Vor 90 Jahren: Die Premiere von «Menschen am Sonntag»

Am 4. Februar 1930 erlebte der deutsche Film einen dieser Momente, die die Magie des Kinos ausmachen. Es startete ein Film in den Lichtspielhäusern, der die Menschen verzaubern sollte und mit dessen Erfolg niemand auch nur im Ansatz gerechnet hatte. Sein Titel: «Menschen am Sonntag».

„«Menschen am Sonntag» (…) gehört zu den cineastischen Höhepunkten der Weimarer Republik (…) [und] ist soeben in einer schönen Edition mit einigen Extras auf DVD und Blu-ray neu herausgekommen, und hoffentlich werden nun noch mehr Menschen auf das Werk aufmerksam."
Rheinische Post
Das deutsche Kino der 1920er ist geprägt von den Meistern des expressionistischen Filmes. Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Robert Wiene. Namen, die nicht nur in Deutschland bald als Synonym für den Spielfilm als eigene Kunstform stehen sollten. Sie trugen den Ruf des deutschen Kinos weit hinaus in die Welt. Hollywood? Ja, war ein Kaff irgendwo bei Los Angeles, in dem Filme gedreht wurden. Wer Kino aber verstehen wollte, der ging nach Babelsberg oder nach Tempelhof.

Es ist keinesfalls eine steile These zu behaupten, dass in Berlin und Babelsberg überhaupt erst Kino zu einer eigenen Kunstform gedeihen konnte. Nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges, von denen sich niemand vorstellen konnte, dass sie nur das Vorspiel zu einem noch viel größeren Wahnsinn darstellen sollten, lag Deutschland am Boden. Die Politik. Die Wirtschaft. Aber auch die Kunst. Wo stand die Kunst? Viele Künstler hatten sich willig dem Wilhelminismus unterworfen und den Traum eines Deutschen Weltreiches, das von seinen Nachbarn um seinen von Gott gegebenen Platz in der Welt betrogen worden war, durch ihre Arbeit angefeuert. Und jene, die diesen Wahnsinn nicht unterstützt hatten, hatte man auf die gehört?

In jeder Suche, und mag sie aus tiefstem Schmerz geboren sein, ergibt sich eine Chance. Eine Chance, die vergleichsweise junge Regisseure wie Robert Wiene, Fritz Lang oder Ernst Lubitsch ergriffen. Sie waren um die 30, als sie mit ihrer Art des Filmemachens Aufmerksamkeit erregten und das Kino zu einer eigenen Kunstform erhoben. Es ist vollkommen richtig anzumerken, dass Anfang der 1920er Jahre das Lichtspielhaus, das Kintopp, das Bioskop – das Kino jener Tage hatte viele Namen – längst keine Jahrmarktsattraktion mehr wie in den ersten Jahren seines Bestehens darstellte. Doch eine eigene Sprache hatte es noch nicht gefunden. Sicher gab es in den USA einen D. W. Griffith, der mit seinem unsäglichen KuKluxKlan-Fan-Epos «The Birth of a Nation» 1915 nicht mehr und nicht weniger als den Monumentalfilm erfunden hatte. Und ein kleiner Brite namens Charlie Chaplin nutzte seine Popularität als Komiker in kleinen Humorfilmchen, um Kinofilme zu kreieren, die bewiesen, dass das Kino große Geschichten im Kleinen und kleine Geschichten im Großen zu erzählen vermochte. Doch Schnitt, Beleuchtung, das Spiel mit Kameraperspektiven, es waren die deutschen Expressionisten, die neue Formen der Darstellungskunst nicht nur ausprobierten – sondern, was im Kinogeschäft nicht ganz unwichtig ist – bewiesen, dass sich damit die Massen in die Kinos locken ließen. Das Publikum wollte kein abgefilmtes Theater mehr sehen. Das Publikum wollte – das Kino!

Eigentlich nur ein kurzer Moment
Im Grunde genommen endete das Zeitalter des deutschen Kinoexpressionismus bereits wieder Mitte der 1920er Jahre. Aus heutiger Sicht würde man sagen, Wiene, Lang und Co. hatten sich mit Filmen wie «Das Cabinet des Dr. Caligari», «Der letzte Mann», «Der Golem, wie er in die Welt kam» und nicht zuletzt «Nosferatu, eine Synfonie des Grauens» ausgetobt und viele Türen für andere Filmemacher geöffnet.

