Mit einer neuen täglichen Gesprächssendung traut sich Privatsender RTL künftig nachmittags um vier jede Menge. Dass es gleich in der Debütsendung über den Pflegenotstand ging, zeigt sehr deutlich, welchen Kurs die Produktion aus dem Hause filmpool einschlagen möchte. Es zeigt sich aber auch, dass diese Weg nicht frei von Risiko ist.
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2020 ist ein guter Zeitpunkt, weil es in der Gesellschaft großen Gesprächsbedarf gibt.
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Marco Schreyl zur Frage warum Deutschland gerade jetzt eine neue tägliche Talkshow braucht
Rund 28 Jahre ist es her, dass der Kölner Fernsehsender RTL mit
«Hans Meiser» den riesigen Reigen an Nachmittags-Daily-Talks eröffnete. Wer bei Daily Talks vor allem an wilde Streitgespräche inklusive Lügendektortest denkt, der wird dem Anspruch der damaligen Talkshow nicht gerecht. In der Tat war die Show von Hans Meiser eher ein Format, das den heutigen Spätabend-Plauderrunden bei den Öffentlich-Rechtlichen ähnelte; inklusive gesellschaftsrelevanter Themen. Meiser, der in Spitzenzeiten auf mehr als 40 Prozent Marktanteil in der damals neu erfundenen Zielgruppe kam, war kein Einzelfall. In den 90ern befassten sich auch Ilona Christensen und Jürgen Fliege mit großem Erfolg mit ernsthaften Themen.
Nun, im Jahr 2020, ist die Situation in Teilen mit damals vergleichbar. Gewaltige Umbrüche in unserem Land führen dazu, dass gesellschaftspolitische Debatten wieder leidenschaftlicher, lauter und sicher auch extremer geführt werden. Das Internet hat sein Übriges dazu beigetragen: Das Bedürfnis nach Austausch ist vielleicht höher denn je. Über diese Denkstrukturen dürfte auch der erste Ansatz zum neuen RTL-Nachmittagsformat von RTL entstanden sein. Seit Montag präsentiert Marco Schreyl, früher Moderator von «Deutschland sucht den Superstar», einen neuen gesellschaftsrelevanten Talk beim Privatsender – um 16 Uhr, der einstigen Heimat von «Hans Meiser».
Welchen Anspruch die Sendung hat – und welches Risiko sie dafür eingeht – wurde direkt in Folge eins klar. Wie versprochen blieben Lügendetektoren oder Beziehungsquerelen in jedweder Form außen vor. Stattdessen befasste sich RTL eine ganze Stunde lang mit dem Pflegenotstand in Deutschland und hatte sich exemplarisch die junge Mutter Pinar eingeladen. Diese ist Mama einer neunjährigen Tochter namens Elif, die wegen einer Muskelerkankung 24 Stunden pro Tag auf medizinische (Fach-)Betreuung angewiesen ist. Während die Kranken- und Pflegekassen die Kosten für das medizinische Personal übernehmen, bekommt Pinar selbst für ihren „Dienst“ nichts – obwohl sie längst nicht mehr arbeiten gehen kann.
Ob das gerecht ist und welche Probleme Familien wie die von Pinar jeden Tag managen müssen, debattierte Marco Schreyl auch mit einem vierköpfigen Experten-Panel. Einige von ihnen sollen künftig regelmäßig auftauchen, etwa Ruth Marquardt, die TV-Kenner noch als Expertin aus der RTLZWEI-Scripted-Reality «Hilf mir!» kennen. Frank Lindner erklärte als Anwalt den rechtlichen Rahmen, Dr. de Vries saß als Experte für den Themenkomplex Pflege auf dem Podium, während RTLs Jenke von Wilmsdorff von seinen Erfahrungen bei der Recherche im Pflegebereich berichtete. Was ganz klar fehlte: Ein Mitglied der aktuellen Bundesregierung, die das Thema Pflegenotstand längst auf dem Zettel hat und zumindest angibt, intensiv bemüht zu sein. So wurde zwar intensiv über gesetzliche Vorgaben debattiert; oft aber nur bis zu einem gewissen Punkt.
