Ein amerikanischer Polizist in England? Kann das gut gehen? Vor allem, wenn er auch noch Wild Bill genannt wird? Das klingt nach einem krachenden Crash of Cultures, ist es aber gar nicht, denn die britische Krimiserie regt eher zum Schmunzeln an und findet in Rob Lowe einen großartigen Hauptdarsteller.
Executive Producer
Rory Aitken
Dudi Appleton
Tim Carter
David Griffiths
Jim Keeble
Kyle Killen
Rob Lowe
Eleanor Moran
Scott Pennington
Keith Redmon
Rob Lowe hatte das Zeug, ein ganz großer Star zu werden. Sein Kinodebüt feierte er 1983 in Francis Ford Coppolas «The Outsiders», unter anderem an der Seite von Tom Cruise. Mit «St. Elmo's Fire» katapultierte er sich in die Champions League der Jungstars der 1980er, um nach gleich zwei Sexskandalen Ende des Jahrzehnts seine Karrieresegel streichen zu können. Dieser Rob Lowe ist also ein Amerikaner in Boston. Boston, Lincolnshire. Die beschaulich wirkende Stadt hat ihre Probleme. Sie ist eine Hochburg des Verbrechens (in der Serie), sie ist eine Hochburg der Brexeeters (auch in der Realität) und ihr Polizeiapparat ist viel zu aufgebläht und mit sich selbst beschäftigt (in der Serie). Kein Wunder, dass in der Stadt niemand den Job des Chief Constables, des ranghöchsten Polizeibeamten, ausüben möchte. Nun gibt es tatsächlich ein Gesetz, nach dem sich etwa irische Staatsbürger oder Kanadier (als Commonwealth-Bürger) im Vereinigten Königreich für den Polizeidienst bewerben können.
In der Serie «Wild Bill» wird dieses Gesetz flugs ein wenig gedehnt und so ist es ein Amerikaner, der die verwaiste Stelle des Chief Constables antritt: Bill Hixon. Und der passt so gar nicht in das Klischee des Hau-Drauf-Cops. Hixon ist charmant, wortgewandt, gebildet. Seine letzte Anstellung hatte der verwitwete Vater einer 14jährigen Tochter in Miami. Dort war er Analytiker, die Straße kennt er im Grunde nur aus der Ausbildung. Hixon ist ein Datensammler, ein Mann, der Profile erstellt, der die Polizei digitalisieren will. Aus genau diesem Grund hat ihn die Stadtverwaltung engagiert. Er soll die Polizei ins 21. Jahrhundert führen, die Ermittlungsmethoden modernisieren – und den Polizeiapparat ausdünnen. Kündigungen inklusive. Dass ihn das nicht unbedingt unter seinen Untergebenen beliebt macht, steht außer Frage.
Es ist durchaus wohltuend anzuschauen, wie die Serie von Anfang an die Erwartungen der Zuschauer unterläuft. Ein Amerikaner in Großbritannien? 1975 war es niemand geringeres als der Duke höchstpersönlich, John Wayne, der London aufmischte. In seinem einzigen nicht-amerikanischen Kinofilm «Brannigan – Mann aus Stahl» gab er eben diesen Lieutenant James Brannigan – ein hartgesottenes Raubein aus Chicago, das in der britischen Hauptstadt einem aus den USA geflohenen Gewaltverbrecher nachstellt. «Brannigan – Mann aus Stahl» ist hart, wenn es um die Action geht, aber auch äußerst launig, wenn der ungehobelte, natürlich selbst im Vereinigten Königreich nie unbewaffnete Chicago-Cop auf einen kultivierten britischen Chief Commander trifft, dem seinerzeit niemand geringeres als Baron Richard Attenborough britisches Understatement verlieh.
Bill Hixon (Rob Lowe) steht in seiner Uniform auf einer grünen Wiese. Weit und breit ist sonst niemand zu sehen.
Nein, mit diesem Lieutenant James Brannigan hat Bill Hixon wirklich wenig Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Für Bill ist England ein Neuanfang. Da ist der Tod seiner Ehefrau, den er noch immer nicht richtig verarbeitet hat. Und dann ist da etwas geschehen: Mit seiner Tochter - und einem Video, das viral ging. Was in dem Video exakt zu sehen war, bleibt offen. Auf jeden Fall hat Bill, als er dem für das Video verantwortlichen Jungen gegenüberstand, wohl nicht als Polizist, sondern als Vater gehandelt. Weshalb er bei der Polizei in Miami selbst Probleme bekam und für einen Neuanfang für sich – und vor allem seine Tochter - nicht nur die Stadt, sondern gleich den Kontinent gewechselt hat.
So also muss sich Bill bald mit den Besonderheiten des britischen Polizeiwesens auseinandersetzen. Etwa der Tatsache, dass es in seinem Boston kein modernes forensisches Institut gibt und vieles noch per „Handarbeit“ erledigt werden muss. Ja, das ist genau der Grund, weshalb die Behörden jemanden wie ihn geholt haben: Er ist der technokratische Modernisierer.
Doch dann geschieht etwas, womit Bill nicht gerechnet hat: Er wird ein echter Polizist.
Tatsächlich ist Bill ein Theoretiker, ein Schreibtischermittler. Und als Boss der Polizei hat er andere Dinge zu tun als selbst auf der Straße Verbrechen aufzuklären. Bis Angie vor seiner Haustür steht. Angie ist die Mutter einer Jugendlichen, die offenbar ermordet worden ist.
