Als 2005 eine lebenslustige junge Türkin von ihrem Bruder in Berlin auf offener Straße erschossen wurde, ging ein Schock durch die Republik. Die ARD hat diesen Stoff erstaunlich mitreißend verfilmt.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Almila Bagriacik als Aynur
Rauand Taleb als Nuri
Meral Perin als Deniya
Mürtüz Yolcu als Rohat
Armin Wahedi als Aram
Aram Arami als Tarik
Merve Aksoy als Shirin
Hinter der Kamera:
Produktion: Vincent TV GmbH, ARD, Hessischer Rundfunk, Norddeutscher Rundfunk, Rundfunk Berlin-Brandenburg, Südwestrundfunk und Westdeutscher Rundfunk
Drehbuch: Florian Oeller
Regie: Sherry Hormann
Kamera: Judith Kaufmann
Produzentin: Sandra Maischberger„Sie könnte ich sein“, setzt die fiktionalisierte Version von Hatun Aynur Sürücü (Almila Bagriacik) in einer Voice-Over-Passage ein, die über unbedarfte, mal verschleierte, mal unverschleierte junge Frauen gelegt wird, während die sich unbekümmert ihren Weg durch das Getümmel auf Berliner Straßen bahnen, bis die Stimme bald korrigiert: „Aber nein. Das bin ich.“ Da ist die Bildsequenz schon bei Archivaufnahmen vom Tatort angekommen, an dem Sürücü im Februar 2005 von ihrem Bruder ermordet wurde, nachdem sie den unterdrückenden Lebensstil verlassen hatte, den ihr die erzkonservative Familie hatte aufbürden wollen. „Der erste Ehrenmord, der so richtig fett Presse hatte“, präzisiert Bagriaciks Stimme, bevor sie den Zuschauern die Arbeitsteilung der nächsten eineinhalb Stunden diktiert: „Ihr sitzt vor mir und hört zu.“
Für einen außenstehenden westlichen Betrachter folgt nun die perverse Geschichte einer jungen Frau, die von ihrer Familie systematisch tyrannisiert wird. Als Teenager nehmen sie die Eltern aus der Schule und schicken sie nach Istanbul, wo man sie mit einem Cousin verheiratet, den sie nie zuvor gesehen hat. Nachdem ihr der prügelnde Ehemann ein Jahr lang das Leben zur Hölle gemacht hat, kehrt sie hochschwanger nach Berlin zurück – und immerhin erbarmt sich der Vater und nimmt seine Tochter wieder in den Schoß der Familie auf, sofern sie die „traditionelle“ Abbitte leistet und das faktische Ende der Ehe „betrauert“.
Die auch physisch beengten Lebensumstände – zehn Personen in einer Vier-Zimmer-Wohnung – fordern schließlich das Undenkbare: Als Einzige der im Saft der Tradition vor sich hin gärenden Familie erkennt Aynur die Notwendigkeit, mit ihrem Sohn auszuziehen. Aus der Notwendigkeit einer eigenen Bleibe wird eine Befreiung: Sie macht die Schule fertig, beginnt eine Lehre zur Elektroinstallateurin, trägt kein Kopftuch mehr, geht feiern, verliebt sich. Oder mit den Augen ihrer Familie gesehen: Sie wird zur deutschen Hure.
Bald erhält sie regelmäßig Drohanrufe, wird auf der Straße bedrängt und von ihrer Mutter emotional erpresst, zu den reaktionären Sitten und Traditionen zurückzufinden. Doch einmal in entfesselter Freiheit gelebt, gibt es kein Zurück mehr in ein Umfeld, wo man zum Hijab gezwungen wird und nur in Begleitung das Haus verlassen darf.
Und gleichzeitig ist da noch die andere Seite, die Autor Florian Oeller, Regisseurin Sherry Hormann und Hauptdarstellerin Almila Bagriacik so klug herausstellen: Aynur fühlt sich ihrer Familie weiterhin – und trotz allem – emotional verbunden, liebt ihre Brüder, Schwestern und Eltern innig, und wünscht sich eine Normalisierung der familiären Verhältnisse – keine Flucht nach Köln oder Freiburg, wie ihr Umfeld ihr immer wieder anrät, um den Schikanen in Berlin zu entkommen. Mit seiner klug kalkulierten Dramaturgie und der diffizilen, feinsinnigen Figurenführung macht «Nur eine Frau» diesen Zwiespalt plastisch und erfahrbar.
Ebenso unerbittlich verweist uns der Film immer wieder auf den Umstand, dass wir als kulturell „Außenstehende“ auch bei größter Ambition nur begrenzten Zugang zur Gefühls- und Erfahrungswelt dieser Figuren finden können. Immer wieder wechselt «Nur eine Frau» über ganze Passagen hinweg in nicht untertiteltes Türkisch, verschränkt seine Nacherzählung mit realen Archivbildern und –aufnahmen, und verdichtet, um abstrakte Einflüsse von außen wie staatliches Handeln konkreter herausstellen zu können, mehrere reale Personen zu einer fiktiven.
Dass der Film dabei die Perspektive des „Opfers“ wählt (auch wenn er Sürücü nicht als solches verstanden wissen will), eröffnet zum einen die Möglichkeit, der diffizilen Erfahrung zwischen Liebe zur Familie und Bedrohung durch selbige nachzufühlen, lässt aber zum anderen – trotz aller redlichen Bemühungen von Autor, Regisseurin und Darstellern – die Motive des/der „Täter(s)“ nur bedingt erfahrbar werden: Eine psychologisch plausible Antwort auf eine der Kernfragen im „Fall“ Sürücü – Wie kann ein Mensch aus haarsträubenden abstrakten Gründen wie „Tradition“ zum Mörder der geliebten Schwester werden? – bleibt der Film selbstredend schuldig.
Dies ist auch dem Umstand zuzuschreiben, dass immer wieder die psychologische Ebene verlassen wird, um die Geschichte aus einem eher politisch-kriminalistischen Blickwinkel zu erzählen. Erstaunlich häufig greift Bagriaciks fiktionalisierte Aynur Sürücü in Voice-Overn in den Handlungsverlauf ein, um ihn anhand von vorgelesenen BKA-Kriterien zum „Phänomen“ Ehrenmord verallgemeinernd zu kommentieren. So wird «Nur eine Frau» auch zur Anklage eines umfangreichen Behördenversagens – und noch mehr: zu einer Anklage des Versagens der offenen, pluralistischen, rechtsstaatlichen deutschen Gesellschaft, der es nicht gelungen ist, Sürücü vor den überkommenen – und in letzter Konsequenz mörderischen – Werten zu schützen, die ihr das Leben gekostet haben.
Das Erste zeigt «Nur eine Frau» am Mittwoch, den 29. Januar um 20.15 Uhr. Kinostart war am 9. Mai 2019.