«Normal People» Staffel 1: Wenig kann so viel sein …
Wir leben in einer Zeit der Bestenlisten, in der ständig nach neuem „Binge-Material“ gesucht wird, und Serien angefangen, abgebrochen, gehypt oder verrissen werden. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass der nächste potenzielle Hit angekündigt wird. Und obwohl all das zutrifft, gilt «Normal People» nach wie vor als Geheimtipp. Zeit, dies zu ändern!
Wenn ein Film oder eine Serie auf einem Buch basiert, das von Fachpresse und Leserschaft gleichermaßen (fast ausnahmslos) gefeiert wird, ist es schon eine beachtliche Leistung, wenn die Adaption qualitativ mit dem Original mithalten kann. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass dies ausschließlich bei einer 1:1-Umsetzung möglich ist. Manchmal lässt der Medienwechsel eine ebensolche auch gar nicht zu und zwingt Regisseur und Drehbuchautor förmlich, andere Wege zu gehen. Es gibt aber auch Fälle, wo man inhaltlich nahe an der Vorlage bleiben und trotzdem selbst Kenner noch einmal neu für den in die Welt der Bewegtbilder überführten Stoff begeistern kann – ein Beispiel dafür ist «Normal People».
Die noch recht junge Schriftstellerin Sally Rooney (Jahrgang 1991) machte bereits 2017 mit ihrem Erstlingswerk „Conversations with Friends“ (hierzulande unter dem Titel „Gespräche mit Freunden“ veröffentlicht) auf sich aufmerksam, das ebenfalls als Serie umgesetzt werden soll. 2018 erschien dann „Normal People“, das in Deutschland tatsächlich „Normale Menschen“ heißt sowie seit Kurzem in hiesigen Buchhandlungen zu finden ist – die Idee, die dem Roman zugrunde liegt, entstammt einer ihrer zahlreichen Kurzgeschichten. Erwähnenswert ist darüber hinaus, dass ein zentraler Schauplatz das Trinity College in Dublin ist, an dem Rooney selbst Politik und Literatur (auch die Studiengänge sind ihren Protagonisten nicht unbekannt) studiert hat. Dennoch sei davor gewarnt, vorschnell eine rein autobiografische Deutung vorzunehmen. In erster Linie wird durch das Wissen um diese Eckpunkte ihrer Vita lediglich erklärbarer, warum sie das universitäre Treiben an ebenjener Hochschule so pointiert zu beschreiben vermag.
Zu Beginn der Handlung ist das Leben in der irischen Landeshauptstadt auch noch Zukunftsmusik. Vielmehr geht es zunächst um die ausklingende Schulzeit der Hauptfiguren Marianne Sheridan (Daisy Edgar-Jones) und Connell Waldron (Paul Mescal) im beschaulichen Sligo. Erstere ist einer der klügsten Köpfe ihres Jahrgangs, etwas eigen, keinesfalls auf den Mund gefallen sowie eine Einzelgängerin und stammt aus einer wohlhabenden Familie. Zweiterer ist ebenfalls ein guter Schüler, sehr zurückhaltend, trotzdem fester Bestandteil einer Freundesclique und ein talentierter (Gaelic-)Football-Spieler. Beide kennen sich seit Kindertagen.
Connels Mutter Lorraine (Sarah Greene), die ziemlich früh mit ihm schwanger geworden und daher noch verhältnismäßig jung ist, arbeitet schon lange für die Sheridans als Haushaltshilfe. Sie ist wahnsinnig warmherzig, lustig und liebenswert und damit das krasse Gegenteil zu Mariannes Mutter, der äußerst kühlen und wortkargen Anwältin Denise (Aislín McGuckin), die außerdem jedes Fehlverhalten ihres Sohnes Alan (Frank Blake) seiner Schwester gegenüber zu rechtfertigen versucht oder schlicht ignoriert. Aber nicht nur den Launen ihres Bruders ist die Heranwachsende ausgesetzt. Auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sind nicht gerade nett zu ihr und lassen in schöner Regelmäßigkeit ziemlich verletzende Äußerungen fallen. Solche Beleidigungen scheinen auf den ersten Blick an der Teenagerin abzuprallen, wer allerdings etwas genauer hinsieht, erkennt, dass es ihr nicht immer leichtfällt, Tag für Tag die Starke zu geben.
