiter so“ früher oder später die Fans vermutlich nicht so glücklich gemacht, wie sie es sich erhofft hatten, denn früher oder später hätte man sich gefragt, wann diese ziellosen Menschen endlich erkennen, dass sie nicht ewig wegrennen können.


Bonnie (Naomi Ackie), die durch ihre spezielle „Beziehung“ zu Clive, stimmig in die Handlung integriert wird, ist für diese Aufgabe so gut geeignet, weil ihr Verhalten so ungewöhnlich, so irritierend und gelegentlich gar verstörend ist – je länger man diese Namen liest und dann noch bedenkt, was Alyssa und James alles angestellt haben, umso weniger ist man dazu in der Lage, das wirklich angenehm unaufdringliche Easter Egg zu übersehen. Mit dem Neuzugang unterstreichen die Macher, dass für sie eines der zentralen Themen von «TEOTFW» auch die Beschäftigung mit der Frage sein soll, inwiefern man wirklich das Produkt dessen ist, was man erlebt hat, wie viel Einfluss man darauf hat, wer man wird und vor allem auch die mit der, ob man sich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens noch ändern kann. Hat man dies im Hinterkopf, sieht man im „Aufwärmen“ einzelner Elemente aus Staffel 1 auch nicht mehr das platte, einfallslose und uninspirierte Wiederholen von Bekanntem, sondern vielmehr einen ersten Beweis dafür, dass man eben nicht in einer Dauerschleife leben muss.

Deshalb steht die Hochzeit auch am Anfang. Das „Bis dass der Tod euch scheidet“, das im Kontext der Serie sowieso besser zu „Bis dass der Tod euch auf ewig zusammenschweißt und dann irgendwann scheidet“ erweitert werden sollte, benötigt nicht unbedingt eine Feier, auch kein Kleid oder Geschenke, sondern lediglich die Gewissheit, dass zwei Personen im „Wir“ das Fundament erkennen, auf dem nach und nach ein vermehrt von Positivem erfülltes Leben entstehen kann. Eines, wo es okay ist, sich manchmal nicht okay zu fühlen, nicht weiter zu wissen, Zeit zu brauchen oder um Hilfe zu bitten. Dafür braucht man jedoch manchmal einen Schubs in die richtige Richtung und ein paar Um- und Irrwege sowie ein paar Sackgassen – und die hat man in der Regel ebenfalls nicht eingeplant respektive erwartet.

Was wohl auch nicht viele erwartet hatten, sind die abermals starken Leistungen von Lawther und vor allem Barden, die in dieser Serie mit einem enorm reduzierten Spiel überzeugen – wie auch Ackie, die einige Filmfreunde womöglich aus «Lady Macbeth» kennen –, weshalb es enorm spannend wird, zu sehen, wie sie sich in ihren nächsten größeren Produktionen schlagen, in denen die Drei dann mit Sicherheit ihre Vielseitigkeit so richtig unter Beweis stellen dürfen.

Abschließend lässt sich demnach Folgendes festhalten: Während Staffel 1 eine Flucht vor sich selbst war, dreht sich in Staffel 2 alles um Selbstfindung, den Prozess, dem oftmals eine solche Flucht vorausgeht. Das dramaturgisch so Gelungene an diesem Aufbau ist, dass die „Antwort“, auf die mehrmals angespielt wird, eben doch Menschen sein können, was in Folge 8 noch stark bezweifelt worden ist, und diese „Antwort“ besteht in den drei Worten, die von beiden nie zeitgleich ausgesprochen und dadurch um ein Vielfaches bedeutsamer werden, als sie es sowieso schon sind. Und manchmal sagt das Halten einer Hand, und zwar einer bestimmten, ohnehin mehr als 1000 Worte.

Die Staffeln 1 und 2 von «The End of the F***ng World» sind auf Netflix verfügbar.
09.11.2019 10:30 Uhr  •  Florian Kaiser Kurz-URL: qmde.de/113544