2020, Corona-Krise: Immer mehr Verleiher stellen aktuelle Kinofilme direkt als Stream zur Verfügung. Doch wird dadurch nur Schadensbegrenzung betrieben, oder richtet es vielmehr Schaden an?
Diese Kinofilme gibt's bereits für Zuhause:
- Der Unsichtbare
- Emma
- Birds of Prey
- Just Mercy
- Bloodshot
- Sonic the Hedgehog
- Bombshell
- Chaos auf der Feuerwache
- Lady Business
- The Hunt (ab Mai)
Die Corona-Krise trifft so ziemlich jede Branche. Auch die Unterhaltungsindustrie, in der Musikinterpreten nun gezwungen werden, ihre Musikvideos zuhause zu drehen oder Regisseure aus der Not eine Tugend machen und in den eigenen vier Wänden Filme inszenieren. Das, liebe Leser, sind so gesehen die guten Seiten, die zeigen, zu welch kreativen Höhen das aufgezwungene Daheimbleiben manche Menschen animieren kann. Und je nach Standpunkt zählt auch die Tatsache zu den guten Seiten, dass die sich mitten in ihrer Spielzeit befundenen Kinofilme nun bisweilen direkt für Zuhause erhältlich sind. Sowie, dass teilweise Filme gar nicht mehr erst die Erstverwertung im Lichtspielhaus erfahren, sondern direkt in die eigenen vier Wände wandern.
Den Anfang machte im März das Major-Studio Universal. Aus der Not heraus wurde die Idee geboren, die Horror-Satire «The Hunt», die Kostümkomödie «Emma» sowie das Gruseldrama «Der Unsichtbare» ab sofort als Stream zur Verfügung zu stellen. Der Preis: 19,99$ für eine Leihdauer von gerade einmal 48 Stunden. Eigentlich ist diese Dauer üblich. Auf den gängigen Downloadplattformen wie iTunes oder Amazon Prime lädt man einen Leihtitel herunter und hat anschließend vier Wochen Zeit, ihn anzusehen. Fängt man einmal damit an, hat man zwei weitere Tage Zeit, den Film zu Ende zu schauen. Normalerweise zahlt man dafür je nach Titel zwischen 0,99 Cent und 9,99$. Lediglich Kauftitel, also solche, die man nach dem Download dauerhaft behalten und wie eine Blu-ray nach Belieben oft anschauen kann, kosten mitunter das Doppelte.
19,99$ - Zu viel für einen geliehenen Film?
Entsprechend dieses enormen Preisunterschieds war bereits der erste Streitpunkt ob dieses Angebots abzusehen: 19,99$ für 48 Stunden – Abzocke! Zum Vergleich: In Deutschland, wo Universal bereits kurze Zeit später ein ähnliches Angebot zur Verfügung stellte, kostet «Der Unsichtbare» aktuell 17,99€. Aber ist das wirklich Abzocke? Rechnen wir das einmal anhand gängiger Kinoticketpreise durch: Ohne Überlängen- und 3D-Zuschlag kostete ein Ticket für Leigh Whannells moderne Adaption des Schauerklassikers zum Zeitpunkt der Kinoschließungen (und je nach Kino) etwa zwischen neun (in Kleinstadt- und Programmkinos) und 13 Euro (in Multiplexen) pro Karte. Da muss man zunächst keine großen Rechenanstrengungen unternehmen: Selbst bei den Maximalkosten besteht immer noch eine Preisdifferenz von 4,99€ zwischen Kinoticket und Stream. Und wer hat denn bitte eine ähnlich gute Soundanlage und eine vergleichbar große Leinwand wie in einem nur halbwegs großen Lichtspielhaus? Doch denken wir das einmal weiter:
Wenngleich natürlich die technischen Voraussetzungen eines Heimkinos in der Regel nicht mit denen eines richtigen Kinos mithalten können, fallen viele anderen Kosten weg: Jene für Verpflegung (es sei denn, man bringt sich etwas von Zuhause mit, schon klar!) und natürlich auch all jene Tickets für die Begleitungen. Denn: So einen Stream lädt man einmal und kann ihn sich dann in beliebig großer Gruppe zuhause anschauen. Ein Kinoticket dagegen muss jeder Besucher einzeln erwerben. Heißt also: Schon beim zweiten Mitgucker zuhause hat sich die Investition gelohnt.
