Einerseits freuen sich Millionen von Menschen über neue Unterhaltung. Andererseits muss das Virus eingedämmt werden. Gedanken über ein Medien-Dilemma.
Immer mehr Medienproduktionen werden gestoppt – die Liste der Hollywood-Filme und US-Serien, bei denen die Dreharbeiten niedergelegt wurden, erreicht schwindelerregende Ausmaße. Und auch in Deutschland wird allmählich reagiert: Unter anderem
hat die «Rote Rosen»-Crew aus Sorge vor dem Coronavirus die Arbeiten an neuen Folgen abgebrochen. Der völlige Entertainment-Stopp liegt dessen ungeachtet noch in weiter Ferne. Shows wie «Let's Dance», «Late Night Berlin», «DSDS» und «The Masked Singer» werden derzeit ohne Publikum produziert – und die Nachfrage nach Showunterhaltung ist derzeit riesig.
Das hat offenbar einen Zusammenhang: Während der neusten «The Masked Singer»-Folge beispielsweise häuften sich in den sozialen Netzwerken die Danksagungen in Richtung ProSieben. Viele Menschen äußerten ihre Dankbarkeit dafür, dass der Sender an der Show festhält und seinem Publikum in diesen Zeiten wenigstens ein paar sorgenfreie Stunden beschert. Neben Unterhaltungsshows werden derzeit aber auch weiter einige fiktionale Projekte gedreht – was jedoch auch auf Gegenwind stößt, und das sogar aus eigenen Reihen.
Via Instagram beklagte Schauspieler Jonas Nay, dass er derzeit aufgrund von Dreharbeiten von Schleswig-Holstein nach Nordrhein-Westfalen und zurück pendelt. Der «Deutschland '86»-Star fühlt sich nicht wohl dabei, will aber einer Vertragsstrafe entgehen, die ihm drohen würde, sollte er nicht mehr zum Dreh erscheinen. Er klagt: "Dies soll so weitergehen, bis ein bestätigter Corona-Fall im Team nachgewiesen wird ... Kann mir das jemand erklären?" Nay ruft schlussendlich zum Produktionsstopp auf.
Ähnlich sieht es Schauspielerin Nikola Kastner, die auf Instagram erklärt, weshalb sie findet, dass man aus Solidarität gegenüber den Risikogruppen mit Dreharbeiten aufhören sollte: "Es ist unmöglich, die Sicherheitsvorgaben an einem Filmset zu gewährleisten. Weder im Maskenmobil, noch im Kostüm."
Anders gesagt: Die Unterhaltungsbranche steht vor einem Dilemma. Einerseits ist sie gerade sehr gefragt und, um kurz etwas Pathos aufkommen zu lassen, sogar sehr wichtig. Gewiss gibt es einzelgängerische Persönlichkeiten, die sich derzeit einfach dransetzen, ihre Stapel ungesehener Blu-rays abzuarbeiten oder noch einmal ihre Lieblingsserie zu suchten. Aber genauso sehr gibt es Menschen, die sich durch die Newslage beklommen fühlen und denen die eigene Decke auf den Kopf fällt. Und die sehen sich daher nach Ablenkung und nach etwas, das an Alltag erinnert, um sich daran festzuhalten – und das kann etwa in Form neuer Ausgaben von Shows und Serien erreicht werden, die für diese Personen zur eigenen TV-Tradition gewordenen sind.
Ein völliger Entertainment-Stopp und das Untersagen sämtlicher TV-Produktionen, die nicht ins Fach Information gehören, würde also dazu beitragen, die Infektionskurve zu glätten. Aber im Gegenzug würden wir etwas verlieren, das dazu beiträgt, dass Köpfe kühl bleiben und somit vernünftige Vorsicht vorherrscht statt Panik.
Eine gemeingültige, alle Seiten zufriedenstellende Antwort gibt es auf dieses Dilemma wohl nicht. Aber an Sets sollte dasselbe gelten wie in Büros: Wenn sich die Belegschaft unwohl fühlt und beteuert, die notwendigen Sicherheitsstandards nicht einhalten zu können, sollte nicht mit Vertragsstrafen gedroht werden, sondern wirklich, ernstlich hinterfragt werden, ob diese Tätigkeit in der derzeit durchgeführten Form notwendig ist. Denn Vorsicht und Abstand sind derzeit immens wichtig.
Und wer je an einem Film- oder Serienset war, weiß: Nikola Kastner liegt leider goldrichtig – es ist ungeheuerlich schwer bis nahezu unmöglich, die Regeln zur Risikovermeidung einer Coronavirus-Verbreitung dort einzuhalten. Dort drängeln sich große Teams auf engem Raum. Und allerspätestens vor der laufenden Kamera wird deutlich, dass die Einhaltung der Sicherheitsrichtlinien bei Film- und Serienproduktionen eine riesige Hürde ist.
Denn die wenigsten Filme und Serien handeln von Figuren, die stets etwa zwei Meter Abstand zueinander halten, sich nie in Räumen mit mehr als fünf Personen aufhalten und nie etwas im öffentlichen Raum mit den Händen berühren. Wie soll bitte ein konventioneller «Tatort» aussehen, der die Corona-Vorsichtsmaßnahmen achtet? Und wie seltsam würde es aussehen, wenn ein aktuell gedrehter Fernsehfilm im Jahr 2021 auf Sendung geht und man genau erkennt, welche Szenen vor der aktuellen Lage gedreht wurden, und welche mit kahlen Plätzen sowie distanzierten Figuren aufwarten?
Showproduktionen haben es dahingehend schon leichter – in der riesigen, nun nahezu leeren Halle, in der etwa «The Masked Singer» entsteht, ist viel Raum, um sich aus dem Weg zu gehen. Und gerade als Liveshow hat «The Masked Singer» den Vorteil, dass das Publikum genau einzuschätzen weiß, weshalb mit solchen Maßnahmen vom Showalltag gebrochen wird. Selbiges gilt für Comedy-Sendungen wie «Late Night Berlin» oder das weiterhin geplante «Verstehen Sie Spaß?»-Jubiläum. Dass solche Projekte weitergehen, ist noch nachvollziehbar.
Im fiktionalen Bereich muss man da schon kreativer werden, um guten Gewissens der Corona-Ausbreitung vorzubeugen und dennoch drehen zu können – «Tatort»-Kammerspiele über hitzige Verhörsituationen oder Soap-Folgen über Trennungsgespräche via Facetime und Co. würden sich da anbieten. All das müsste zwar erst einmal geschrieben und geplant werden, jedoch haben die Sender ja bei den meisten Formaten noch einige Ausgaben auf Halde – und Autorinnen sowie Autoren wären derzeit für jeden Auftrag dankbar. Wieso also nicht kreative, sichere fiktionale Inhalte mit höchster Priorität durchschleusen und anschließend mit stark reduzierter Crew umsetzen? Jedenfalls so lange, bis der Corona-Test massenweise verfügbar ist und sich daher schneller vergewissern lässt, ob jemand symptomfrei den Erreger in sich trägt. Das wäre doch eine Lösung, um weiter fiktionale Projekte zu produzieren, ohne Menschen in Gefahr zu bringen ...
Braucht es einen Produktionsstopp für Unterhaltungssendungen?