Serientäter: «Away» – oder warum die Serie keine zweite Staffel erleben wird

Fliegen eine Amerikanerin, ein Russe, eine Chinesin, ein Inder und ein Brite zum Mars. Das ist nicht der Anfang eines schlechten Witzes, sondern die Zusammenfassung eines derben Serienflops. Mit «Away» hat Netflix keinen Hit gelandet. Eine zweite Staffel wird es nicht geben. Was ist da passiert?

Stab

SHOWRUNNER: Andrew Hinderacker
REGIE: David Boyd, Charlotte Brändström, Brownen Hughes, Edward Zwick, Jet Wilkinson, Jeffrey Reiner
HAUPTAUTOREN: Andrew Hinderacke, Chris Jones, Aditi Brennan Kapil
EXECUTIVE PRODUCER: Jessica Goldberg, Andrew Hinderaker, Adam Kassan, Jason Katims, Jeni Mulein, Edward Zwick, Hilary Swank, Michelle Lee
MUSIK: Will Bates
KAMERA: Brian Pearson, David Boyd, Timothy A. Burton
PRODUKTIONSDESIGN: David Sandefur
DARSTELLER: Hilary Swank, Josh Charles, Vivian Wu, Mark Ivanir, Ray Panthaki,, Ato Essandoh, Talitha Eliana Bateman, Monique Gabriela Curnen, Adam Irigoyen, Felicia Patto
Da konnte Netflix gleich zu Beginn einen Namen in den schwerelosen Raum werfen, der aufhorchen ließ. Für die Hauptrolle ihrer Scifi-Serie «Away» konnte mit Hilary Swank eine zweifache Oscar-Preisträgerin gewonnen werden. Sicher gehört sie nicht zu den ganz großen Kassenmagneten Hollywoods, ihre darstellerischen Qualitäten aber stehen außer jeder Diskussion. Am 10. Juni 2018 gab Netflix den Auftrag zur Produktion offiziell bekannt, deren Showrunner Andrew Hinderaker sich von einem Artikel des Magazins «Esquire» über den amerikanischen Astronauten Scott Kelly und dessen Vorbereitungen auf einen Flug zur ISS inspirieren ließ. Kein anderer amerikanischer Astronaut hat so viel Zeit im All verbracht wie Kelly. Der amerikanische Journalist Chris Jones hat Kelly nicht nur lange auf seinen Wegen begleitet, die beiden haben sich irgendwann auch angefreundet und Jones gehört auch zum Autorenstab der Serie, womit der Weg vorgegeben wurde: «Away» sollte in der Darstellung des Fluges so real wie möglich wirken. Keine Alien-Sichtungen, keine riesigen Asteroiden, die zufällig Kurs auf die Erde nehmen und aufgehalten werden müssen. Nein, «Away» sollte eine Geschichte erzählen, die sich so nah wie möglich an einem Was-wäre-wenn-Szenario entlang bewegt. Gleich im Pilotfilm etwa gibt es noch vor dem Start einen Zwischenfall auf der Mondstation, von der aus die Mars-Rakete starten soll. Durch eine Unachtsamkeit bei Routinewartungsarbeiten wird fast eine Explosion ausgelöst, weil Schweiß mit einer Säure reagiert. Solch einen Zwischenfall hat Scott Kelly selbst erlebt, und so sind viele von Kellys Erlebnissen in die Netflix-Serie eingeflossen.

Atlas zum Mars
«Away» erzählt die Geschichte der Mission der Atlas, an der Emma Green (USA / Hilary Swank), Lu Wang (VR China / Vivian Wu), Misha Popou (Russland / Mark Ivanir), Kwesi Weisberg-Abban (Vereinigtes Königreich / Ato Essandoh) und Ram Arya (Indien / Ray Panthaki) teilnehmen. International soll die Crew sein, um den Menschheitsaspekt zu betonen. Hier startet kein Land ins All – hier startet die menschliche Rasse. Als Kommandantin wird Emma Green erkoren. Nicht ganz zur Freude der anderen Mitglieder. Da die USA den größten Anteil der Kosten tragen, soll eine Amerikanerin die Mission leiten. Aber Emma ist für den Zwischenfall, der fast zu einer Explosion führt, verantwortlich. Und vor allem der russische Kosmonaut Misha traut ihr nicht die Führungsqualitäten zu, die nötig sind, um vor allem in Ausnahmesituationen einen kühlen Kopf zu bewahren und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Misha wird als der Mann in die Geschichte eingeführt, der mehr Zeit im All als jeder andere Mensch verbracht hat. Er ist nicht einfach ein Profi. Er lebt im All. Im Grunde kennt er sich besser an Bord von Raumschiffen aus als im Supermarkt auf der Erde.

Doch schon hier beginnt die Serie zu scheitern, indem sie zwar gewisse Animositäten auftreten lässt, die hinter den Kulissen herrschen, aber gerade aus dem Konflikt Misha / Emma nur sehr wenig herausholt. Ja, man hadert etwas mit Emmas Qualitäten, aber … nichts aber. Es spielt bald keine echte Rolle mehr. Man denkt eben in Hierarchien und da steht Emma an der Spitze der Nahrungskette. Was zu einem zweiten Problem führt. Obwohl «Away» ein Ensembledrama ist, spielen zumindest die männlichen Astronauten nur untergeordnete Rollen. Das kann man als einen Akt der Emanzipation verstehen – waren es früher die Frauen, die als hübsches Beiwerk dienen mussten, sind dieses Mal die Männer die Staffage. Man kann es aber auch von der Perspektive aus betrachten, dass fünf Darsteller, die ungefähr 70 oder 80 Prozent der Spielzeit von zehn Serienepisoden Präsenz zeigen müssen, auf Augenhöhe agieren sollten. Das aber geschieht nicht. Ja, die Männer haben ihre Auftritte. Aber es sind kurze Blinklichter. Der Fokus richtet sich ganz auf Emma. Und ein bisschen auf die Chinesin Lu Wang.