Wer heute das deutsche Kino jener Zeit betrachtet, ob Drama, Komödie, Zukunftsfilm, findet eine sehr starke Stilisierung im Spiel der Darsteller. Einerseits ist dies der deutschen Theatertradition geschuldet, einem Sprechtheater. In Ermangelung an der Sprache im Stummfilm, musste das Wort durch Gesten ersetzt werden. Hier hat das deutsche Kino eine sehr eigene, stilisierte Sprache entwickelt, die sich vom amerikanischen Kino unterscheidet. Ihm liegt eine Schwere und Ernsthaftigkeit inne, die den Schauspieler fast schon zu einer Ikone erhöht. Das gilt auch für die Filme der Neuen Sachlichkeit, die sich als Gegenbewegung zum Expressionismus im Kino verstand. Dieses Wirklichkeitskino wollte die Welt abbilden, wie sie war. Ihre Geburtsstunde wird gemeinhin mit dem Film «Schlagende Wetter» 1923 datiert, dem ersten Ruhrgebietsfilm, der das Leben der Bergleute porträtiert. Aber auch wenn diese Filme eher klare Bilder bevorzugten und das Kino als politischen Ort betrachteten: Seine deutsche Theatertradition konnten auch diese Filme nicht verleugnen. Und, wie gesagt, für die Neue Sachlichkeit gab es kein Kino, das die Menschen unterhalten wollte. Das Kino war für sie eine Erziehungsanstalt.

Geduld bitte!
Was das alles mit «Menschen am Sonntag» zu tun hat? Eine Menge. Doch Geduld. Mit dem Einzug des Tons in die Kinosäle, reagierten die Studios darauf vergleichsweise gut vorbereitet. Obschon, wie oft und gerne kolportiert wird, es durchaus Filmschaffende gab, die durch die Sprache das Wesen des visuellen Mediums Film bedroht sahen, hatten auch schon damals die Studios das letzte Wort. Und in deren Chefetagen erkannte man sehr schnell, dass die Entwicklung nicht aufzuhalten war. Das Publikum wollte seine Stars jetzt auch hören. Das Ende des Stummfilms war besiegelt.

An genau diesem Punkt machten ein paar junge Filmemacher alles anders. Sie brachten zu einem Zeitpunkt einen Stummfilm in die Kinos, als der Stummfilm nicht nur bereits gestorben war: Er lag längst verfaulend in seinem fürs Zelluloid viel zu nassen Grab. Und dann filmten sie Menschen auf der Straße, im Alltagsleben, dort – wo das Leben stattfand. Aber das alles ohne den edukativen Charakter der Neuen Sachlichkeit. Sie drehten einen Film über das Leben.

Das schöne Leben.
Ohne Stars – ja nicht einmal mit richtigen Schauspielern.
Solch ein Film konnte kein Erfolg werden.
Dennoch standen die Menschen Schlange, um ihn zu sehen.

Viele Geschichten und noch mehr Spekulationen
In ihrem Buch „Siodmak Bros. - Berlin – Paris – London – Hollywood“, versuchen die Herausgeber Wolfgang Jacobson und Hans Helmut Prinzler den Film «Menschen am Sonntag» einzuordnen. Was ist dieser Film eigentlich? Ist er ein halber Dokumentarfilm? Hatte er ein echtes Drehbuch? Was ist an diesem Film spontan entstanden? Was ist Inszenierung? Um es kurz zu machen: Sie finden auf all diese Fragen keine Antwort. Was für diesen Film nicht ungewöhnlich ist. Es gibt viele Geschichten, die sich teilweise widersprechen und die vor allem mit denen zu tun haben, die an ihm mitgearbeitet haben, den Männern hinter der Kamera. Meinungsstarken Männern. Schon seine Produktionsgeschichte lässt sich nur bruchstückhaft rekonstruieren, da die Produktionsfirma „Filmstudio 1929“ nicht lange bestand. Diese hatte Moriz Seeler gegründet, ein bekannter Theatermacher, der mit Brecht gearbeitet hatte und in der Berliner Theaterszene als ein begeisterungsfähiger Hans Dampf in allen Gassen galt. Nur mit dem Kino hatte er nichts zu tun. Sicher kannte er einige Filmemacher. Aber das Kino war nicht die Welt dieses Mannes, den die Nazis 1942 ins Baltikum verschleppten, wo sich seine Spur verliert.

Wahrscheinlich hat er die Firma, die nur diesen einen Film produzieren sollte, lediglich im Auftrag des Filmproduzenten Seymour Nebenzal gegründet. Auch Nebenzal, der sich in Deutschland Nebenzahl schrieb, war erst 32 Jahre alt – aber ein Kinoproduzent durch und durch. Nebenzal, in New York geboren, aber deutscher Staatsbürger, verdiente bereits mit Anfang 20 als Bankier ein kleines Vermögen, das er in die Nero Film investierte, seine Filmfirma, die in den 1920er Jahren zum Beispiel Harry Piel zum Kinostar machte – und ganz nebenher ein Genre erfand, das sich heute größter Beliebtheit erfreut: Den Actionfilm (damals Sensationsfilm genannt). Um neben den großen Studios – also letztlich der Ufa – bestehen zu können, reichte Erfolg alleine nicht; daher brachte er die Nero Film an die Börse. Mit Dramen, Sensationsfilmen und Komödien verdiente er manch eine Reichsmark. Und mit «M – Eine Stadt such einen Mörder» produzierte er eines der wohl ikonischten Werke des deutschen Kinos überhaupt.

