Das Kinojahr 2020 beginnt herausragend: «Knives Out» ist ein intelligent eingefädelter, überaus vergnüglicher und toll gespielter Krimi mit großer Starpower.
Filmfacts «Knives Out»
Regie und Drehbuch: Rian Johnson
Produktion: Ram Bergman, Rian Johnson
Cast: Daniel Craig, Chris Evans, Ana de Armas, Jamie Lee Curtis, Michael Shannon, Don Johnson, Toni Collette, Lakeith Stanfield, Katherine Langford, Jaeden Martell, Christopher Plummer
Musik: Nathan Johnson
Kamera: Steve Yedlin
Schnitt: Bob Ducsay
Laufzeit: 130 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Er drehte einen Milliarden-Dollar-Hit, den Sci-Fi-Kritikerliebling «Looper» und die vielleicht beste Serienstunde der 2010er-Jahre, nämlich die Episode «Ozymandias» der Seriensensation «Breaking Bad». Nun schließt Regisseur Rian Johnson an den Anfang seiner Karriere an: In seinem Debüt «Brick» nahm der Filmemacher die Bausteine eines Film noir und verpasste ihnen die Fassade einer unaufdringlichen, kontemporären High-School-Dramödie. Johnsons neuster Film «Knives Out» widmet sich nun einem anderen Subgenre des Kriminalkinos, nämlich dem Entschlüsseln eines rätselhaften Mordfalls im Stile eines Agatha-Christie-Romans:
In der Nacht nach seiner Geburtstagsparty kommt Krimiautor Harlan Thrombey gewaltsam ums Leben. Nicht nur die Polizei ermittelt im mysteriösen Todesfall, auch der angesehene Ermittler Benoit Blanc nimmt sich der Sache an. Ein anonymer Auftrag setzte ihn auf den Fall an. Und so versammelt Blanc die große, wohlhabende Familie des Patriarchen sowie vereinzelte weitere Personen aus seinem Umfeld im verwinkelten Thrombey-Anwesen, um im Laufe sich zuspitzender Verhöre dahinter zu steigen, was zum blutigen Tod Harlans geführt hat …
Wie zuvor schon bei «Brick» folgt Johnson auch in «Knives Out» nicht einfach stur dem Pfad, den seine Inspirationen vorgeben. Ja, «Knives Out» teilt sich einige DNA-Stränge mit Agatha-Christie-Krimiadaptionen wie «Mord im Orient-Express», «Tod auf dem Nil» oder «Mord im Spiegel» oder auch mit an Christie angelehnten Filmen wie «Das Mörderspiel», «Alle Mörder sind schon da» und «Eine Leiche zum Dessert». Da ist das Ensemble an eklektischen Personen, da hätten wir das Oberschicht-Setting sowie den markanten, etwas schrägen Ermittler und, ja, natürlich auch die typische Agatha-Christie-Struktur aus Kennenlernen, Aushorchen, Ausspielen und Auflösen.
Allerdings wandelt Johnson sowohl die ernstgemeinten Krimis ab, auf die er sich bezieht, als auch die Krimi-Komödien, auf deren Schultern «Knives Out» ruht. Einerseits tonal, da sein humorvoller Krimi zwar knallige, gewitzt-schlagfertige Figuren aufweist und hin und wieder Gespräche oder Situationen absurdere Formen annehmen als in geradlinigen Stoffen dieser Art. Allerdings ist «Knives Out» keine solche Farce wie etwa die «Cluedo»-Adaption «Alle Mörder sind schon da»: Johnson erzählt mit Interesse an Wortwitz und pointierter Situationskomik, doch mit noch größerem Interesse an einer packenden, sich wendenden und windenden Erzählung. Und anders als viele Agatha-Christie-Imitatoren versteht er es, dass es einen solchen Krimi enorm bereichert, wenn man ihn auch mit Herz erzählt.
Johnsons Drehbuch aktualisiert die Archetypen, die durch Christie-Werke spazieren, indem es Themen und Typen heutiger Familienclans anschneidet, und macht über diesen Weg auch einige beherzte Statements über das (Un-)Vermögen mancher, menschlich zu handeln. Der Kriminalplot derweil lockert die Formel gekonnt auf, indem Johnson mehrmals die Perspektive verändert, aus der das Publikum das Geschehene einordnet, deutliche Lösungen präsentiert und dann wieder Zweifel an ihnen streut – und auch das "B-Rätsel", wer Blanc angeheuert hat, treibt die Spannungskurve in die Höhe.