Vor Jahren verschwunden, wird ihr abgetrennter Kopf in einem Kühlschrank gefunden. Schnell steht jedoch fest, dass der „Kopfbesitzer“ über einen solch niedrigen IQ verfügt, dass er weder in der Lage wäre, einen Mord zu begehen – ja, man muss davon ausgehen, dass er den Kopf tatsächlich für eine Skulptur hielt, die er der Haltbarkeit wegen eingefroren hat. Bill, der Analytiker, wird von der Situation überfordert und so ist es seine Tochter Kelsey, die die Situation rettet. Es ist früher Abend, Bill hat einen Abendtermin, er bräuchte eh jemanden, der auf Kelsey an diesem Abend aufpasst und kurzerhand fragt Kelsey Angie, ob sie nicht diesen Abend mit ihr verbringen möchte. Es ist Kelsey, die Angie ein Lächeln schenkt. Dieser Moment entzündet in Bill ein Feuer; er verbeißt sich in den Fall – bis zur überraschenden, tragischen Auflösung.
Man kann bemängeln, dass «Wild Bill» relativ wenig aus der Tatsache herausholt, dass eben dieser Bill ein Amerikaner ist. Im Grunde genommen könnte Bill Hixon auch ein Schotte oder Waliser in England sein. Jemand, der mit einigen Eigenarten der Engländer fremdelt. Mehr aber auch nicht. Auf der anderen Seite aber bietet die Serie, indem sie diese Erwartung unterläuft, Rob Lowe viel Platz eine Figur zu kreieren, für die man als Zuschauer sehr leicht Sympathie entwickeln kann. Der Neuanfang, den er in England vollzieht, ist nicht nur ein räumlicher. Der kühle Analytiker entdeckt in der Küstenstadt vielmehr seine eigene Menschlichkeit. Ein Aspekt, der seiner Polizeiarbeit bislang gefehlt hat. In dem Moment, in dem Angie vor ihm steht, bekommen die Daten, die er normalerweise sammelt, plötzlich ein Gesicht. Der kühle Analytiker beginnt selbst den Spuren vor Ort nachzugehen. Er will wissen, was geschehen ist. Und so tragisch die Auflösung dieses ersten Falles auch sein mag: Indem er das Schicksal der toten Tochter aufklärt, erlebt er, was es bedeutet, ein guter Polizist zu sein, jemand, zu dem Menschen Vertrauen fassen können.
Fast ungewöhnlich ist im heutigen Seriendschungel die Tatsache, dass jede Episode tatsächlich einen in sich geschlossenen Kriminalfall erzählt. Da ist etwa die Geschichte eines Obdachlosen, der sein Gedächtnis verloren hat, in der Stadt herumirrt – und sich als fantastischer Pianist entpuppt, dessen Fingerfertigkeit die Menschen in den Bann zieht, der aber offenbar ein dunkles Geheimnis in sich trägt. Oder da ist die Bibliothekarin, deren Vater einst spurlos verschwand. Ist der möglicherweise ein gesuchter Dieb, der vor 15 Jahren untertauchte und nun wieder in Boston sein Unwesen treibt und Senioren ausraubt? Und wenn ja, was hat seine Tochter möglicherweise mit seinen Taten zu tun?
Immer wieder gelingt es den Geschichten, Spannung zu erzeugen, gleichzeitig aber Raum für humorvolle Momente einzubringen. Jene Momente, die dann eben doch die unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen von Briten und Amerikanern gegenüberstellen und die für den eher lockeren Erzählton der Serie sorgen. Die nicht ganz ohne episodenübergreifende Momente auskommt. Neben Bills Aufgabe, die Polizei neu aufzustellen, ist da sein Kleinkrieg mit Oleg Kraznov (dargestellt von dem deutschen Schauspieler Aleksandar Jovanovic), einem russischen Geschäftsmann, der als eine Art Pate von Boston agiert und dem Bill immer wieder in die Quere kommt.
Bei aller Sympathie für die Hauptfigur lässt sich das große Manko der Serie jedoch leider nicht übersehen: «Wild Bill» ist Gefälligkeitsfernsehen. Ein netter Polizist mit einer sympathischen Tochter löst Fälle in der englischen Provinz. Es fehlt «Wild Bill» ein Funken, der wirklich Interesse entzünden würde. «Wild Bill» ist unterhaltsam und bietet mit Rob Lowe einen charismatischen Hauptdarsteller auf, der die Serie locker alleine auf seinen Schultern zu tragen versteht. Aber es fehlt etwas wirklich Zündendes. Die Rahmenhandlung mit Oleg Kraznov wirkt nie wirklich aufregend, sondern recht konstruiert. Da ist eben ein unsympathischer Gangster, der bei seinen Geschäften nicht gestört werden will. Der Protagonist braucht einen Antagonisten. Das ist rein handwerklich nicht zu bemängeln, ist aber eben auch nicht originell. Dafür fehlt es Kraznov an Tiefe, dafür ist sein Handeln zu vorhersehbar.
In Großbritannien startete die Serie mit fast sechs Millionen Zuschauern, um diese Zahl am Ende halbiert zu haben. Der produzierende Sender ITV hat daher auch im November 2019 bekanntgegeben, keine zweite Staffel produzieren zu wollen.
Am Ende bleibt ein starker Hauptdarsteller in Erinnerung. Das kann nicht jede Serie von sich behaupten. Ist aber für ein langes Serien-Leben zu wenig.
Die ersten beiden Episoden strahlt ZDFneo am Freitagabend (31. Juli) aus, die Episoden drei bis sechs folgen, jeweils im Doppelpack, an den folgenden beiden Freitagen. Ab dem 1. August (10 Uhr) wird die gesamte Serie für einen Monat in der ZDF-Mediathek abrufbar sein.
29.07.2020 11:42 Uhr
• Christian Lukas
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