Das Problem: Als Aktiengesellschaft war die Nero Film gegenüber den Anteilseignern verantwortlich. Es war Nebenzal demnach nur schlecht möglich, einen Film für ein paar filmverrückte junge Männer ohne Namen zu produzieren, von denen noch nie jemand Regie geführt hatte. Es ist nicht so, dass sie keine Erfahrung gehabt hätten. Sie alle arbeiteten in der Filmbranche. Aber keiner von ihnen hatte Erfahrungen als Regisseur und dann wollten sie auch noch totale Unabhängigkeit von einem Studio. Das größte Problem für Nebenzal aber stellte vermutlich die Tatsache dar, dass zwei der jungen Filmemacher seine Cousins waren, die seinen Vater dazu überredet hatten, ihr Projekt zu unterstützen. Selbst wenn Nebenzal die Nero Film leitete: Anteilseigner mögen Vetternwirtschaft nicht. Ob er Seeler ein Geschäft vorschlug? Ob sie befreundet waren? Wer weiß! Seymour Nebenzal agierte auf jeden Fall unabhängig von seiner eigenen Firma als Produzent. Ob er selbst Geld in die Produktion steckte? Ob er die Firma nur gründete, um sie bei Verlust von der Steuer abschreiben zu können? Ansprechpartner seiner Cousins war auf jeden Fall ihr Onkel Heinrich, Seymours Vater. Nebenzals Cousins hießen übrigens Robert und Curt Siodmak.

Giganten des Kinos!
In der Legende heißt es, die Idee zum Film sei an einem Sonntagnachmittag in einem Café entstanden, wo Robert Siodmak mit einem Freund, einem jungen, ambitioniertem Autor namens Samuel Wilder die Menschen beim Flanieren beobachtete. Als Autor nannte sich Samuel übrigens Billie. Billie Wilder. Hier noch mit „ie“. Als die Idee Konturen annahmen, kam Curt mit an Bord und dann waren da noch zwei ihnen bekannte Filmverrückte, die unbedingt mitmachen mussten: Der Bühnenbildner Edgar G. Ulmer und der angehende Kameramann Fred Zinnemann.

Billy Wilder. Fred Zinnemann, Edgar G. Ulmer. Robert Siodmak. Das sind keine Namen, die Filmgeschichte geschrieben haben. Ihre Namen sind Filmgeschichte. Dazu hat Curt Siodmak als Autor einige, nun ja, interessante Spuren hinterlassen.

In ihrem bereits erwähnten Buch „Siodmak Bros. Berlin – Paris – London – Hollywood“, sprechen Wolfgang Jacobson und Hans Helmut Prinzler wörtlich von einem „ (…) Gestrüpp der Legenden, [welches] inzwischen diesen Film überwuchert hat.“ Eines ist auf jeden Fall klar: Im Gegensatz zu dem Film, der das Leben feiert, sind sich die Macher hinter der Kamera irgendwann an die Gurgel gegangen. Und der erste, der hochkant aus der Produktion hinausgeworfen wurde, dessen Name ist bislang nicht einmal genannt worden. Rochus Gliese. Der erste Regisseur des Filmes.

Wir neigen zum Vergessen
Wir schreiben das Jahr 2020, «Menschen am Sonntag» ist vor 90 Jahren in die Kino gekommen. Und nun ganz ehrlich: Wer kennt diesen Film? Der Cineast neigt dazu, seine Welt als die einzige Welt zu betrachten. Für Cineasten ist das Kino eine Welt der 1000 Geschichten. Dass es jenseits des Kinosaals Menschen geben kann, die einen Film wie «Menschen am Sonntag» nicht kennen, nie von ihm gehört haben – von einem der wichtigsten Werke des deutschen Kinos der Zeit zwischen 1920 und 1933? Das, … das ..., das geht doch nicht!

Schauen wir der Wahrheit ins Gesicht. Filme sind immer Kinder ihrer Zeit. Es gibt eine Handvoll Monolithen, die aus dem Meer der Vergänglichkeit herausragen und als zeitlose Werke über ihre Entstehungszeit hinaus Bestand haben. «Metropolis» ist ein solches Meisterstück. «Citizen Kane». «Casablanca». «Krieg der Sterne». Aber dann wird die Luft auch schon sehr dünn.

