«Ich schweige für dich»: Die Jagd nach dem nächsten Cliffhanger

Die neue Netflix-Serie aus England ist besessen von ihrem starken Spannungsbogen – und vergisst darüber glatt das Erzählen.

Cast & Crew

Produktion: Red Production Company
Schöpfer: Danny Brocklehurst
basierend auf dem Roman von Harlan Coben
Darsteller: Richard Armitrage, Siobhan Finneran, Hannah John-Kamen, Jacob Dudman, Brandon Fellows, Jennifer Saunders, Shaun Dooley u.v.m.
Executive Producer: Danny Brocklehurst, Harlan Coben, Richard Fee und Nicola Shindler
Anders als in den meisten Filmen erscheint der Deus ex Machina in «Ich schweige für dich» nicht erst ganz am Schluss, wenn die Geschichte schon so verworren ist, dass sie nur ein wahlloser Gott noch zu irgendeinem Ende bringen kann, sondern gleich zu Beginn in Form der Fremden (Hannah John-Kamen), die der Serie im englischen Original den Titel verleiht und den Familienvater Adam (Richard Armitrage) beim Fußballspiel seines Sohnes anquatscht. Sie steckt ihm, dass die in einer Fehlgeburt geendete Schwangerschaft seiner Frau vor zwei Jahren nur eine verrückte Inszenierung gewesen sei, um die kaputte Ehe zu retten. Und ob seine beiden Kinder tatsächlich von ihm sind, sollte er besser durch einen Vaterschaftstest überprüfen lassen.

Bevor Adam sich sammeln und sinnvolle Gegenfragen stellen kann, hat die Fremde schon unauffällig das Weite gesucht. Doch die Zweifel bleiben. Zuhause wühlt er sich durch alte Ultraschallbilder, klickt sich durch Kontoauszüge, telefoniert wild durch die Gegend. Und überraschenderweise findet er für die unerhörten Vorwürfe einer unverfrorenen wildfremden Frau immer stichhaltigere Indizien.



Unterdessen hat die örtliche Polizei anderweitig gut zu tun. Auf dem Marktplatz liegt plötzlich ein abgeschlachtetes Alpaka ohne Kopf, und nach einem spätabendlichen Gelage, an dem britische Teens ordentlich Triebabfuhr vom Schuluniformen-Alltag geleistet haben, wird ein entkleideter Jugendlicher im Wald aufgefunden. Die seltsame Fremde, die den Anstoß zur Zerlegung von Adams Familienleben gab, erpresst sich im Übrigen munter weiter durch den Ort – und liefert «Ich schweige für dich» zahlreiche plumpe Vorwürfe, um eine krude populistische Mischung aus weiblichem Victim Blaming und Panikfantasien über Allesvernetzung zu streuen.

Obwohl die Serie an sich gut geplottet ist und mit erstaunlich dichtem Spannungsbogen erzählt wird, bleibt doch der Inhalt seltsam generisch und will sich zugleich nicht auf eine konkrete Konstellation festlegen. Gerade als Adams Leben ob der unerhörten Begebenheit aus den Fugen gerät, wird dieser Handlungsstrang weitgehend wieder verlassen, um anderswo die nächste Wendung einzuleiten. Doch die ständige Jagd nach dem nächsten Cliffhanger kann die Abwesenheit jeglicher Substanz nicht kaschieren, und auf ihre Themen – Lebenslügen, Doppelzüngigkeit und die psychologischen Abgründe hinter gesellschaftlichen Fassaden – kommt die Serie nie in bedeutsamer Weise zu sprechen.

Am Schluss ist «Ich schweige für dich» damit eine leicht zu dechiffrierende Zelebrierung der Oberflächlichkeit, die sich allein auf ihre Effekte verlässt, aber nichts von Relevanz zu erzählen hat: keine Haltung, keine Einsicht, keine Erkenntnis. Doch auch der beste Spannungsbogen bricht irgendwann zusammen, wenn er nur als Luftnummer gebaut wurde, und es im Kern um nichts geht außer plakatives Gefasel und undifferenzierte Allerweltsmeinungen.

«Ich schweige für dich» (Originaltitel: «The Stranger») ist bei Netflix abrufbar.
14.02.2020 11:20 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/115884