Eine Familie wahrer Charakterköpfe
Doch nicht bloß das Skript glänzt, sondern auch die Besetzung: Der Thrombey-Clan ist bis in die kleinsten Rollen klasse gecastet. Das Familienoberhaupt und Mordopfer Halan Thrombey wird von Christopher Plummer («Remember») gespielt und ist eine liebevolle, aber auch rätselhafte und exzentrische Person, die aus den Rückblicken heraus ihren Schatten wirft und mit ihrer markanten Art beeinflusst, wie wir die weiteren Entwicklungen einschätzen. Jamie Lee Curtis («Halloween») spielt als weiblicher Immobilienmogul Linda Drysdale die älteste Tochter Harlans und vollführt einen kurzweiligen Spagat zwischen einschüchternden (und somit verdächtigen) Macken darin, wie sie über sich selbst spricht, und einer entwaffnenden (aber auch leicht zu hinterfragenden) Pseudo-Bescheidenheit und einem freundlichen Auftreten.
Curtis' Leinwandehemann Don Johnson («Miami Vice») verkörpert derweil den großväterlich in Erscheinung tretenden, doch durch und durch arroganten und unsensiblen Erzkonservativen, der sich auf sein vermeintliches Geburtsrecht ordentlich etwas einbildet. «Hereditary»-Mimin Toni Collette gibt eine glaubwürdige, aber auch vergnüglich zugespitzte Karikatur einer Lifestyle-Influencerin ab, «Tote Mädchen lügen nicht»-Star Katherine Langford tänzelt als Harlans Enkelin auf einem schmalen Grat zwischen warmherzig und ignorant, während Jaeden Martell («Es») in seinen wenigen Szenen einen zielgenauen Seitenhieb auf schmierige Internet-Trolle abgibt. Michael Shannon («Nocturnal Animals») derweil changiert auf beeindruckende Weise zwischen wissentlich gewitzt, ungewollter Lachnummer und dramatisch-einschüchternder Präsenz, wenn er Walter Thrombey, Harlans jüngsten und erfolglosesten (aber trotzdem sehr gut situierten) Sohn mit einer seltsamen, aber glaubwürdigen Mischung aus Duckmäusertum und Exzentrik erfüllt.
All das wird aber von Chris Evans überschattet: Der «Captain America»-Darsteller nutzt seine erste große Rolle nach dem Ende von Marvels gigantischer Infinity-Saga, um sich von seinem Saubermann-Image loszureißen. Mit fast schon aus der Leinwand siffender Spielfreude schmeißt sich Evans in die Rolle des schwarzen Schafs (oder eher des eigenwilligen Bocks) der Thrombey-Familie. Evans' Figur Ransom Thrombey kreuzt mit selbstgefälligem Grinsen und vor Abscheu stechenden Augen auf, schmeißt sich selbstverliebt in einen Sessel und keucht arrogant gegen seine Familie. Evans gelingt es, Ransom dabei als jemanden anzulegen, bei dem man sofort versteht wieso diese anstrengende, uneinige Familie sich wenigstens darauf einigen kann, ihn als den schlimmsten Auswuchs des Familienstammbaums zu betrachten, der aber gleichzeitig ein zynischer Quell der Freude für uns im Publikum ist.
Denn Evans' spürbare Freude an dieser Rolle und die Art und Weise, wie er Ransoms Selbstverliebtheit spritzig und quirlig, statt ätzend und nervig anlegt, sorgen dafür, dass der in kuscheligen, modischen Pullis gekleidete Lausbube/Mistkerl für allerhand genüssliche Gags sorgt. Und das macht Ransom auch zu einer schwer einzuordnenden Person: Ist er wirklich ein unverbesserlich mieser Mensch? Das schwer verbesserbare Produkt einer miesen Familie? Oder ist er in Wahrheit doch ganz gut drauf und wir werden in unserem ersten Urteil durch die Sicht der restlichen Thrombey getrübt?
