«Hamilton»: I am not throwing away my shot

Der Broadway-Megaerfolg «Hamilton» ist nun als Disney+-Bühnenmitschnitt abrufbar. Was hat es mit dem Phänomen auf sich?

Filmfacts «Hamilton»

  • Regie: Thomas Kail
  • Produktion: Thomas Kail, Lin-Manuel Miranda, Jeffrey Seller
  • Buch: Lin-Manuel Miranda, basierend auf der Alexander-Hamilton-Biografie von Ron Chernow
  • Cast: Daveed Diggs, Renée Elise Goldsberry, Jonathan Groff, Christopher Jackson, Jasmine Cephas Jones, Lin-Manuel Miranda, Leslie Odom Jr., Okieriete Onaodowan, Anthony Ramos, Phillipa Soo
  • Musik: Lin-Manuel Miranda
  • Kamera: Declan Quinn
  • Schnitt: Jonah Moran
  • Laufzeit: 160 Minuten
Was ist «Hamilton»?
«Hamilton» ist ein 2015 uraufgeführtes Musical von Lin-Manuel Miranda, der zuvor «In the Heights» verfasste (eine Filmadaption wird 2021 anlaufen) und seither unter anderem an «Moana», «Mary Poppins' Rückkehr» und «DuckTales» mitwirkte. Der Sohn puerto-ricanischer Eltern widmet sich in seinem Megaerfolg «Hamilton» dem US-amerikanischen Gründervater Alexander Hamilton, der in der Geschichtsschreibung oft in die zweite oder gar dritte Reihe gedrängt wird und somit hinter ausführlicher thematisierten Persönlichkeiten wie John Adams, Samuel Adams, Benjamin Franklin, Thomas Jefferson und George Washington zurückstecken muss.

«Hamilton» nimmt das politische Geschehen rund um die "Geburt" der Vereinigten Staaten von Amerika, das in der US-Popkultur und sogar in den US-Geschichtsbüchern oftmals stark romantisiert wird, und erzählt anhand der komplizierten Dynamik zwischen Alexander Hamilton und dem späteren Vizepräsidenten Aaron Burr, dass die USA auf den Schultern schwieriger Menschen errichtet wurden. Es geht um Opportunismus, verschenkte Leben, vergeudete Chancen und Verrat. Diese "Entzauberung" des US-Mythos, der betont, dass Amerika eher aufgrund seiner Idee, denn aufgrund seiner Taten, zu bestaunen ist, wird begleitet durch eine kompromisslose Modernisierung:

Die Musik ist extrem von Rap und R'n'B beeinflusst, der Cast ist multikulturell. Das kam hervorragend an: Das Album wurde zu einem gigantischen Erfolg, ebenso wie ein "Mixtape" rund um «Hamilton», Tickets für «Hamilton»-Aufführungen wurden zu extrem gefragter Ware und die Broadway-Aufführung wurde mit Tony-Awards überschüttet. Der blitzschnelle Rap-Stil von «Hamilton» führt allerdings auch dazu, dass sich (vor allem, aber nicht nur) Interessierte, die Englisch nicht als erste Sprache beherrschen, vorab besser in die Story rein lesen sollten, um dem Stoff wirklich folgen zu können. Und Untertitel können auch dann und wann helfen.

Worum geht es in «Hamilton»?
«Hamilton» erzählt von den makelbehafteten Menschen, die ein Land gegründet haben, das noch sehr viel Verbesserungspotential aufweist. Obendrein gestattet das Musical aber auch einem heutigen Publikum Bezugspunkte zu Persönlichkeiten, die vor Jahrhunderten gelebt und gewirkt haben: Im Fokus steht Alexander Hamilton, dessen Biografie sich liest wie die eines R'n'B- oder Rap-Künstlers – aus schlechten Verhältnissen stammend, kämpfte und schrieb, schrieb, schrieb er sich nach oben, um Einfluss und Erfolg zu erlangen, sich aber mit großem Ego und vorlauter Schnauze Feinde zu machen.

Ein tragendes Element von «Hamilton» ist daher eine an «Amadeus» erinnernde Geschichte einer von Neid zerfressenden Dynamik zwischen zwei Menschen, die im selben Feld tätig sind. Dabei haben beide Seiten dieses Konflikts, Hamilton und Aaron Burr, ihre Schattenseiten. Ebenso wie das System, das sie mit großen Ambitionen und (teils bloß eingebildeten) Idealen erschafft haben. «Hamilton» zeigt unter anderem, wie Hinterzimmerpolitik die USA schon früh prägte, und wie ein Sex-Skandal mehr Menschen bewegte als eine reale politische Agenda.

Auf emotionaler Ebene ist «Hamilton» zudem ein menschliches Drama über das ständige Gefühl, nicht ausreichend Zeit zur Verfügung zu haben, um alles zu erreichen, das man sich vornimmt, und über die Diskrepanz, die entstehen kann, wenn man Ehre und seinen vermuteten Ruf über das selbstkritische Hinterfragten seiner eigenen Taten stellt. Auf einer Meta-Ebene ist «Hamilton» darüber hinaus ein Aufruf, das amerikanische Ideal der Gleichberechtigung auch endlich mal umzusetzen. Daher ist der Cast historisch-inakkurat vielfältig und die Musik voller Referenzen auf verschiedene Subströmungen der Rap-Musik – auch wenn «Hamilton» neben all dem immensen Lob auch gerade deshalb Kritik erhielt:

«Hamilton» besetzt weiße Geschichte um, statt übergangene nicht-weiße Geschichte aufleben zu lassen. Und das Musical kratzt bei einigen der historischen Personen, die vermeintlich kritisiert werden, noch immer problematische Ecken und Kanten weg. Ob das nun Spitzfindigkeiten sind oder berechtigte Kritik am Stück, können fortan alle Interessierten selber entscheiden, braucht es nun doch keine teure Musical-Eintrittskarte mehr, um «Hamilton» zu sehen, sondern nur ein Disney+-Abo.