So fallen Filme wie «Menschen am Sonntag», so bedeutend sie vielleicht zu ihrer Zeit gewesen sein mögen, irgendwann dem Vergessen anheim. Dieses Vergessen schreitet fort, je älter ein Film wird und je mehr er sich von unseren Sehgewohnheiten unterscheidet. So viele Worte schon über Entstehungsgeschichten und Namen, aber noch kein einziges Wort über die Handlung? Um was geht es denn nun in «Menschen am Sonntag»? Dies ist der Moment des Erstaunens. «Menschen am Sonntag» erzählt die Geschichte von vier Menschen, die einen Sonntag am Wannsee verbringen. Ja. Das ist die Geschichte. Doch wer hat jemals behauptet, dass ein wunderschöner Film das große Drama erzählen muss? Oder dass ein Film nicht poetisch und fesselnd sein kann, wenn er nicht mindestens auf die Frage nach dem Sinn des Lebens eine Teilantwort zu geben vermag?

Im Grunde genommen besteht das Ensemble aus fünf Figuren. Da ist Wolfgang, ein Weinverkäufer, der am Bahnhof Zoo zufällig die junge Christl erspäht. Er beginnt mit ihr einen humorvollen Flirt, Christl lässt sich auf das Spiel ein und sie verabreden sich zu einem Spaziergang am Wannsee. Wolfgangs Nachbar ist Erwin, ein Taxifahrer, der mit Annie zusammenlebt. Ihre Beziehung ist schwierig. Annie und Erwin streiten viel. Schließlich ist da Brigitte, die Schallplattenverkäuferin. Eine Freundin von Christl. Christl bietet Brigitte sie an den Wannsee zu begleitet. Wolfgang erscheint zum Spaziergang mit seinem Nachbarn Erwin – ohne Annie.

Man geht zusammen baden, man hört Musik von Brigittes Schallplattenspieler, schließlich kommt Wolfgang Brigitte näher, zum Verdruss Christls. Ach ja, und zwischendurch flirten die Männer auch noch mit anderen Frauen und essen Kartoffelsalat.

Ja, das ist wirklich die Geschichte. Jedoch ist es nicht die Geschichte, die diesen Film trägt. Oder zumindest nicht nur. Es sind die Bilder. Da sind die S-Bahnen, die der Stadt Tempo verleihen. Da sind die Droschken, die bereits hier längst aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Mal zeigt die Kamera totale Einstellungen und fängt Bilder einer pulsierenden Stadt ein. Dann ist sie wieder intim, richtet ihren Blick auf die Menschen. Auf den Vater, der seinem Sohn an einem Brunnen robust dem Mund trocken rubbelt. Auf Brigitte, die am Schaufenster eines Elektroladens steht und mit kindlicher Begeisterung diesen neuen Plattenspieler entdeckt, den sie sich von ihrem kleinen Verkäuferinnengehalt nun endlich leisten kann. Eine Leichtigkeit umweht die Inszenierung, die wie ein frischer Lufthauch an einem warmen Sommertag ein Lächeln ob der unerwarteten Abkühlung erzeugt. Wobei sich die Frage stellt: Was ist inszeniert, was sind Zufallsbilder, eingefangen in den Straßen Berlins, die später in den Film montiert wurden?



Seymour Nebenzal mag seinen Cousins einen Rahmen geschaffen haben, in dem sie arbeiten konnten, aber aus den monetären Angelegenheiten hielt er sich, obwohl ein durchaus vermögender Filmproduzent, heraus. Wenn Robert Siodmak Geld wollte, musste er mit seinem Onkel, Seymours Vater, sprechen. Und der war ein Kaufmann, der für seine Zuwendungen im Gegenzug etwas sehen wollte. So fehlte es der Produktion stetig an Geld und hinter der Kamera flogen die Fetzen.

Das erste Opfer
In seinen Erinnerungen „Zwischen Berlin und Hollywood“ erzählt Robert Siodmak, er habe immer Regie führen wollen. Aber Edgar Ulmer, der als Bühnenbildner immerhin schon im Stab Fritz Langs gearbeitet hatte, schlug schließlich vor, den in Kinokreisen bekannten Filmarchitekten Rochus Gliese als Regisseur zu holen. Ulmer war mit Gliese offenbar freundschaftlich verbunden, außerdem hatte Gliese bereits mehrere Filme selbst inszeniert. Robert Siodmak stimmte widerwillig zu, da der Name Rochus Gliese das Portemonnaie seines Onkels öffnete. Das Problem: Robert Siodmak wollte Regie führen. Edgar Ulmer wollte Regie führen. Billie Wilder war der Regie auch zugetan. Und Fred Zinnemann auch. Regie war noch nie ein Job für unentschlossene Konsensfetischisten. Ein Regisseur ist am Set eines Filmes als künstlerischer Leiter letztlich für das Gelingen der Produktion verantwortlich. Ein guter Regisseur muss kein Diktator sein. Aber ohne eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit geht es nicht. Vor allem aber gilt das «Highlander»-Prinzip: Es kann nur einen geben. Diverse regieführende Brüderpaare ausgenommen.