Ein Befreiungsschlag für eine unterschätzte Schauspielerin
Die Sensation in «Knives Out» ist jedoch die kubanische Schauspielerin Ana de Armas. Unter anderem aus «Blade Runner 2049» und «War Dogs» bekannt, gibt die bisher nur selten intensiv geforderte Mimin in diesem Krimi eine regelrechte Sensationsleistung ab. In der Rolle der Krankenpflegerin Marta Cabrera spielt sie eine junge Frau der Widersprüchlichkeiten. Marta ist hin- und hergerissen, tritt aber mit der großäugigen, kleinlauten Unauffälligkeit einer gutmütigen grauen Maus auf.
Martas Familie ist in die USA immigriert und ist in ihrer neuen Heimat voll und ganz angekommen. Trotzdem merkt man Marta an nervösem Augenzucken oder verschreckten, scheuen Blicken an, wie bewusst sie sich dem Umstand ist, dass sie zwar (je nach Situation) nett angenommen oder stillschweigend geduldet, aber von vielen nie als US-Amerikanerin akzeptiert wird. Selbiges gilt für Martas Position im Thrombey-Clan: Einerseits agiert sie komfortabel, sie bewegt sich wie selbstverständlich durch das Anwesen und interagiert mit vielen, als sei sie eine gute Bekannte, statt bloß eine Altenpflegerin. Ana de Armas gibt ihrer Figur in Rückblenden, die vor dem rätselhaften Mordfall spielen, keinen steifen, "geschäftigen" Gestus, sondern einen fürsorglichen, weitestgehend eingegliederten Habitus.
Und dennoch bleibt da eine körperliche Distanz – Marta rückt nicht so dicht an die Thrombeys heran wie sie und andere Partygäste es untereinander tun, und immer wieder entflieht ihr ein "ertappter" Blick – ein mit einer sich zurücknehmenden Kopfbewegung verbundener Augenaufschlag, der auszudrücken vermag "Moment, du bist hier, weil du arbeitest" oder auch "Der Person gegenüber sollte ich mich zurückziehen". In den gegenwärtigen Szenen, also in denen, die während der Tätersuche spielen, ist de Armas sogar noch stärker als in den Rückblenden:
Die Aktrice vermittelt mit Leib und Seele, wie unwohl sich Marta damit fühlt, in dieser angespannten Stimmung auf einem Platz mit den Thrombeys zu hocken, da sie als Nicht-Familienangehörige gewissermaßen eine Außenstehende ist, aber andererseits als Harlans Pflegerin eine engere Bindung zum Toten hatte als manche seiner Verwandten. Durch kleine Kratzer in der Stimme und durch Unsicherheiten in ihrer Haltung macht de Armas spürbar, wie Marta unentwegt tief in Gedanken damit hadert, ob sie nun ihre Distanz zur Dynastie oder ihre Nähe zu Harlan hervortun soll, um diese Stresssituation unbeschadet zu überstehen, und wie sie sich bemüht, dass ihr diese Überlegungen nicht anzusehen sind, um nicht noch mehr Animositäten von den aggressiveren Thrombeys auf sich zu ziehen.
Jeder Krimi braucht einen sehenswerten Ermittler, und in der Hinsicht liefert «Knives Out» ebenfalls ab: «James Bond»-Star Daniel Craig glänzt in der Rolle des kaum einzuschätzenden Detective Benoit Blanc, der Detective Troy Archer (Keith Stanfield) und Trooper Wagner (Noah Segan) in diesem Fall unter die Arme greift. Während Archer und Wagner glauben, eine einfache und zutreffende Lösung gefunden zu haben, verkompliziert Blanc alles. Sich zunächst geheimnisvoll gebend und dann plötzlich, scheinbar aus einer Laune heraus, sich zumindest manchen der Verdächtigen gegenüber öffnend, ist der begeisterungsfähige Kenntucky-Privatermittler eine schillernde, kuriose Persönlichkeit, die versucht, als alltäglich und elegant durchzugehen.