Connell redet sich ein, dass es genügt, Marianne – natürlich erst, wenn sie keiner sieht – zu fragen, ob alles okay ist und eben nicht „mitzumachen“. Man könnte fast davon sprechen, dass er ein Doppelleben führt, ein „Spiel“ spielt, das sich jedoch nur für ihn auszahlt. Wenn sie alleine sind, blüht der Sportler – für seine Verhältnisse – regelrecht auf, sie in gewisser Weise auch – aber sie würde ihn nie verleugnen. Connell hingegen macht dies mehrfach. Je näher sich beide in ihrer Blase der Zweisamkeit kommen, desto häufiger streitet er ab, dass sie Zeit miteinander verbringen und einander mögen. Es kommt allerdings der Punkt, an dem selbst die nach außen stets so toughe Marianne diese Situation nicht mehr aushält und einen radikalen Schlussstrich zieht – von seiner Mutter kann Connell kein Verständnis erwarten, sie ist in dieser Angelegenheit komplett auf der Seite der jungen Frau, die sie seit jeher mag und schätzt.
Nach einem Zeitsprung (inklusive Ortswechsel) befindet sich Connell dann wirklich in Dublin, sucht und findet eine Wohnung respektive ein Zimmer, das er sich mit Niall (Desmond Eastwood) teilt, sucht und findet unterschiedliche Nebenjobs und nimmt schließlich ein Literaturwissenschaftsstudium auf. Ein Fakt, an dem man schön sehen kann, wie viel der junge Mann auf die Meinung von Marianne gibt – diese hatte ihn nämlich sehr darin bestärkt, seine Liebe zu Büchern und seine Freude am Schreiben nicht zu ignorieren. Dennoch fällt es ihm sehr schwer, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Als er sich irgendwann mehr schlecht als recht akklimatisiert hat, kommt es zum großen Wiedersehen.
Nun ist Marianne diejenige, die besser integriert zu sein scheint, die Freunde gefunden hat und offenbar sehr beliebt ist. Sie lässt ihren ehemaligen Mitschüler nicht auflaufen, mit purer Herzlichkeit begegnet sie ihm – verständlicherweise – jedoch auch nicht. Es ist anfangs eher ein vorsichtiges Wiederannähern – zumal die Studentin mittlerweile liiert ist. Es dauert aber nicht lange, bis sie immer unzufriedener mit dem Status quo wird und sich eingestehen muss, dass sie Connell vermisst, obwohl er sie so sehr verletzt hat. Ab diesem Augenblick beginnt die Geschichte der beiden gewissermaßen von Neuem …
Wer lediglich um die Rahmenhandlung weiß, könnte leicht zu dem Schluss kommen, es passiere wenig beziehungsweise glauben, dass alles, was dem Publikum präsentiert wird, langweilig sei. Das Gegenteil ist allerdings der Fall: Es ist die zwischenmenschliche Ebene, die im Fokus steht. Die äußere Handlung mag recht unspektakulär anmuten, die innere hingegen ist umso faszinierender – dieser Umstand erinnert sicher nicht umsonst an einige berühmte Kurzgeschichten. Nun ist es jedoch nicht so, dass die Gedanken der Hauptfiguren schlicht via Voiceover hörbar gemacht werden, was den Mehrwert einer solchen Bewegtbild-Adaption gegenüber dem geschriebenen Wort auch deutlich geschmälert hätte.
Stattdessen erhalten wir immer wieder die Möglichkeit, die zahlreichen Momente, die von beredtem Schweigen geprägt sind, für uns selbst mit Inhalt zu füllen und auszudeuten. Interessanterweise wechseln sich in schöner Regelmäßigkeit recht lange und kurze Szenen ab, ohne dass dabei unbedingt ein Muster zu erkennen wäre. Zudem folgt die Kamera zwischenzeitlich nur Connell, nur Marianne oder beiden. So werden auf durchaus originelle Weise die zentralen Themen von «Normal People» zumindest indirekt visualisiert. Denn wenn die Historie dieses „Paares“ eines beweist, dann, dass von der einen auf die andere Sekunde aus Nähe Distanz werden und man nebeneinandersitzen und sich trotzdem in Windeseile innerlich weit voneinander entfernen kann.
Blicke oder längere Pausen werden hier gezielt eingesetzt und sind zentrale Drehbuchbestandteile – wie auch einzelne Sätze oder längere Gespräche, die plötzlich die Stimmung zum Kippen bringen können. Zugegeben, gerade Kammerspiele leben seit eh und je vom Einsatz solcher inszenatorischen Mittel, weshalb es verständlich wäre, wenn einige nicht nachvollziehen könnten, warum das Vorgehen der Macher an dieser Stelle so explizit hervorgehoben wird.
Erfahren Sie auf der nächsten Seite im Detail, was «Normal People» so besonders macht.
