Was wäre, wenn… in diesem Jahr keine Filme mehr erscheinen würden? Der etwas andere Filmpreis
Die Corona-Pandemie treibt Hollywood an seine Grenzen. Damit sich die Traumfabrik nicht auch noch um sowas Banales wie Filmpreise kümmern muss, hat unsere Kinoredaktion die Oscars schon mal vorab vergeben.
In Hollywood findet derzeit ein Umdenken statt. Einige Filmstudios verzichten aufgrund des Corona-Virus sogar darauf, groß angelegte Kinostarts tatsächlich abzuhalten und bringen die Filme direkt für den Streamingmarkt heraus (Quotenmeter.de berichtete). Wir es 2020 mit dem weltweiten Kinomarkt weitergeht, steht aktuell noch in den Sternen. Doch was wäre eigentlich, wenn in diesem Jahr überhaupt keine Filme mehr erscheinen würden und sich die Academy Ende der kommenden Oscar-Saison trotzdem lediglich auf die Filme besinnen könnte, die, den Oscar-Statuten entsprechend, im Nominierungszeitraum erschienen sind? Nach diesem Gedankenexperiment hat die Quotenmeter.de-Kinoredaktion aus Sidney Schering und Antje Wessels die US-amerikanischen (und für die Kategorie „Bester internationaler Film“ die internationalen) Kinostarts durchforstet und sich die besten Filme für ihre jeweiligen Kategorien herausgesucht. Und das war manchmal gar nicht so einfach, ermöglicht aber auch ein ganz neues Bild auf die Vielfältigkeit des Kinos.
Berücksichtigt wurden sämtliche in den USA im Kino oder auf Streamingdiensten gezeigten Produktionen mit einem regulären oder limitierten Kinostart im Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis heute (respektive bis zum Beginn der weltweiten Kinoschließungen). Auch bei der richtigen Oscar-Verleihung im Februar 2021 werden aufgrund der besonderen Umstände Filme berücksichtigt, die ursprünglich fürs Kino produziert, dann allerdings direkt fürs Heimkino veröffentlicht wurden.
BESTER FILM
«The Hunt»
«Vivarium»
«The Assistant» «Der Unsichtbare»
«Emma.»
«Swallow»
«Out of Play: Der Weg zurück»
«The Gentlemen»
«Bad Boys for Life»
Das Genrekino dominiert die Kategorie "Bester Film" – und wird obendrein mit ein paar echten Award-Anwärtern wie «Emma.» und dem Ben-Affleck-Vehikel «Out of Play: Der Weg zurück» veredelt. Zudem stellt «Bad Boys for Life» aktuell den erfolgreichsten Film des Jahres 2020 dar. Das ist zwar nur bedingt ein Argument für einen Filmpreis wie den Oscar, allerdings könnte Sony Pictures mit einer Kampagne (Will Smith!) sicherlich einige Academy-Mitglieder erreichen. Gewinnen dürfte unserer Ansicht nach dennoch der absolut zeitlose wie hochspannende «Der Unsichtbare».
BESTE REGIE
Leigh Whannell («Der Unsichtbare»)
Lorcan Finnegan («Vivarium») Kitty Green («The Assistant»)
Cathy Yan («Birds of Prey»)
Autumn de Wilde («Emma.»)
Ihr Drama über einen Tag hinter den Kulissen eines toxisch verseuchten Hollywoodproduzentenbüros geht unter die Haut und bis ins Mark. «The Assistant» und der Regisseurin Kitty Green gebührt hier ganz klar der Preis.
BESTER HAUPTDARSTELLER
Will Ferrell («Downhill») Ben Affleck («Out of Play: Der Weg zurück»)
Jesse Eisenberg («Vivarium»)
Charlie Hunnam («The Gentlemen»)
Daniel Radcliffe («Guns Akimbo»)
Ja, in einem Jahrgang wie 2020 könnte Daniel Radcliffe für seine Rolle im Actionquatsch «Guns Akimbo» für den Oscar nominiert werden und er wäre nicht die schlechteste Wahl, auch wenn unsere klar auf Ben Affleck fällt. Dieser spielt im Trinkerdrama «Out of Play: Der Weg zurück» so etwas wie die Rolle seines Lebens.
BESTE HAUPTDARSTELLERIN Elisabeth Moss («Der Unsichtbare»)
Haley Bennett («Swallow»)
Betty Gilpin («The Hunt»)
Imogen Poots («Vivarium»)
Julia Garner («The Assistant»)
Elisabeth Moss versprüht genug Hollywood-Vibe und trägt «Der Unsichbare» mühelos als Stalker-Drama auf ihren Schultern. Julia Garner spielt sehr nuanciert die Rolle einer duckmäuserischen, still rebellierenden Büroangestellten und Betty Gilpin mimt in «The Hunt» eine Badass-Braut der Extraklasse. Unter diesen drei Favoritinnen haben wir uns schließlich für Moss entschieden. Ihre Performance bleibt im Kopf.
BESTER NEBENDARSTELLER Hugh Grant («The Gentlemen»)
Jonathan Aris («Vivarium»)
Jim Carrey («Sonic the Hedgehog»)
Matthew Macfadyen («The Assistant»)
Ewan McGregor («Birds of Prey»)
In Ermangelung an Alternativen finden sich in dieser Kategorie auch Kandidaten wie Jim Carrey für «Sonic the Hedgehog» oder Ewan McGregor für «Birds of Prey», die beide vor allem durch ihr brachiales Overacting bestechen. Muss man mögen. Für uns reicht es immerhin zu einer Nominierung, auch wenn in diesem Jahr kein Weg an Hugh Grants herausragender Schmierlappenperformance in «The Gentlemen» vorbeiführt.
BESTE NEBENDARSTELLERIN
Hilary Swank («The Hunt») Riley Keough («The Lodge»)
Mia Goth («Emma.»
Harriet Dyer («Der Unsichtbare»)
Mary Elizabeth Winstead («Birds of Prey»)
BESTES ADAPTIERTES DREHBUCH
Leigh Whannell («Der Unsichtbare») Nat Faxon, Jim Rash & Jesse Armstrong («Downhill»)
Eleanor Catton («Emma.»)
Chris Bremmer («Bad Boys for Life»)
Jonathan Aibel, Glenn Berger, Elizabeth Tippet, Maya Forbes & Wallace Wolodarsky («Trolls 2: Trolls World Tour»)
In den USA kam das Remake des skandinavischen Oscar-Anwärters «Höhere Gewalt» gar nicht gut an. Doch die Art und Weise, wie Nat Faxon, Jim Rash und Jesse Armstrong das Drama um einen Ehekrach ins düstere Komödienfach transportieren und noch dazu viel intensiver mit den Figuren ins Gericht gehen, gehört unbedingt ausgezeichnet. Und die Skripte zu «Bad Boys for Life» und «Trolls 2: Trolls World Tour» sind wirklich nur dabei, weil wie die fünf ja irgendwie vollkriegen mussten ...
BESTES ORIGINALDREHBUCH
Nick Cuse & Damon Lindelof («The Hunt») Lorcan Finnegan («Vivarium»)
Kitty Green («The Assistant»)
Carlo Mirabella-Davis («Swallow»)
Brad Ingelsby («Out of Play: Der Weg zurück»)
Lorcan Finnegan gelingt mit seinem Skript zu «Vivarium» eine bissige Versuchsanordnung, die so etwas Simples wie "den Alltag" dekonstruiert, bis man am Ende nur noch ein Häuflein Elend ist. Bravo!
BESTE KAMERA Thimios Bakatakis («The Lodge»)
Sean McElwee («Horse Girl»)
Katelin Arizmendi («Swallow»)
Michael Latham («The Assistant»)
Christopher Blauvelt («Emma.»)
Der Stammkameramann von «The Favourite»-Regisseur Yorgos Lanthimos kleidet «The Lodge» in verzerrte Bilder, die einen Großteil des vom Film ausgehenden Unbehangens ausmachen. Sean McElwee wandelt in «Horse Girl» auf den Spuren von David Lynch, Katelin Arizmendi setzt für «Swallow» auf knallige Farben und Kontraste, Michael Latham nutzt in «The Assistant» gezielt die verschobenen Perspektiven, um die Machtpositionen innerhalb des Konzerns hervorzuheben und Christopher Blauvelts Arbeit an «Emma.» erinnert im besten Sinne an Wes Anderson. Die Nase vorn für uns hat am Ende Thimios Bakatakis.
BESTES SZENENBILD
«The Lodge»
«Horse Girl» «Vivarium»
«Swallow»
«Die Besessenen»
Weniger ist mehr: «Vivarium» ist dafür der beste Beweis und nutzt die geringen finanziellen Mittel für eine Spielfeldoptik, wie man sie so noch nie gesehen hat. Der in den USA kolossal gefloppte «Die Besessenen» bestach derweil durch schaurig-schönes Nostalgiedesign eines klassischen Geisterhauses.
BESTES KOSTÜMDESIGN «The Gentlemen»
«Birds of Prey»
«Emma.»
«Gretel & Hänsel»
«Ruf der Wildnis»
Böse Bengel in edler Garderobe – nirgendwo kam dieser Kontrast so schön zur Geltung wie in Guy Ritchies «The Gentlemen», wodurch er sich den Sieg vor den buchstäblich märchenhaften Gewändern aus «Gretel & Hänsel» und der stimmungsvoll abgenutzten Funktionskleidung im Abenteuerfilm «Ruf der Wildnis» sichert.
BESTE FILMMUSIK
Christopher Benstead («The Gentlemen») Josiah Steinbrick & Jeremy Zuckerman («Horse Girl»)
Lorne Balfe («Bad Boys for Life»)
Benjamin Wallfisch («Der Unsichtbare»)
Jeff Danna & Mychael Danna («Onward - Keine halben Sachen»)
Josiah Steinbrick und Jeremy Zuckerman kleiden «Horse Girl» in einen unheilvollen Klangteppich, der, wie schon die Kameraarbeit, stark an David Lynch erinnert. Allerdings nicht wie eine bloße Kopie, sondern wie ein völlig neuer, moderner Entwurf des Ganzen – das gehört ausgezeichnet!
BESTER FILMSONG
"Just Sing" («Trolls 2: Trolls World Tour») "Born to Die" («Trolls 2: Trolls World Tour»)
"Carried Me With You" («Onward - Keine halben Sachen»)
Eine Powerballade von Kelly Clarkson, die wirklich bei den Oscar gewinnen dürfte. Aber hört selbst:
BESTES MAKE-UP/BESTE FRISUREN «The Hunt»
«Birds of Prey»
«Ruf der Wildnis»
BESTER SCHNITT «The Gentlemen»
«Bad Boys for Life»
«Der Unsichtbare»
«Vivarium»
«The Assistant»
In Guy-Ritchie-Filmen wird die Schnittarbeit immer zu einer Art weiterer Hauptfigur. Das ist auch im Falle von «The Gentlemen» nicht anders.
BESTER TON
«The Lodge» «Bad Boys for Life»
«Der Unsichtbare»
«Birds of Prey»
«Trolls 2: Trolls World Tour»
Krawall, Stunts und Explosionen – zumindest auf der Tonspur gab «Bad Boys for Life» Einiges her. Das zeichnen wir dann auch gern in der Tonkategorie aus, die ab dem kommenden Jahr übrigens aus den Kategorien "Bester Ton" und "Bester Tonschnitt" zusammengelegt wird.
BESTE VISUELLE EFFEKTE
«Sonic the Hedgehog»
«Die Känguru-Chroniken» «Der Unsichtbare»
«Ruf der Wildnis»
«Birds of Prey»
Die Unsichtbar-Effekte im gleichnamigen Film sind simpel, erfüllen ihren Zweck allerdings tadellos. Das wollen wir auszeichnen und weisen darauf hin, dass wir «Die Känguru-Chroniken» hier absolut aufrichtig für das sehr glaubwürdige Känguru-Design nominieren – das einzig Gute (aber wirklich Gute!) an dem Film.
BESTER ANIMATIONSFILM
«Onward – Keine halben Sachen»
«Mina und die Traumzauberer» «Trolls 2: Trolls World Tour»
«Scoob! Voll verwedelt»
In Ermangelung an Alternativen kann der Preis für den besten Animationsfilm schon mal an die gelungene «Trolls»-Fortsetzung «Trolls 2: Trolls World Tour» gehen. Darüber hinaus empfehlen wir aber auch einen Blick auf den dänischen Kandidaten «Mina und die Traumzauberer», der demnächst sogar in die deutschen Kinos kommen soll.
BESTE DOKUMENTATION «Miss Americana»
«Unantastbar – Der Fall Harvey Weinstein»
Wenig los in dieser Kategorie - zumindest bisher. Beide Filme sind sehenswert. Wir entscheiden uns mit kleinem Vorsprung für die sehr intime Dokumentation «Miss Americana» über Pop-Weltstar Taylor Swift. Doch auch «Unantastbar» über den Missbrauchsfall Harvey Weinstein ist unbedingt einen Blick wert.
Trine Dyrholm spielt im dänischen Erotikdrama «Königin» mindestens genauso überragend wie Oliver Massuci im Rainer-Werner-Fassbinder-Biopic «Enfant Terrible». Und an Quentin Dupieux' «Monsieur Killerstyle» gibt es eigentlich auch kein Vorbeikommen. Die beiden letzten Kandidaten fallen da aus der Konkurrenz – machen aber immerhin eine Top Five voll. Wenn man sich allerdings irgendeinen Film dieser fünf Kandidaten anschauen sollte – und damit man uns nicht nachsagen kann, bemüht patriotisch zu handeln – fällt unsere Wahl auf den ebenso sinnlichen wie spannenden «Königin».