Das Ergebnis ist eine ansprechende Ermittlerfigur, die den Film nicht an sich reißt, aber amüsant zusammenhält und bei der man nie so recht weiß, ob sie sich überschätzt oder wir sie unterschätzen. Craig flößt Blanc jede Menge Leben ein, ohne dabei zu dick aufzutragen – es sei denn, ein abrupter Impuls der Exzentrik hat das Potential, eine sonderbare in eine wundervoll-skurrile Situation zu verwandeln. In genau diesen Momenten versteht Craig es, Blancs Eigenheiten plausibel, doch drastisch aufzudrehen. Und hinter all dem verbirgt sich noch immer eine Person, die mit Herzblut an ihre Arbeit herangeht, so dass das Ende des Films gewichtigere Züge annimmt als bloß das aufzudecken, was es noch aufzudecken gilt.
Stilsicher
Perfekt abgerundet wird der raffiniert konstruierte und spitze gespielte Krimi durch eine herrliche Bild- und Klangästhetik. Allein schon der Hauptschauplatz rechtfertigt einen Kinobesuch: Szenenbildner David Crank («The Master») erschuf eine oberflächlich normal aussehende Altherrenvilla, die aber im Detail vor schrägen, ungewöhnlichen Einfällen nur so vibriert. Das geräumige Anwesen im Gothic-Revival-Stil, dessen Zinntürme zudem an mittelalterliche Burgen erinnern, ist rappelvoll mit exzentrischen Dekoelementen und erzählt zudem durch seine Innenarchitektur seine eigene Geschichte, die dem Geschehen in «Knives Out» unausgesprochen weitere Textur verleiht:
Sieht das Erdgeschoss noch gedeckt und üppig aus, wird das Thrombey-Anwesen Stock für Stock merkwürdiger, verspielter und auf chaotische Weise heimeliger – so, als würden wir uns Schicht um Schicht vom öffentlichen Bild seines Besitzers hin in sein tiefstes Innerstes arbeiten. Mit makaberem Nippes, altbackenen Brokatstoffen, schwerem Messing und bizarren bis einschüchternden Deko-Requisiten ergibt sich eine Art visuelles Psychogramm Harlans, das zudem die Spannung schürt, da sich durch Johnsons Regieführung die Frage aufwirft, ob all der Trödel, Tinnef und Schnickschnack "nur" atmosphärisches Grundrauschen ist oder dem aufmerksamen Publikum wichtige Hinweise für die wahrhaftige Antwort auf das «Knives Out»-Rätsel liefert.
Die von Jenny Eagan («Maniac», «True Detective») gestalteten Kostüme derweil sind vortreffliche Spiegelbilder der Figuren. Sei es, dass der als Gentleman-Schnüffler beschriebene Blanc seine schrill-stolze Südstaatenader mittels blumiger Stoffe unter seinem schlicht-feinen Anzug durchschimmern lässt. Oder dass sich der ebenso verwöhnte wie rotzige Ransom in edelsten Pullovern und Mänteln hüllt, die jedoch völlig zerknautscht sind, weil ihm nichts an der Pflege seiner kostspieligen Errungenschaften liegt. Oder dass Marta locker-funktional herumläuft, sich aber zugleich mit simplen Mitteln versucht, an die Erlesenheit ihrer Arbeitgeber anzupassen: Die Kostüme in «Knives Out» erzählen die Hintergründe der Figuren feingliedrig weiter.
Eingefangen wird das von Kameramann Steve Yedlin («Star Wars – Die letzten Jedi») und Johnson in akkurat durchgeplanten Bildern, die es vermögen, die Größe und Ausdruckskraft des Schauplatzes eindrucksvoll einzufangen und dennoch das Auge des Publikums auf die Feinheiten im Schauspiel zu lenken. Wiederholt verstehen es Yedlin und Johnson, durch eine minutiöse Bildkomposition entweder eine überspitzte Szene zu erden oder auch den Realismus der Situation gewieft ins Stilisierte zu übertragen – und mehrmals verstecken sie durch visuelle Gegenüberstellungen kleine, zielsichere Pointen im Bild. Zusammengehalten wird das durch einen köstlich-klassischen Score des Komponisten Nathan Johnson, der vor allem auf einen reichhaltigen Streicherklang setzt, den er behände zwischen atmosphärisch-dramatisch und keck-leichtgängig wechseln lässt.
Fazit: Dank «Knives Out» beginnt das Kinojahr 2020 großartig: Dieser gewitzte, schlau konstruierte und stark gespielte Krimi im Agatha-Christie-Stil ist hervorragende, kluge Filmunterhaltung.
«Knives Out» ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen.