«Unorthodox»: Auf der Suche nach sich selbst

Raus aus der orthodoxen Sekte, rein in die echte Welt: Hört sich schwierig an, ist es auch. In der sehr sehenswerten neuen Netflix-Miniserie «Unorthodox» steht eine junge Frau im Mittelpunkt, die sich noch selbst finden muss.

Keine Frage: Das Coronavirus sorgt derzeit eigentlich schon für genug reales Drama in der Welt. Die Menschen sind zurzeit ja angehalten, so wenig wie möglich rauszugehen, zahlreiche Freizeitaktivitäten sind somit nicht mehr möglich. Viele müssen sich sogar in häusliche Quarantäne begeben. Wir sind damit also eingeschränkt in unserer Art zu leben, vielleicht sind wir sogar gedanklich gefangen während dieser seltsamen Zeit.

Gefangen fühlt sich auch Esty (Shira Haas) im neuen Netflix-Drama «Unorthodox». Die Teenagerin wächst in einer jüdischen Gemeinschaft in Williamsburg, New York auf. Die strengen Regeln der ultra-orthodoxen Sekte bestimmen ihr Leben, Selbstbestimmung ist hier fehl am Platz. Schon früh wird Esty zwangsverheiratet, die arrangierte Ehe mit Yanky Shapiro (Amit Rahav) verläuft alles andere als harmonisch – insbesondere, weil das Kinderkriegen nicht reibungslos verläuft und die Familie sich ständig einmischt.

Eines Tages beschließt Esty, ihre geliebte Großmutter hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen – in Deutschland, Berlin. Wie sich später herausstellt, macht sie es damit ihrer Mutter nach, die ebenfalls geflohen ist. Esty steht jedoch noch ganz am Anfang: Sie muss erst noch selbst herausfinden, wer sie ist, welche Begabungen sie hat und wie sie ihr Leben gestalten möchte. An der Musikakademie lernt Esty auf Anhieb neue Freunde kennen – und sie lernt vor allem, was es heißt, unabhängig und frei zu sein. Die Regeln (im Kopf) beiseite zu schieben und das zu tun, was einem gut tut.


Die Szene, in der Esty das erste Mal im Wannsee badet, ist ein bewegender Schlüsselmoment – getragen von Shira Haas‘ unglaublich überzeugendem Spiel. Die innere Zerissenheit, das Suchen nach sich selbst, der stetige Kampf um die Freiheit, das Entdecken des echten Lebens da draußen: All das verkörpert die israelische Schauspielerin äußerst eindringlich. Es sind aber auch die vielen kleinen, vermeintlich unscheinbaren Situationen, die hängen bleiben: In ein Schinken-Crossaint beißen wäre für Esty in ihrer alten Heimat unmöglich gewesen – ebenso wie das Recherchieren im Internet mit Suchmaschinen. Selbstverständlichkeiten für uns, Neuland für Esty. Umgekehrt ist die alte Welt von Esty für die Zuschauer eine fremde.

Die Vergangenheit holt Esty alsbald aber wieder ein: Ehemann Yanky Shapiro sowie dessen Cousin Moishe reisen ihr nach und sollen im Auftrag des Rabbis dafür sorgen, dass sie wieder nach Hause kommt. Dabei ist Yanky im Grunde eine genauso tragische Figur wie Esty: Naiv und unwissend, was die reale Welt betrifft und sichtlich verzweifelt nach Estys Verschwinden.

Die Geschichte von «Unorthodox» basiert auf wahren Begebenheiten, zwecks Dramatisierung weicht die Serie aus der Feder von Anna Winger («Deutschland 83») und Alexa Karolinski («Oma und Bella») allerdings mitunter stark von Deborah Feldmans autobiografischer Romanvorlage ab. So sind vor allem die Ereignisse in der Gegenwart frei erfunden, bei den Rückblenden hat man sich stärker an das Buch gehalten. So hat Feldman in der Realität keine Musikerkarriere wie Esty angestrebt.

Im Übrigen müssen Zuschauer einiges an Untertiteln lesen, denn ein Großteil von «Unorthodox» wurde in jiddischer Sprache gedreht. Das hat schon bei der ebenfalls religiösen Netflix-Produktion «Messiah» vielleicht nicht jedem gefallen, es trägt aber enorm zur Glaubwürdigkeit der Story bei.

«Unorthodox» kann all jenen Mut machen, deren Leben ähnliche Schranken wie das von Esty beinhaltet. Ein eigenbestimmtes Leben hat zwar seinen Preis, aber es lohnt sich, darum zu kämpfen.

Die insgesamt vier Folgen von «Unorthodox» sind seit dem 26. März bei Netflix abrufbar.
29.03.2020 13:00 Uhr  •  Daniel Sallhoff Kurz-URL: qmde.de/117128