Die sechsteilige Netflix-Miniserie «Der Jahrhundertraub» basiert auf einer wahren Begebenheit, die so verrückt ist, dass sie nur das Leben schreiben kann. Darüber hinaus ist sie auch noch höchst unterhaltsam.
Die spannendsten Geschichten schreibt das Leben, vor allem wenn sie sich um Gauner ranken, die erfolgreich einen großen Coup landen, ohne dass Menschen dabei ernsthaft verletzt werden. In Großbritannien und Deutschland erinnert man sich noch immer mit großer Begeisterung an die „Gentlemen“, die am 8. August 1963 „zur Kasse“ baten und nach einem generalstabsmäßig geplanten und durchgeführten Postzugraub über 2,6 Millionen britische Pfund (rund 55 Millionen Pfund Sterling nach heutigem Wert) erbeuteten.
Was den Briten der „Great Train Robbery“, ist den Kolumbianern ihr „El robo del siglo“, oder «Der Jahrhundertraub», der zwischen dem 16. und 17. Oktober 1994 von einer Bande von vierzehn Haupttätern und mehr als einem Dutzend Mitwissern begangen wurde. Die Gauner erleichterten Kolumbiens Nationalbank um nicht weniger als 24 Milliarden Pesos (umgerechnet rund 45 Millionen US-Dollar) und damit die größte Papiergeldmenge aller Zeiten. «Der Jahrhundertraub» ist heute in Kolumbien eine Art moderner und gefeierter Mythos, ein unvergesslicher Fischzug der Meisterklasse, der viele Bewunderer hat und nun endlich seinen Weg in Form einer Miniserie zu Netflix findet.
Die Ausgangssituation
Der Serienerfinder, Autor und Regisseur Pablo Gonzalez («Kriminalfall: Colmenares»), folgt in seiner Interpretation im Großen und Ganzen den Recherchen des Journalisten Serrano Zabala, der seine Erkenntnisse 2008 in dem Buch „Así robé el banco : el asalto del siglo XX en Colombia“ veröffentlicht hat. Gonzalez zeichnet das Bild zweier pfiffiger und ehrenvoller Profidiebe, die das größte Ding ihrer Karriere nicht einfach nur aus reinem Nervenkitzel planen. Vielmehr steht den beiden langjährigen Freunden das Wasser bis zum Hals. Chayo lebte als Kind auf der Straße und hat es mit Einbrüchen zum Juwelier und Geschäftsmann gebracht. Allerdings ist er hoch verschuldet und kurz davor, alles zu verlieren. Molina, „der Anwalt“, ist ein planerisches Genie und hat seine Gaunerlaufbahn vor vielen Jahren an den Nagel gehängt, nachdem er bei einem Einbruch auf ein Museum angeschossen wurde und dabei eine Niere verlor. Seitdem hängt er an der Dialyse und wird unweigerlich sterben. Seine einzige Chance ist eine Transplantation, die aber in Kolumbien unerschwinglich teuer ist.
Es muss also dringend Geld her – und viel davon. Ein Tipp bringt die beiden Partner schließlich auf die verrückte Idee, ausgerechnet die sicherste Bank ganz Kolumbiens zu knacken. Doch dafür benötigen sie ein schlagkräftiges Team. Infrage kommen nur die Besten und so rekrutieren Chayo und Molina unter anderem den alternden Schweißer „el Dragón“ als Safeknacker, den Elektroniker Estiven und den ehemaligen Crack-Junkie El sardino, die sie von früheren Aktionen kennen.
Zur Sache bitte
Gonzalez handelt die Geschehnisse bis zum eigentlichen Raub in der ersten Episode ein wenig zu schnell ab und übergeht fast gänzlich die sicherlich spannende und akribische Planung. Stattdessen konzentriert er sich auf die Findungsphase der Gaunerclique und führt gezielt die wichtigsten Figuren ein. Jeder Protagonist wird in irgendeiner interessanten Situation gezeigt, die mitten in der Aktion von einem mit Namen und Expertise untertiteltem Standbild unterbrochen wird. Solche Tricks sind nichts Neues und erinnern stark an einige der bekanntesten US-amerikanischen Heist-Movies. Dennoch verfehlt der kleine Kniff seine Wirkung nicht und spart vor allem Zeit, die die Miniserie im Verlauf noch dringend benötigt. Denn die Erzählung konzentriert sich nicht nur auf den Bankraub an sich, sondern vor allem auf die ebenso spannenden wie dramatischen Ereignisse danach.
Zunächst gilt es aber, die wichtigsten Vorabinformationen zu vermitteln und die Zuschauer auf den Stand zu bringen. Das gelingt insgesamt recht gut und wird flott und unterhaltsam abgefrühstückt. Anschließend widmet sich Showrunner Pablo Gonzales ausführlich dem verbrecherischen Masterpiece der Bande. Wenn man den einschlägigen Presseberichten glauben darf, hält er sich dabei weitestgehend an die historischen Fakten und schafft es, die insgesamt fast neunzehn Stunden, die der Überfall dauerte, in zwei 45-minütigen Folgen geschickt zusammenzufassen. Es ist schon spannend mit anzusehen, was trotz der minutiösen Planung alles schief geht und wie es dem Ganoventeam trotzdem gelingt, die 3,8 Tonnen an Papiergeld schließlich auf einen LKW zu verladen und vor der Nase des Militärs zu verduften.
Beziehungsgeflechte aus der Autorenfeder
Der fiktive Part, auf den zum Ende jeder Folge explizit hingewiesen wird, bezieht sich überwiegend auf das teilweise komplizierte Beziehungsgeflecht der Gangster untereinander und auf ihre Leben außerhalb ihres ungewöhnlichen Jobs. Gerade dieser Blickwinkel ist es, der die (Anti-)Helden dieses modernen Gangstermythos‘ zum Leben erweckt und ihnen ein Gesicht verleiht. Molina ist ein durch und durch sympathischer Mensch, der seine Frau über alles liebt und sich nur auf die Sache einlässt, weil sie ihn nicht verlieren möchte. Chayo ist als Dieb skrupellos und scheut auch nicht davor zurück, seine Ganovenfreunde zurückzulassen, wenn es brenzlig wird. Doch auch er hat eine Familie, die er abgöttisch liebt und der er ein luxuriöses Leben bieten möchte. Jede der Hauptfiguren hat eine Geschichte und ein Schicksal, dass zumindest soweit angerissen wird, dass man mit diesen Menschen mitfühlt und ihnen wünscht, dass ihr Husarenstück gelingen möge.
Gut gespielt ist halb gewonnen
Getragen werden die Figuren von einer motivierten Schauspielerriege. Christian Tappan («Narcos», «Snowfall») spielt den „Anwalt“ der in der Story übrigens tatsächlich auch Anwalt ist, so überzeugend klug und herzlich, dass man sich dieser Figur unwillkürlich verbunden fühlt. Marcella Benjumena ist als Doña K ebenso abgekocht wie verletzlich und Juan Sebastián Calero («Narcos: Mexiko») gibt seinem El sardino eine fast unerschütterliche Treue für seinen Mentor Chayo mit auf den Weg. Andrés Parra hat bereits 2012 als Pablo Escobar («Pablo Escobar: El Patrón del Mal») auf Netflix von sich reden gemacht und liefert in «Der Jahrhundertraub» als Chayo eine gute, wenn auch nicht überragende Leistung ab.
© Netflix
Pedro Suarez (“Doria”), Andres Para (“Chayo”), Rodrigo Jerez (“Estiven”), Waldo Urrego (“El Dragon”), Juan Sebastian Calero (“El Sardino”)
Geld allein macht auch nicht glücklich
Der Cast passt gut zusammen und vermittelt dem Publikum eindringlich das Gefühl, dass in einem so großen Team nicht nur Ehrgefühl und romantische Diebesgildenmentalität vorherrscht, sondern jeder Beteiligte seinen eigenen Motiven folgt und der ein oder andere auch vor einem Verrat nicht halt macht. Das wird vor allem in den letzten drei Folgen deutlich, die sich samt und sonders auf die Monate und Jahre nach dem „robo del siglo“ konzentrieren und ohne Zweifel den besten Teil der Miniserie repräsentieren. Gonzales zeigt in intensiven Bildern, dass das viele Geld weder in der Realität, noch in der fiktiven Nacherzählung auch nur einen einzigen der über zwei Dutzend Akteure glücklich gemacht hat. Teilweise mit dokumentarischen Bildern aus Nachrichtensendungen unterlegt, lässt Gonzales sein Publikum am Ende mit gut recherchierten Informationen über das Schicksal der wichtigsten Bandenmitglieder zurück. Einige wurden ermordet, andere betrogen, überfallen und gefoltert oder eben gefasst. Lediglich zwei leben heute noch. Ausgerechnet dem als naiv und fast schon dümmlich dargestellten El sardino gelingt es bis heute als einzigem, sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen. So schillernd der Mythos um den größten Bankraub in der Geschichte Kolumbiens auch immer wirken mag und so bewundernd die Menschen auf die vermeintlichen Helden blicken, die Realität seht eben meistens anders aus.
Fazit: Es ist ein düsteres Bild der Korruption des kolumbianischen Beamtenapparates, dass uns Pablo Gonzales da vermittelt. Das alte Sprichwort „Wer gut schmiert, der gut fährt“ scheint in dem südamerikanischen Land besonders ausgeprägt gelebt zu werden. So darf man Gonzales‘ Verfilmung des Jahrhundertraubs dann auch nicht nur als spannendes Heist-Movie in Überlänge verstehen, sondern auch als unverhohlene Kritik an einen Staat, dessen Beamte bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Hand aufhalten und auch mal Gewalt anwenden, wenn es etwas zu holen gibt. Gerade dieser Ansatz, verbunden mit dem realen Hintergrund der Geschichte und dem dokumentarisch angehauchten Ende machen «Der Jahrhundertraub» so sehenswert. Sicherlich, an einigen Stellen hätte ein wenig mehr Tempo nicht geschadet. Auch manche Figurenzeichnung dürfte gerne etwas weniger flach ausfallen. Aber „El robo del siglo“ überzeugt mit seinem südamerikanischen Flair, der guten Recherche, passend gewählten Schauspielern und einer spannenden Erzählweise.
«Der Jahrhundertraub» kann auf Netflix in spanischer Sprache mit deutschen Untertiteln gestreamt werden.