Wer sich aber nicht damit begnügt, lediglich für ein paar Minuten in die erste Folge reinzuschauen, sondern sich bereitwillig in das Geschehen hineinziehen lässt, wird ziemlich schnell erkennen, dass das Hulu-BBC-Three-Projekt nicht zufällig mehrfach für einen Emmy nominiert worden ist: in den Kategorien „Outstanding Directing“, „Outstanding Casting“ sowie „Outstanding Writing for a Limited Series, Movie or Dramatic Special“. Denn die Symbiose dieser drei als auszeichnungswürdig erachteten Leistungen stellt so gesehen das Alleinstellungsmerkmal dar, das verhindert, dass man «Normal People» als typischen Vertreter eines Genres einfach wegsortieren kann. Diese zwölf Episoden hinterlassen einen bleibenden Eindruck, weil mehrere Menschen ihr Handwerk so gut verstehen (unter anderem diejenigen, die für die äußerst atmosphärische musikalische Untermalung verantwortlich zeichnen), dass das entstandene große Ganze so viel mehr geworden ist als die Summe seiner „Einzelteile“.
Im Kern geht es nämlich auch um Selbst- und Fremdwahrnehmung und damit letztlich um eine Frage, die sich aus dem Titel der Serie ableiten lässt: Bin ich „normal“? Das Interessante ist nun die Antwort. Verkürzt könnte diese in etwa folgendermaßen lauten: Es ist normal, nicht normal zu sein. Das wäre allerdings viel zu plakativ und hätte mehr mit einem Kalenderspruch als mit echtem Tiefgang zu tun. Hier steht der Weg zur Erkenntnis im Vordergrund und weniger die Erkenntnis selbst – und das spannenderweise in zweifacher (individualisierter) „Ausführung“.
Die Hauptfiguren befinden sich quasi von Anfang an in einem einzigen großen Wechselbad der Gefühle – manchmal ist es auf „hoher See“ windstill und manchmal tobt ein regelrechter Sturm; und obwohl es im ersten Moment so aussieht: Nicht immer dreht sich alles um ihre Gefühle füreinander. Es geht mindestens genauso sehr um sie als Individuen, die aus verschiedenen Gründen mit sich hadern. De facto sind beide jedoch sehr unzufrieden, und die Ursachen dafür haben doch mehr miteinander zu tun, als es zuerst den Anschein hat. Wenn sie aber zusammen sind, können sie diese Unzufriedenheit ausblenden.
„Seelenverwandte*r“ ist inzwischen bedauerlicherweise zu einem geradezu inflationär gebrauchten Begriff geworden, dem in Deutschland auf STARZPLAY beheimateten Format gelingt es allerdings eindrucksvoll, einer sinnentleerten Worthülse wieder zu altem Glanz zu verhelfen. Die zwei geben einander Kraft und helfen sich wiederholt dabei, über sich hinauszuwachsen. Sie erleben den jeweils anderen auch in seinen verwundbarsten Augenblicken – wobei ihre komplexe Beziehungsstruktur maßgeblich dazu beiträgt, dass diese Situationen nicht die Ausnahme bleiben.
Man kommt immer wieder mit dem Duo an einen „Soll es vielleicht einfach nicht sein?“-Punkt. Doch exakt gegen ein Nicken als Reaktion auf diese Frage erzählen Regisseurin Hettie MacDonald und Regisseur Lenny Abrahamson auf Grundlage der Bücher von Alice Birch, Mark O’Rowe und der ebenfalls stark eingebundenen Sally Rooney „bildgewaltig-intim“ und konsequent an. Sie ermöglichen es den Zuschauerinnen und Zuschauern, das zu spüren, was zwischen den Zeilen steht beziehungsweise immer mitschwingt. Man nimmt förmlich den Atem der „Verbundenen“ wahr und sitzt gefühlt stets mit im Zimmer, läuft neben ihnen durch die Straßen oder lauscht ihren Unterredungen am Strand aus nächster Nähe. Kurz: «Normal People» versteht es, eine Unmittelbarkeit zu erzeugen, die einen mehrfach vergessen lässt, dass es sich hierbei um Fiktion handelt.
Und das liegt vor allem an den Stars: Daisy Edgar-Jones und Paul Mescal, zwei echten Newcomern, die jedoch mutmaßlich nicht mehr lange als ebensolche gelten werden. Ihre in dieser Staffel gezeigten Performances lassen keinen Zweifel daran, dass es mehr als nur verdient wäre, wenn Casting-Direktorin Louise Kiely bei den diesjährigen Emmys ausgezeichnet werden würde. Rohdiamanten dieser Güteklasse zu finden, ist hochgradig selten, und den Mut zu haben, auf ein bekanntes Zugpferd zu verzichten, obwohl dies finanziell sicher machbar gewesen wäre, noch seltener. Und dieser Mut, auf unverbrauchte Gesichter zu setzen, hat sich nicht nur ausgezahlt, sondern war auch eine zwingende Voraussetzung, um bei der Zuschauerschaft die gewünschte Wirkung erzielen zu können: ein Höchstmaß an Authentizität.
