«Omnipräsenz»: Netflix' neue Dystopie-Serie

Im neuen Netflix-Format aus Brasilien hat jeder Mensch seine eigene Drohne, und die Kriminalitätsrate liegt am Boden. Aus dieser Prämisse entstand ein spannendes und klug geschriebenes Zukunftsszenario.

Cast & Crew

Produktion: Boutique Filmes
Schöfper: Pedro Aguilera
Darsteller: Carla Salle, Sandra Corveloni, Jonathan Haagensen, Guilherme Prates, Luana Tanaka, Marcello Airoldi, Marco Antônio Pâmio u.v.m.
Mit dem brasilianischen «3 %», der vielleicht interessantesten und einnehmendsten Serie, die Netflix außerhalb der USA produzieren ließ, hat der aus Spanien stammende Filmautor Pedro Aguilera mit einem genialen Ansatz eines der Brandthemen Lateinamerikas fortgeschrieben – die immense soziale Ungleichheit, die der Plot der Serie auf die Spitze treibt: In einer nicht allzu weit entfernten Zukunft haben jedes Jahr alle Zwanzigjährigen die Chance, durch einen undurchsichtigen Prüfungsmarathon in die wohlhabende futuristische Offshore (portugiesisch: Maralto) aufgenommen zu werden. Doch nur 3 % von ihnen wird dieses Glück zuteil. Der Rest wird bis zum Ende seiner Tage in der postapokalyptischen, von bitterster Armut und Kriminalität geprägten Mehrheitsgesellschaft verbleiben müssen.

Wenn die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten ein paar andere krude Entscheidungen trifft, könnte uns eine Zukunft wie in Aguileras neuer Netflix-Serie «Omnipräsenz» (brasilianisch: «Onisciente») bevorstehen. Hier ist jedem Bürger eine winzige Drohne zugeordnet, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgt und sofort Alarm schlägt, wenn ihr Beobachtungssubjekt ein Verbrechen begehen sollte. Um trotzdem die Privatsphäre der Einwohner zu schützen, haben stets nur Algorithmen Zugang zu den Aufnahmen, und niemals Menschen. Alles Weitere erledigen automatisierte Systeme.

In vielerlei Hinsicht ist die Vorrichtung ein durchschlagender Erfolg. Die Kriminalitätsrate liegt nahe bei null, die Straßen sind sicher, die Menschen – zumindest dem ersten Anschein nach – glücklich. Für ein Land wie Brasilien, dessen astronomische Mordrate die politische Bühne für einen Verehrer der brutalen Militärdiktatur wie Jair Bolsonaro ebnete, kann das verlockend wirken. Und wird das Justizsystem nicht fundamental gerechter, wenn wir den Faktor Mensch eliminieren und Bots allein auf Basis unstreitbarer Fakten urteilen lassen?

Doch Aguilera setzt natürlich sofort zur Dekonstruktion an: Eines Nachmittags wird der Vater der jungen Programmiererin Nina (Carla Salle) in der gemeinsamen Wohnung ermordet – ohne dass eine Drohne anschlug. Da es kaum noch Verbrechen gibt, wurden die polizeilichen Kapazitäten schon lange auf ein Minimum heruntergefahren, und die Behörden sind mit diesem kuriosen Fall selbstredend völlig überfordert. So sehr, dass sie das Offensichtliche infrage stellen: Weil auch in einer imaginären Zukunft nicht sein kann, was nicht sein darf.



Wie schon mit «3 %» macht Aguilera aus dieser haltungsreich erzählten Prämisse keinen suggestiven Lehrfilm, in dem der Zuschauer für die jeweilige Allegorie nur das bekannte Schlagwort einsetzen müsste. «Omnipräsenz» kommt ohne jedes suggestive Gewese aus, ohne pathetischen Aufschrei, ohne Allerweltsbuzzwords wie „Allesvernetzung“ und „Totalüberwachung“, mit denen viele andere Serienautoren einen solchen Stoff bis in den letzten Nebensatz zerreden lassen würden. Diese Serie vertraut auf das Verständnis ihres Publikums und die Funktion von Fiction als von kreativer Schaffenskraft angetriebene Was-wäre-wenn-Spielwiese, als Diskussionsgrundlage, als Durchdeklinierung gesellschaftlicher Möglichkeiten, als Spiegelbild unserer Anschauungen, Vorstellungen, Ideen und Psyche – und bleibt damit hoffentlich noch länger präsent.

«Omnipräsenz» gibt es nun bei Netflix.
12.02.2020 12:30 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/115813