Warum jetzt «Hamilton»?
Die nun auf Disney+ veröffentlichte «Hamilton»-Aufnahme entstand im Juni 2016 und besteht aus zwei Broadway-Aufführungen und einer Extraperformence ausgewählter Momente ohne Publikum, um die Kamera in Schlüsselmomenten an Stellen bewegen zu können, an denen sie das Saalpublikum sonst gestört hätte. Obwohl die vorab von den Verantwortlichen aufgestellten Behauptungen, dieser «Hamilton»-Mitschnitt würde das Subgenre der Musical-Aufnahmen revolutionieren, maßlos übertrieben sind: Regisseur Thomas Kail gelang eine stimmige Balance zwischen verschiedenen Bühnenblickwinkeln einerseits und einem filmischen Unterstreichen der Performances andererseits. Cutter Jonah Moran reiht das Material so nahtlos und flüssig aneinander, dass man nicht glauben würde, drei verschiedene Vorführungen zu sehen, die zu einer gestückelt wurden.

Walt Disney Pictures setzte sich im Februar dieses Jahres in einem Bieterkrieg gegen andere Filmstudios und Netflix durch, um das bereits fertiggestellte Material zu erwerben. Disney gab dafür 75 Millionen Dollar aus. Der Vertrag zwischen Disney und den Rechteinhabern sah ursprünglich vor, dass diese «Hamilton»-Aufnahme weltweit ins Kino gelangt. Oktober 2021 wurde als Starttermin anvisiert. Infolge der Corona-Pandemie, die Disneys Quartalszahlen massiv schadete und zudem Theater weltweit dazu gezwungen hat, zu schließen, wurde dieser Plan aber aufgegeben und «Hamilton» diesen Juli auf Disney+ zum Abruf bereitgestellt. So kann Disney seinen Streamingdienst pushen und nebenher bei Millionen von Menschen Sehnsucht erzeugen, zurück in Theater zu gehen, sobald sie wieder öffnen können.

Welche Folgen wird «Hamilton» haben?
Die Antworten auf eine solche Frage sind zwangsweise spekulativ, aber begründete Mutmaßungen sollten auch mal gestattet sein. Da wäre beispielsweise der Aspekt, dass «Hamilton» ein immens populärer Titel auf Disney+ ist, der unter dem Walt-Disney-Banner läuft und ein PG-13 als US-Altersfreigabe hat. Im Vorfeld der Veröffentlichung gab es relativ große Diskussionen darüber, ob «Hamilton» als Geschichte über Politik, Krieg, Intrigen und Ehebruch überhaupt unter dem Disney-Banner laufen "dürfte" und ob das Musical selbst mit mehreren zensierten "Fucks" in den Lyrics ein PG-13 erreichen könnte oder eh ein härteres Rating erhält. Eine Debatte, die nach hiesigem Jugendschutzempfinden lächerlich ist (Disney Deutschland empfiehlt «Hamilton» ab sechs Jahren), die aber nun, da «Hamilton» Disney+ massig Klicks beschert, Disneys Toleranz gegenüber "erwachsen" Stoffen wieder erhöhen könnte.

Denn Disney streckt als Entertainmentgigant seine Fühler da aus, wo sein Publikum gewillt ist, hinzugehen: Als «Fluch der Karibik» als erster Disney-Film ein PG-13 generierte und zu einem enormen Hit wurde, folgten mehrere weitere PG-13-Abenteuerfilme, darunter «Prince of Persia: Der Sand der Zeit» und «Lone Ranger». Da diese Big-Budget-Spektakel wirtschaftliche Enttäuschungen darstellten, ließ die Schlagzahl an Disney-Filmen mit einem PG-13 wieder nach. «Hamilton» könnte eine neue Welle auslösen – und vor allem Disney+ mutiger machen, denn bislang waren Disney+-Exklusivtitel etwas softer und familienfreundlicher als das, was Disney zunächst ins Kino entlässt und danach erst als Archivtitel zu Disney+ schachert.

Darüber hinaus beweist «Hamilton», dass globales Interesse an Musical-Mitschnitten vorherrscht. Nimmt man hinzu, dass Disney+ obendrein einen Taylor-Swift-Konzertfilm im Portfolio hat und bald ein "visuelles Album" von Beyoncé folgen wird, könnte so eine ganze Reihe an musikalischen Disney+-Titeln folgen. «Der Glöckner von Notre Dame» hat beispielsweise eine großartige Bühnenadaption, die nicht wenige Disney-Fans sogar dem Zeichentrickfilm vorziehen – weshalb also nicht auch einen Mitschnitt hiervon und von anderen Disney-Bühnenmusicals online stellen. Und wie wäre es mit Mitschnitten der «Disney in Concert»-Tournee oder eine Veröffentlichung des Muppets-Konzerts im berühmten Amphitheater Hollywood Bowl?

In einer ebenfalls auf Disney+ veröffentlichten Begleitdoku äußert der Cast des Musicals derweil größere Hoffnungen: Er wünscht sich, dass die Veröffentlichung der «Hamilton»-Aufnahme zahlreiche junge, nicht-weiße Menschen inspiriert, endlich Amerika mitzugestalten und auch im Zuge der aktuellen Proteste dem systematischen Rassismus den Kampf ansagt. Ob sie diese Chance überhaupt nutzen können, müssen die kommenden Monate zeigen …

«Hamilton» ist auf Disney+ abrufbar.
05.07.2020 00:10 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/119593