Deswegen ist es auch vollkommen unverständlich, dass lediglich Mescal am 21. September die Chance hat, einen der bedeutendsten Preise der Branche zu gewinnen. Zum einen war es selten so offenkundig, dass die starken Leistungen der Hauptdarsteller primär darauf zurückzuführen sind, dass sie sich permanent gegenseitig gepusht haben, also der eine nie hätte ohne die andere so „strahlen“ können. Zum anderen ist es nicht sonderlich abwegig, dass im Falle einer erzwungenen Entscheidung nicht wenige die Darbietung von Edgar-Jones als die minimal stärkere benannt hätten, und zwar vermutlich mit der Begründung, dass ihr Spiel insgesamt gesehen das facettenreichere und nuanciertere ist. Diese feinen Übergänge von der einen zur anderen Emotion werden von ihr so gekonnt über minimale Veränderungen der Mimik oder der Betonung wahrnehmbar gemacht, dass man nur hoffen kann, dass ihre Szenen Schauspielstudentinnen und -studenten so frühzeitig wie möglich im Rahmen ihrer Ausbildung gezeigt werden.
In diesem Zusammenhang sollte wohl auch ein Fakt angesprochen werden, den einige zu einem großen Vorzug der Serie erklären – allerdings so, dass man gelegentlich beinahe von „Vorspiegelung falscher Tatsachen“ sprechen könnte. Ja, es ist richtig, dass «Normal People» seinem Anspruch, die Realität möglichst unverfälscht darzustellen, gerade auch in Bezug auf Nacktheit gerecht wird. Doch das meint nicht, dass Sequenzen, in denen es zum Sex kommt, nur des Effekts wegen eingebaut worden wären oder mit dem Hintergedanken, besonders provokant oder polarisierend sein zu wollen. Diese Minuten dienen vielmehr dazu, auf einer anderen Ebene die Entwicklung von Mariannes und Connells Beziehung respektive das, was sie auszeichnet, zu veranschaulichen. Somit lassen sie sich durchaus auch als Kritik an einem Phänomen der Gegenwart verstehen: der oftmals fehlenden Bereitschaft vieler, auch Schwierigkeiten gemeinsam durchzustehen beziehungsweise sich überhaupt zu binden und dem Hang dazu, von einer „lockeren Geschichte“ in die nächste „zu stolpern“. Die implizite Botschaft: Es macht einen Unterschied, ob man mit jemandem schläft, für den man viel empfindet und mit dem einen eine Menge verbindet oder ob man mit jemandem schläft, den man praktisch nicht kennt.
So werden diese Phasen der innigen Zweisamkeit zu einem Sinnbild für Vertrauen. Ebendieses entsteht aber bekanntlich nicht von jetzt auf gleich und kann auch (zeitweise) verloren gehen. Dies passt insofern zu den Studenten, weil sie bis zur letzten Einstellung damit beschäftigt sind, sich selbst zu finden. Dieser Prozess beinhaltet auch Rückschläge, jedoch ist das dann von ihnen geforderte „Sich-Berappeln“ elementar, um dem angesprochenen Ziel einen großen Schritt näherzukommen. Dies erfordert wiederum ein Überwinden von Selbstzweifeln, ein „Mit-sich-ins-Reine-Kommen“, ein Lernen aus den eigenen Fehlern und die Fähigkeit, sich selbst vergeben zu können. Darum hat die ständig wiederkehrende Frage „Bist du okay/Ist alles okay?“ fast etwas Leitmotivisches, wodurch sich auch die Verknüpfung zu dem Komplex „Wie definiert man eigentlich normal?/Bin ich normal?“ leicht herstellen lässt.
Denn die jeweiligen Antworten bilden schließlich das Fundament, auf dem diese tiefgründige, berührende, ruhige und dennoch mitreißende Serie fußt. Eine Serie, die die magischen drei Worte nur sehr sparsam verwendet, ihnen dadurch aber eindeutig mehr Gewicht verleiht und beim Publikum den Wunsch reifen lässt, mehr über diese „ungewöhnlich-normale“ Liebe zu erfahren.
Staffel 1 von «Normal People» ist auf STARZPLAY verfügbar.
30.08.2020 06:00 Uhr
• Florian Kaiser
Kurz-URL: qmde.de/121012