Man muss sich einmal vor Augen halten, wer diese jungen Männer einmal werden sollten. Fred Zinnemann hat mit seinem Echtzeit-Western «12 Uhr mittags» rund 20 Jahre nach «Menschen am Sonntag» als Regisseur selbst einen Monolithen der Filmgeschichte erschaffen und im Laufe seiner Karriere vier Oscars erhalten (u.a. für «Verdammt in alle Ewigkeit»); wenn man einen Kurzfilm mitzählt, den er inszeniert hat, für den aber MGM den Goldmann erhielt, sind es sogar fünf. Edgar G. Ulmer mag in seiner Karriere hauptsächlich B-Filme gedreht haben, dann aber wurde er in Frankreich in den 1950er Jahren als ein Filmemacher entdeckt, dessen Schauspielführung, exquisite Kameraarbeit und Ausstattung hoch gelobte wurde, so dass er über den Umweg Frankreich eine verspätete Anerkennung für sein Werk erfuhr. Und Billy Wilder hat 1959 «Manche mögen's heiß» gedreht, eine der besten Komödien aller Zeiten. Seine insgesamt sechs Oscars seien nur am Rande erwähnt. Gerade Wilder ist als Regisseur nicht dafür bekannt gewesen, vor Stars oder Produzenten zu buckeln, sondern eine gewisse Freude an der Konfrontation empfunden zu haben. Legendär ist sein Ausspruch "Auszeichnungen und Preise sind wie Hämorrhoiden, früher oder später bekommt sie jedes Arschloch.“ Mehr muss zu ihm wohl kaum gesagt werden.

Man beleidigt keine Ehefrauen
Schließlich, manche Quellen sprechen davon, es sei bereits nach dem ersten Drehtag geschehen, schmiss Robert Siodmak Rochus Gliese raus. Offenbar schwebte Rochus Gliese ein Werk von purem existenziellen Realismus vor, ohne diesen verträumten Blick auf die Stadt, die heute die Faszination von «Menschen am Sonntag» ausmacht. Zumindest Billy Wilder hat sich derart später einmal geäußert. Es mögen aber auch finanzielle Gründe eine Rolle gespielt haben. Gliese soll sehr viel Material verfilmt haben, weshalb die Produktion schon gleich am Anfang in eine finanzielle Schieflage geriet. Nun übernahmen Siodmak und Ulmer die Regie, doch deren Kooperation endete mit einem Knall, als Siodmak Ulmers Ehefrau recht barsch beleidigte. Was er zu ihr gesagt hat, warum er sie beleidigt hat, ist nicht überliefert. Ulmer auf jeden Fall wollte mit Robert Siodmak nichts mehr zu tun haben. Schließlich warf auch Moriz Seeler, den Siodmak in seiner Biografie als Publicity-Mann bezeichnet (eine Umschreibung für Strohmann seines Onkels und Cousins?) das Handtuch.

Robert Siodmak war ein Filmemacher, der von Filmschaffenden als Gentleman bezeichnet wurde. Ein intelligenter, gebildeter Mann, der zuhören konnte, der seine Arbeit akribisch plante und an dessen Sets eine vergleichsweise entspannte Atmosphäre herrschte. Ob die eher gereizte Atmosphäre am Set von «Menschen am Sonntag» damit zusammenhing, dass die beteiligten jungen Männer schlicht überambitioniert waren? Ihre Egos nicht unter Kontrolle bekamen? Kein Geld da war?

Auch Fred Zinnemann hatte irgendwann keine Lust mehr. Es ist nicht wirklich überliefert, inwieweit Zinnemann tatsächlich am Regieführen zu dieser Zeit Interesse zeigte, weshalb seine Rolle vielleicht auch über- und damit falsch bewertet wird. Aber Zinnemann war Absolvent der Ecole Technique de Photographie et de Cinématographie in Paris, der Top-Schule für angehende Kameraleute, er hatte erste kleinere Assistenzen auf seiner Habenseite und offenbar ließ er sich für die Mitarbeit durch die Aussicht begeistern, an der Seite Eugen Schüfftans als Kameramann arbeiten zu dürfen, den Robert Siodmak für den Film hatte engagieren können. Da Zinnemann aber offenbar kaum mehr zu tun hatte als Schüfftans Filmrollen zu wechseln, tauchte er eines Tages einfach nicht mehr bei den Drehbarbeiten auf. Statt dessen kaufte er sich ein Schiffsticket in die USA und startete dort seine große Karriere.

Eugen Schüfftan
Nachdem Ulmer die Brocken hinwarf, traf Robert Siodmak fortan alle künstlerischen Entscheidungen nur noch mit seinem Kameramann. Eugen Schüfftan war nicht nur Kameramann, er war auch ein Tüftler und entwickelte das Schüfftan-Verfahren, bei dem durch den Einsatz von verschiedenen Linsen und dem Aufstellen eines Spiegels in einem 45-Grad-Winkel vor einer Kamera die Möglichkeit entsteht, kleine Modelle ins Bild zu projizieren und wie riesige Kulissen aussehen zu lassen. «Metropolis» ist voll von solchen Szenen, die nur dank Schüfftans Arbeit möglich geworden sind. Obwohl zum Beispiel Fritz Lang immer wieder auf Schüfftans Expertise zurückgriff, wurde er doch immer nur für spezielle Aufgaben engagiert und nie als verantwortlicher Kameramann.

Mag er anfangs das Engagement für «Menschen am Sonntag» angenommen haben, da er bei Siodmak als verantwortlicher Kameramann arbeiten durfte, entwickelte sich zwischen beiden eine echte Freundschaft. Und auch Schüfftan wurde ein großer seines Fachs. Nachdem auch er Deutschland verlassen musste, arbeitete er zunächst in Frankreich, dann ging er nach Hollywood und 1962 erhielt er den Oscar für seine Kameraarbeit für «Haie der Großstadt». In einem Artikel des Berliner Tagesspiegels aus dem Jahr 2000 erinnert sich die damals 90 Jahre alte Darstellerin der Brigitte, Brigitte Borchert-Busch, dass Schüfftan so etwas wie der Ruhepol der Produktion gewesen sei, denn am Ende der Produktion krachte es auch noch laufend zwischen Siodmak und Billie Wilder. Schüfftan glättete dann durch seine ruhige Art stets die Wogen. Ein parallel gedrehter Film über die Dreharbeiten von «Menschen am Sonntag», mit den Machern in den Hauptrollen – wäre vermutlich ein höchst unterhaltsames Werk geworden.

Kinostart
Als der Film am 4. Februar 1930 in den Kinos startete, wirkte er zunächst wie aus der Zeit gefallen. Laut dem von Ilona Brennicke und Joe Hembus 1983 herausgegebenen Filmbuch „Klassiker des deutschen Stummfilms 1910 – 1930“ ist «Menschen am Sonntag» der vorletzte Stummfilm, der in Deutschland in die Kinos gekommen ist. Im September des Jahres folgte mit dem Drama «Lohnbuchhalter Kremke» der Letzte seiner Art. Die Kritik nahm den Film freundlich auf. In ihrem Buch „Siodmak Bros. Berlin – Paris – London – Hollywood“ zitieren Wolfgang Jacobson und Hans Helmut Prinzler eine Kritik aus der Frankfurter Zeitung vom 6. Februar 1930, in der der Autor schreibt: „Die Aufnahmen sind so gut und warm und sommerlich, dass in dem winterlichen Theater auf einmal Sommer wird.“

Es ist wenig darüber bekannt, wie der Film jenseits der großen Städte aufgenommen worden ist. Der Kultur- und Feuillettonjournalismus des Jahres 1930 war nicht nur extrem, sondern de facto ausschließlich auf die Metropolen fokussiert. Hier befanden sich die wichtigsten Bühnen, hier wurden die kulturellen Trends gesetzt. Darin unterscheidet sich das Berlin von 1930 wenig vom Berlin der Gegenwart. Es fehlte jedoch zum einen die Möglichkeit des Austausches (das Telefon war die Spitze der telekommunikativen Technik, die den Redaktionen zur Verfügung stand). Und die Agenturen, die es auch damals schon gab – saßen ebenfalls in den großen Städten, von denen aus sie die „Provinz“ belieferten. So ist der Blick auf den Erfolg von «Menschen am Sonntag» sehr großstädtisch geprägt. Doch in Berlin standen die Menschen Schlange, um den Film zu sehen. Ob Mittags- oder Abendvorstellungen: Über Wochen hinweg waren die Lichtspielhäuser ausverkauft. Aber auch in anderen Städten wie Hamburg oder Frankfurt fand der Film ein dankbares, begeistertes Publikum.

«Menschen am Sonntag» wird, dies wurde an dieser Stelle bereits mehrfach erwähnt, der Neuen Sachlichkeit zugerechnet. Egal, welches Buch man aufschlägt, welchen Artikel man lesen mag: Kein Autor, keine Autorin kommt ohne diesen Hinweis aus. In vielen Texten findet sich auch der Hinweis auf seinen semi-dokumentarischen Charakter, ein durchaus in der Neuen Sachlichkeit beliebtes Stilmittel. So gesehen ist es sicher erlaubt, «Menschen am Sonntag» als einen – sogar einen der wichtigsten – Vertreter dieser Kategorie von Zwischenkriegsfilmen zu betrachten. In einem Punkt aber unterscheidet sich «Menschen am Sonntag» massiv von jenen Filmen der Neuen Sachlichkeit, die das Leben in den Metropolen – vor allem in Berlin – darstellen. «Menschen am Sonntag» ist eine Ode an die Hauptstadt.

Moloch vs. Liebe
Filme der Neuen Sachlichkeit zeigen die Welt der Großstadt als einen Ort der Verdammnis, einen von Freude und Hoffnung gereinigten Moloch, in dem Genuss im besten Fall die eigene Verzweiflung betäuben soll. Das ist «Menschen am Sonntag» nicht. Im Gegenteil: «Menschen am Sonntag» ist in nahezu jeder Szene eine Liebeserklärung an die Stadt und seine Menschen. Selbst die Konflikte, die sich im Rahmen der Handlung auftun – Wolfgangs Flirt mit Christl etwa, aus dem eine Zuneigung zu Brigitte erwächst: Vielleicht ist es ja eine Liebe, die sich hier gefunden hat. Der Film beantwortet die Frage nicht. Er zeigt nur einen Moment des Lebens. Aber dieser Moment ist schön. Unbeschwert. Von den Verpflichtungen des Alltags bereinigt und rein.

So lässt sich der Film heute anschauen. Als Ode. 1930 spielte sicher auch die Tatsache eine Rolle, dass «Menschen am Sonntag» vollkommen unpolitisch ist. Der Sonntag wird gefeiert als das kleine Vergnügen. In beeindruckend (vermeintlich) einfachen Bildern, in denen Kameramann Eugen Schüfftan durch ein das Simple zur Kunst erhebt.

Immerhin blieb Billy Wilder, allen Streitereien mit Robert Siodmak zum Trotz, der Produktion bis zum Ende treu, haderte aber mit dem fertigen Film. In einem Gespräch mit der „Deutschen Filmkunst“ aus der DDR im Jahr 1961 sagte er, er hätte aus der Idee, die Siodmak und er an einem Sonntagnachmittag bei einem Kaffee erdachten, lieber ein Drehbuch für einen Willy Fritsch- und Lilian Harvey-Film weiterentwickelt, den beiden ersten Superstars des jungen Tonfilms. Beide tauchen in dem Film übrigens auf: Als Starpostkarten, die einen Streit zwischen Erwin und Annie nicht überleben. In diversen Analysen wird dies als eine bewusste Provokation der jungen Wilden gegenüber dem Starsystem gedeutet. Ob dies den Tatsachen entspricht? Tatsache ist, dass zumindest Billy Wilders Wunsch Wirklichkeit wurde. Die Macher des Filmes galten nach seinem unerwarteten Erfolg als heiß, bekamen Verträge größerer Studios – und Billy Wilder schrieb 1932 die musikalische Komödie «Ein blonder Traum». Die Hauptrollen spielten: Willy Fritsch und Lilian Harvey.

Ein Flop, den man sehen sollte
Trotz der Entstehungsgeschichte des Filmes, die zu persönlichen Zerwürfnissen führte, fanden Billy Wilder und Robert Siodmak wieder zueinander. Mit Roberts Bruder Curt schrieb Billy Wilder 1931 das Drehbuch zu der Komödie «Der Mann, der seinen Mörder sucht». Der von Robert Siodmak inszenierte Film wurde, trotz eines Heinz Rühmann in der Hauptrolle, ein Flop. Niemand wollte die Geschichte eines unglücklichen jungen Mannes sehen, der zufällig einen Einbrecher kennenlernt und diesem 5.000 Mark verspricht – wenn der ihn umbringt. Die einzige Bedingung: Er muss unvorhergesehen passieren. Kaum aber hat er den Selbstmordauftrag vergeben, lernt er die Liebe seines Lebens kennen, ja, er liebt das Leben – und hat nun ein Problem.