Nun ist es ja schon die gängige Argumentation bei den in den vergangenen Jahren stetig wachsenden Ticketpreisen, dass Kino generell viel zu teuer ist. Und im Anbetracht der kontinuierlichen Preiserhöhung, die in vielen Jahren ein gutes Stück über der Inflation liegt und daher auch „spürbar“ ist, kann man diese Entrüstung auch ein Stück weit nachvollziehen. Erst recht, wenn es Personengruppen wie etwa eine mehrköpfige Familie betrifft. Doch zumindest an dieser Stelle sei kurz angemerkt: Auch Kulturstätten wollen ihre Mitarbeiter bezahlen. Von den Ticketpreisen decken Kinos bei all ihren Abgaben, von Miete über Verleiheranteile, maximal die Standortkosten. Erst durch den Verkauf von Snacks und Getränken generieren sie so etwas wie Gewinn. Entsprechend lässt sich ausmalen, weshalb die Branche aktuell so sehr in Panik ist, dass ein ganzer Kulturzweig aussterben könnte, wenn die Kinos aufgrund der Corona-Pandemie auch nur für ein paar Monate schließen müssen.
Rettung oder Sargnagel? Braucht es das Kino als Verwertungsstätte überhaupt noch?
Gleichzeitig darf aus genau diesem Grund aber auch die Frage aufgeworfen werden, ob sich die Verleiher mit ihrer „Wir veröffentlichen Filme direkt für Zuhause“-Strategie nicht eigentlich ins eigene Bein schießen. Sagen sie damit doch auch aus, dass es das Lichtspielhaus als Verwertungsstätte gar nicht mehr benötigt. Der hohe Zulauf für Flatrate-Streaminganbieter wie Amazon Prime, Netflix und Disney+ unterstreicht dies. Hier zahlt der Kunde monatlich eine Gebühr, die niedriger ist als jedes gängige Kinoticket, und hat dafür Zugriff auf Tausende von Filmen, die er daheim in beliebig großer Gruppe und beliebig oft genießen kann. Und ist mal ein gewünschter Film nicht in einem der zahlreichen Streamingpakete enthalten, tut’s eben die einmalige Leihgebühr zwischen 0,99 Cent und 9,99€. Pausieren, Skippen, nebenbei Quatschen, ohne dass sich andere Kinobesucher beschweren oder je nach Belieben ein Mehr-Gänge-Menü Verdrücken – diese Möglichkeiten können für Nutzer bisweilen reizvoller sein als das umwerfende Sounderlebnis oder die Riesenleinwand in einem Kino.
Doch wenn das Kino abseits der technischen Bedingungen bislang einen USP – einen Unique Selling Point – besaß, dann jenen, dass die neuesten Blockbuster oder lang erwarteten Oscar-Favoriten dort nun mal als erstes zu sehen waren. Wer Mitreden will, muss ins Kino. Da gibt es keine (zumindest legale) Alternative. Bis jetzt! Natürlich hoffen wir, stellvertretend für alle Kinoliebhaber dieser Welt, dass die Bereitstellung brandaktueller Filmproduktionen nur eine aus der Not heraus geborene Alternative ist, um zumindest einige der Umsatzeinbußen wieder aufzufangen und – ein wenig romantischer gedacht – dem Zuschauer auch in der Krise die Möglichkeit zu geben, einige ersehnte Filme zu genießen. Doch bei genauerer Betrachtung relativiert sich das Kino dadurch auch selbst. Wer «Trolls World Tour», die in den USA seit vergangenen Freitag erhältliche Fortsetzung des Animationshits «Trolls» nun zuhause sehen kann und sich mit den Kiddies nicht mehr am Wochenende in eine überfüllte Kinowarteschlange stellen, eine zweistellige Summe für Popcorn ausgeben und am Ende ja sogar riskieren muss, viel zu viel Geld für einen vielleicht nur mittelmäßigen Film ausgegeben zu haben, für den verliert das Kino vielleicht gar vollständig seinen Reiz, während Streaming zusätzlich daran gewinnt.
