Das Jahrzehnt neigt sich seinem Ende entgegen. Zeit für unseren Kolumnisten, in einem mehrteiligen Berufsstandzwischenfazit zu verraten, wie es um die Filmkritik bestellt ist.
Der Dezember ist da. Und nicht nur irgendein Dezember, sondern der Dezember 2019. Der letzte Dezember der 2010er-Jahre. Nehmen wir diese zum Anlass, nachzudenken: Wo steht die Filmkritik heute, und wo könnte sie noch hingehen?
Teil III: Mehr und mehr Konkurrenz für das geschriebene Wort
Oder: "Halt. Stopp! Jetzt rede ich!"
Filmkritik lebte lange in einer sonderbaren Grauzone zwischen "Monologisieren" und "Dialogführen". Und das sogar im zweifachen Sinne. Da wäre der naheliegende Aspekt, der auf alle Medieninhalte zutrifft, die nicht erst im Social-Media-Zeitalter geboren wurden: Wer einst eine Zeitungskritik über einen Kinofilm geschrieben hat, führte keinen konkreten Dialog mit seiner Leserschaft, sondern betrieb Ein-Weg-Kommunikation – die paar Leserbriefe, die es so gibt, mal ausgenommen. Gleichwohl erhoffte sich die Filmkritik schon damals, dass sie dennoch eine Art dezent implizierten Austausch mit ihrem Publikum eingeht: "Bitte, lasst meine Kritiken nicht an euch vorbeiziehen, sondern vertraut meinen Empfehlungen, und wenn euch meine Empfehlungen gefallen, bleibt mir doch treu." Das brach in den vergangenen Jahren auf. Jetzt, durch soziale Netzwerke, interagieren dagegen zumindest einige Kritikerinnen und Kritiker direkt mit ihrem Publikum.
Doch dieses "Nicht mehr wirklich ein Monolog, aber noch nicht ein Dialog" betraf auch die Filmkritiken selbst: Filmkritiken, egal ob im Print, im Radio, im Fernsehen oder später auch in geschriebenen Onlinekritiken oder in Videokritiken, waren lange Zeit nahezu ausnahmslos Repräsentationen einer einzelnen Meinung. Eine Einzelperson legt ihre Sicht des Films dar – fertig ist die Kritik. Eine Kritik, eine Perspektive. Ausnahmen waren rar und kamen etwa in der Form der US-Kritikensendung «At the Movies» daher, deren Gimmick es war, dass zwei namhafte Kritiker ein und denselben Film gesehen haben – und sich oft die Köpfe eingeschlagen haben.
Gleichzeitig stellt die Filmkritik schon seit jeher eine Art Echokammer der Filmleidenschaft dar: Rezensionen reagieren implizit oder gar explizit auf andere – Film XY kam bisher zu schlecht/zu gut weg, und ich sage euch nun, warum. Oh, dieser Regisseur wurde bisher zu sanft angegangen, lasst mich das ändern. Und so weiter: Kritiken sind zu einem gewissen Grad nicht nur Reaktion auf Filme, sondern auch auf die Filmkritik. Nur, dass dieser Austausch stattfindet, indem eine singuläre Meinung nach der anderen präsentiert wird. Anders gesagt: Filmkritik, der Dialog in Form vieler aufeinander reagierender Monologe.
In den 2010ern nahm aber die dialogartige Form der Filmkritik an Fahrt auf. Kritikerinnen und Kritiker mussten nicht mehr darauf warten, dass ein Fernsehsender ihnen eine Sendung gibt, die auf dem Siskel-und-Ebert-Trittbrett mitfährt. Podcasts und YouTube-Kanäle popularisierten die Filmkritik in Form eines Gesprächs: Mehrere Stimmen begegnen einander in einer Ausgabe und können in Echtzeit aufeinander reagieren.
Wie so oft, gilt auch hier: Es ist eine
andere Form, nicht zwingend eine
bessere oder
schwächere. Die klassische Monologkritik hat den Vorteil, dass sich da eine einzelne Person idealerweise in Ruhe ihre Gedanken gemacht und an ihren Argumentationen und Beobachtungen feilen konnte. Es ist eine konzentrierte Besprechung des Ursprungswerks – jedenfalls im Idealfall.
Eine Dialogkritik derweil ermöglicht es, frei nach dem "2, 3, 4, 5 oder wer weiß wieviel für 1"-Prinzip dem Publikum in einer Review sogleich mehrere Perspektiven zu bieten, und vorzuführen, wie die sich beeinflussen. Überzeugt Gesprächsteilnehmerin A etwa Kritiker B? Entdeckt der Fan des Regisseurs Details, die einem Kollegen, der sich mit seinem Werk noch nicht befasst hat, entgangen sind? Und so weiter … Es ist auf eine gewisse Art und Weise reflektierter, als dass mehr Facetten zur Aussprache kommen, gleichzeitig können die Einzelmeinungen etwas fahriger geraten, da Gedankengänge abgebrochen oder in neue Richtungen gelenkt werden und somit angedeutet bleiben.
Kurzum: Beides ist als Konzept wertig, wie gut oder schlecht etwas ist, hängt wie immer von der Umsetzung ab. Es gibt zum Beispiel Podcasts, die immer besser sind als die geschriebenen Kritiken der Teilnehmer und umgekehrt. Alles fein. Eine gewisse, logistische Herausforderung für diejenigen, die Pressevorstellungen planen, bringt der Aufschwung an Podcasts und Diskussions-Sendungen bei YouTube trotzdem mit sich. Denn nicht jeder Filmpodcastler und nicht jede Diskutantin in Filmdialogformaten ist auch eigenständig in der Filmkritik tätig. Was die logistische Frage aufwirft: Ab wann gestatten wir es einer Person, die stets nur mitdiskutiert, sich aber nie alleine in den Filmdiskurs schmeißt, unsere Pressevorführungen zu besuchen?
Ich habe kein Pferd in diesem Rennen, möchte aber wirklich nicht mit denjenigen tauschen, die das entscheiden müssen. Denn sind sie zu streng, werden sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, nicht mit der Zeit zu gehen. Sind sie zu lasch, werden PVs überrannt, was den Studios nicht gefallen wird, da sie keine Lust haben, Unmengen von Leuten einen Kinobesuch zu schenken. Irgendwo, irgendwie werden sie nahelegen, dass vielleicht die Verteiler wieder ausgesiebt werden müssen. Nun ja: Im Idealfall verschwinden halt nur die faulen Kollegen, die den Job eh mies finden und nur für den Gratiskaffee in Pressevorstellungen gehen. Und wer würde denen schon hinterhertrauern?