Bedauerlicherweise hat von diesem Film nur ein Fragment mit dem Titel „Joe, der Mann mit der Narbenhand“ die Zeiten überdauert. Eine verkürzte Version des Filmes, mit denen die Produzenten einen zweiten Anlauf in den Kinos wagten und abermals scheiterten. Im Rahmen einer Retrospektive des Werkes der Gebrüder Siodmak auf der Berlinale 1998 wurde der Film dem staunenden Publikum gezeigt. Billy Wilder und Robert Siodmak haben mit diesem weitgehend unbekannten Film schlicht und ergreifend das Genre der Screwball-Komödie erfunden. Man kann es nur vermuten, aber der Humor (und das Tempo, mit dem er vorgebracht wird) war seiner Zeit einfach um Jahre voraus und, da ja auch noch etwas schwarz unterfüttert, vielleicht einen Tick zu angelsächsisch. So nennt die Literatur bis heute als den Film, der als erster typische Screwball-Elemente enthielt - «The Front Page» von Lewis Milestone. Der startete am 4. April 1931 in den amerikanischen Kinos. «Der Mann, der seinen Mörder sucht» startete in Deutschland allerdings bereits am 5. Februar des Jahres. Dass Billy Wilder das Theaterstück, auf dem «The Front Page» basiert, 1974 als «Extrablatt» ebenfalls verfilmte, sei als amüsante Randnotiz vermerkt.

Eine Retrospektive
1998 ehrte die Berlinale Robert und seinen Bruder zwar mit einer Retrospektive, doch geliebt wurde Robert Siodmak in seiner Heimat nie. Geachtet durchaus. 1957 erhielt für seine persönliche Abrechnung mit den Nazis, «Nachts, wenn der Teufel kam», das Filmband in Gold. Die Geschichte eines Serienkillers, der seinem Tun ungehindert nachgehen kann, weil es einen wie ihn im Nationalsozialismus einfach nicht geben darf, besetzt eine Ausnahmeposition im deutschen Nachkriegskino der 50er, das sich ansonsten lieber in Heimatromantik verlor. Siodmak arbeitete nach dem Krieg wieder in dem Land, das viele seiner Familienmitglieder ermordet hatte. Im Gegensatz zu seinem Bruder Curt, der die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß und einmal über Deutschland gesagt hat, nicht er habe Deutschland verlassen, Deutschland habe ihn verlassen, war Robert zu einer Rückkehr bereit. Doch leben konnte er hier nicht mehr. Daher wählte er einen Wohnsitz in der Schweiz.

Warum sich der deutsche Cineast mit Siodmak schwertut? Nicht nur die deutsche Kulturkritik neigt dazu zu verlangen, dass Radikalität und Genialität eine zwingende Einheit bilden zu müssen. Ein genialer Künstler muss radikal sein. Ein Nonkonformist. Ja, Robert Siodmak schuf mit «Menschen am Sonntag» ein Schlüsselwerk des Kinos der Weimarer Republik. 1945 folgte ein zweites Schlüsselwerk, dieses Mal im Psychothrillergenre mit «Die Wendeltreppe». Sein ein Jahr später entstandener Thriller «Rächer der Unterwelt» gilt als Meisterwerk des Noirs. «Der rote Korsar», 1952 entstanden, wird gemeinhin als bester je gedrehter Piratenfilm betrachtet.

Aber genau das ist möglicherweise der Grund, warum sich die Kulturkritik gerade in seiner Heimat windet: In seiner Biografie schreibt er selbst, hätte er sich wie Hitchcock auf ein Genre fokussiert, wäre er vielleicht ebenso bekannt geworden. Wer «Die Wendeltreppe» je im Kino gesehen hat, weiß, dass Siodmak keinen Vergleich mit Hitchcock je hätte scheuen müssen – wäre er diesem Genre treu geblieben. Doch Siodmak war einerseits ein Studioregisseur, der eben im Auftrag auch das abarbeitete, was man ihm auftrug. Und er war ein Mann, der das Kino in all seinen Schattierungen liebte. So beschrieb ihn Curt Siodmak 1998 auf der Berlinale. Curt Siodmak, der als Drehbuchautor vorwiegend im B-Film tätig war und auch exotische Genres wie das Südseedrama mit Geschichten versorgte, reiste, 96 Jahre alt, zur Retrospektive, die natürlich hauptsächlich seinem Bruder gewidmet war. Sein Bruder, sagte er dort, wollte einfach Filme machen. Alle Arten von Filmen.

Ab Ende der 1950er Jahre fokussierte Robert Siodmak seinen Schaffen auf so genannte Publikumsfilme der gehobenen Art. Mit «Affäre Nina B.» verfilmte er einen Roman von Johannes Mario Simmel, mit «Der Schut» reihte er sich in die Liste von Karl-May-Regisseuren ein. Seine Filme waren erfolgreich, die Kritik mochte sie weniger. 1973 starb er nur zwei Monate nach seiner Ehefrau in seiner Schweizer Wahlheimat.

«Menschen am Sonntag» ist unter anderem auf Amazon Prime und YouTube legal als Leihtitel verfügbar. Diese Fassung ist kürzer als die Kinoversion von 1930, die in dieser Form als verschollen gilt. 2005 gelang es dem staatlichen niederländischen Filminstitut diese fast vollständige Version aus Archivbeständen zusammenzufügen.
04.02.2020 12:10 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/115581