Das Streaming als wirtschaftliche Soforthilfe
Dabei lassen sich dem Streaming aktueller Kinofilme natürlich nicht nur Nachteile attestieren. Vor allem die vorzeitige Heimkino-Veröffentlichung von Filmen, deren Laufzeit ohnehin fast zu Ende war (aktuelle Beispiele: Warner Brothers' «Birds of Prey», «Just Mercy» oder Paramount Pictures‘ «Sonic the Hedgehog»), kann sich den durch die kürzliche Kinoauswertung generierten Hype zunutze machen, und vielleicht sogar Nachzügler begeistern. Vielleicht, weil für einen Gang ins Kino doch nicht genug Interesse für den Film vorhanden war, nun daheim aber die Hemmschwelle für einen Download nicht mehr allzu groß ist.
Auch der X-Verleih oder kleinere Filmvertriebe wie zum Beispiel die Salzgeber und Co. Medien GmbH haben sich ihre ganz eigenen Gedanken zu diesem Thema gemacht. Mit dem Kauf von «Die Känguru Chroniken» (bei Amazon Prime kostet er aktuell 16,99€) verdient nicht nur der Verleih selbst. Einen Teil der Erlöse erhalten die derzeit geschlossenen Kinos. Und sobald diese ihre Türen wieder öffnen, soll der Film zudem mit einer großen Überraschung dorthin zurückkehren. Die Salzgeber und Co. Medien GmbH hat derweil den sogenannten Salzgeber Club eröffnet. Einen eigenen Streamingdienst, auf dem jeden Donnerstag ein neuer, aktueller Film des Verleihs (zuletzt das seinen Kinostart nicht antreten könnende Drama «Kopfplatzen» mit Max Riemelt) gegen eine kleine Gebühr von 4,99€ anschaubar ist.
Die aktuelle Lage und ihre Langzeitfolgen
Ein Blick in die Zukunft ist derzeit – wie so ziemlich bei allen Themen – nahezu unmöglich. Aber es lassen sich erste Indizien auswerten, die darauf hindeuten könnten, ob die aktuelle Verleiher-Strategie, aktuelle Kinofilme gegen eine vergleichsweise hohe Gebühr für Zuhause zur Verfügung zu stellen, die Kinolandschaft maßgeblich verändern wird. Eines dieser Indizien deutet eher auf ein „nein“ hin. Der Grund: Die erste Woche nach der Veröffentlichung von «Der Unsichtbare», «Emma» und «The Hunt» fand sich keiner der drei Filme unter den US-Top-10 der Streamingcharts. Das Angebot wurde zwar genutzt, aber nicht so sehr, dass es die Download-Hitparade derart prägnant durcheinandergewirbelt hätte. Zumindest ein klein wenig anders sieht es in Deutschland aus. Dort befinden sich zum jetzigen Zeitpunkt gleich drei Filme mit verkürztem Kinofenster unter den Top 10 des Anbieters iTunes. Allerdings mit einer Einschränkung, die wiederum als Indiz dafür spricht, dass das vorzeitige Streamingangebot Schule machen könnte.
Vielleicht sogar als Reaktion auf die massiven Widerstände gegenüber den hohen Preisen, möglicherweise aber auch, weil es ohnehin so geplant war, änderten mittlerweile viele Verleiher die Leih- in Kaufpreise. Neben «Die Känguru-Chroniken» sind in Deutschland nun auch das Vin-Diesel-Vehikel «Bloodshot» (Sony), «Birds of Prey», «Sonic the Hedgehog», «Bombshell - Das Ende des Schweigens» (Wild Bunch Germany), «Just Mercy», «Chaos auf der Feuerwache» und «Lady Business» (beides Paramount Pictures) erhältlich – und zwar allesamt zum Kaufen. Der Preis: Zwischen 13,99€ und 16,99€ – also dem ehemaligen Leihpreis, für den man den Film nun dauerhaft erhält. Lediglich Universal hält weiterhin an der ausschließlichen Leih-Strategie fest und beugt sich damit nicht dem Verlangen des Nutzers, möglichst wenig Geld ausgeben zu wollen – zumindest vorerst. Es wird spannend sein, zu sehen, ob der Verleihriese standhaft bleibt. Recht gibt ihm darin zumindest die Tatsache, dass sich «Trolls World Tour» an seinem Startwochenende in den USA den Rekord des erfolgreichsten Downloadstarts aller Zeiten gesichert hat...