Eines ist RTL und der herstellenden Firma filmpool in der Tat gelungen: Denn während man dem Expertenpanel zuhörte und sich erklären ließ, was im Bereich der Pflege etwa in Skandinavien besser läuft als hierzulande, da hätte man sich fast schon bei einer aktuellen Ausgabe von «Hart aber fair» wähnen können - von den fehlenden Volksvertretern mal abgesehen. Ähnlich wie Frank Plasberg führte Schreyl ruhig, strukturiert und bei den Fragen durchaus lösungsorientiert durch die Runde. Konzeptueller Natur wird Schreyl ohnehin eine enorm wichtige Rolle zu Teil. Es ist klarer Plan der RTL-Verantwortlichen, am neuen Nachmittag nun mit festen Köpfen zu punkten: Beginnend um zwei Uhr mit den «Superhändlern» um Sükrü, dann mit Oliver Geissen, am Ende mit Steffen Henssler und dazwischen eben mit Marco Schreyl.
Ja, die neue Sendung «Marco Schreyl» ist der konkrete Gegenentwurf zu dem, was noch vor zehn Jahren der letzte Schrei war: Die immer bis ins letzte Extrem getrimmten Scripted-Realitys, die Nachmittag für Nachmittag punkteten, obwohl sie keinen festen Absender hatten. Setting und Geschichte, Darsteller und Themen, all das unterschied sich von Folge zu Folge. Was immer konsequent blieb, war Drama pur. Auch in diesem Punkt ist «Marco Schreyl» der Gegenentwurf. Laut oder emotional wurde es in dieser ersten Episode kein einziges Mal.
Es wäre fast schon angenehm, würde dies zum Trend, den Geschichten der Menschen unseres Landes einfach mal gemütlich zuhören zu können. Über welche Schicksale sprechen sie und welche eigenen Erfahrungen habe ich selbst mit einem eventuell ähnlichen Fall? Welche Tipps und Tricks kann der Zuschauer zu Hause mitnehmen und über welchen Missstand wurde viel zu lange geschwiegen?
Sicher ist: Die durchaus interessanten Themen könnten in der Tat eine angemessene Anzahl an Empfängern finden; es gibt einen Markt für Sendungen dieser Coleur, unter anderem übrigens nachmittags bei den Dritten. Der typische RTL-Zuschauer derweil dürfte sich ob der Gewöhnung an das Extreme zunächst einmal mehr als überrascht zeigen und eventuell auch das Weite suchen. Mutmaßlich dürfte also ein Zuschaueraustausch von Statten gehen; möglicherweise wandelt sich das Nachmittagsprogramm von RTL auch wieder ein Stück mehr zu Fernsehen für eine reifere Zielgruppe. Es ist ein konsequenter Schritt, der zuletzt schon mit dem Start von «Die Superhändler» erfolgte.
Die gänzlich neue Programmfarbe für jüngere RTL-Zuschauer und der sich allgemein fragmentierende TV-Markt stehen einem ganz großen Quotenerfolg wohl im Wege. Dennoch passt die Sendung gut in das Bild, das die komplette Mediengruppe RTL Deutschland seit rund einem Jahr abgibt: Dem Bestreben ein Absender relevanter Inhalte aus Deutschland zu sein und sich in diesem Punkt auch von dem fiktionalen Überangebot im Streaming-Bereich abzuheben. Der Grundgedanke passt also – und der Rest ist schlicht die tägliche Arbeit des Fernsehmachers: Feilen, nachjustieren, fragen, schauen, wieder feilen, wieder justieren und und und…
«Marco Schreyl» läuft ab sofort werktags um 16 Uhr. Hin und wieder sollen dank Livesendungen sogar tagesaktuelle Themen angegangen werden können.