Von Ehen und Schlaganfällen
Emma wird als Ehefrau eines NASA-Ingenieurs in die Geschichte eingeführt. Schon im Pilotfilm wird klar, dass beide ins All wollten, Matt, Emmas Mann, dies aber nicht geschafft hat. Nun ist es an Emma, ihre gemeinsamen Sehnsüchte zu erfüllen. Wie unterschiedlich die beiden ticken, zeigt sich ebenfalls bereits im Pilotfilm, auf der Erde, während eines Fußballspiels. Da steht ihre Tochter alleine vorm Tor. Doch statt zu schießen, spielt sie noch einmal auf eine Mitspielerin ab, die den Ball irgendwo gen Pazifik über das Tor. Emma versteht nicht, warum Alexis, ihre Tochter, nicht geschossen hat. Ihr wäre das Tor nicht zu nehmen gewesen. Matt sieht es mit Gleichmut. Ihm fehlt diese Entschlossenheit, das Tor auch wirklich schießen zu müssen. Fußball ist halt nur ein Spiel. Für ihn...

Führt die Astronauten ihr erster Weg zum Mond, um von dort aus die Mission aufnehmen, ereilt Matt nur Stunden vor dem Start ein Schlaganfall. Die NASA entscheidet sich jedoch, Emmas Wunsch, die Mission fortzuführen, zu erfüllen. Schon aus politischen Gründen. Kurz vor dem Start die Kommandantin austauschen? Solch einen Eingriff will niemand vornehmen. Selbst unter den gegebenen Umständen nicht. Matt stimmt zu, Emma startet.

Womit die große Langweile beginnt.
Zehn Episoden, jede von ihnen etwa 50 Minuten lang, umfasst diese eine Staffel «Away». Und es passiert nichts. Oh, eigentlich passiert immer wieder etwas. Den indischen Astronauten Ram etwa ereilt ein Koller und fast öffnet er eine Außenlucke. Dieses Szenario ist tatsächlich nicht ausgeschlossen. Die Stille, die Einsamkeit, irgendwann wird daraus ein Gefühl des Verlorenseins, welches durchaus psychotische Züge annehmen und Menschen ereilen kann, die in Dutzenden Tests zuvor ihre Eignung für eine solche Mission bewiesen haben. Ein kleiner Prozentsatz Unsicherheit bleibt immer. Oder da sind Mishas plötzlich auftretende Sehprobleme. Auch hier trifft die Realität die Fiktion. Tatsächlich berichten sagenhafte 70 Prozent aller Astronauten von einsetzenden Problemen mit ihren Augen. Allerdings war noch kein Mensch so lange an einem Stück im All wie die Astronauten der Serie, so dass Mishas Probleme eben auch zum Problem der Mannschaft werden. Es gibt halt keinen Augenarzt auf den nächsten paar Millionen Kilometern. So betrachtet gibt es immer wieder Momente, in denen die Mission aus der Spur gerät oder gar zu scheitern droht.



Aber all das wird auf zehn Episoden gestreckt, auf rund 500 Minuten Spielzeit – und dafür reicht all das nicht. Im Grunde nämlich agieren die fünf Darsteller fast zu professionell. Sie sind Astronauten und somit fünf Profis, die einen Job ausüben, für den sie teils Jahrzehnte ausgebildet worden sind. Auch hier möchte die Serie die Realität so nah wie möglich berühren, diese Astronautinnen und Astronauten sind keine Spacken aus einem Ridley-Scott-«Prometheus»-Quatsch, die auf fremden Planeten ohne Schutzanzüge aus einem Raumschiff steigen und sich dann wundern, Pollen eingeatmet zu haben, die sich auf ihre Körper eher suboptimal auswirken. Nur solche Profis handeln in der Regel eben vernunftorientiert. Selbst die Folgen von Rams psychischem Zusammenbruch werden dadurch gelöst, dass die anderen Crew-Mitglieder wie Profis handeln.

Es ist lobenswert, dass «Away» ein Szenario nah an einer möglichen Realität entwirft. Nur leider ist es nicht spannend, Astronauten zehn Episoden lang dabei zuzuschauen, wie sie zum Mars fliegen. Zumindest nicht für solche Serienschauer, die in der Sciencefiction vor allem die Fiktion schätzen und weniger den Science-, also den wissenschaftlichen Aspekt. Natürlich gibt es Fans von Hardscience, jene Scifi-Leser und Filmgucker, die etwa einen Film ausschalten, wenn man im All die Raketentriebwerke eines Raumschiffes hört (es gibt keine Luft, also können sich Schallwellen auch nicht ausbreiten). Oder da gibt es diese Art von Hardscience-Fans, die den Mitguckern eines «Star Wars»-Filmes erklären, warum es physikalisch unmöglich ist, so etwas wie ein Laserschwert herzustellen. Ja, die gibt es, keine Frage, und die werden diese Serie wahrscheinlich sehr für ihre Akkuratesse loben. Sie stellen aber keine Mehrheit dar. Die tatsächliche Mehrheit wünscht sich vermutlich eben doch etwas Action, Spannung, Drama. Von dem «Away» auf 500 Minuten Spielzeit dann eben nicht unbedingt viel bietet. Weshalb die Serie immer wieder den Spielort Raumschiff verlassen muss.

Da Emma nun einmal im Mittelpunkt steht, geht es in diesen Schwenks gen Blauer Planet in rund der Hälfte dieser Erdbesuche um Matt. Darum, wie er sich zurück ins Leben kämpft und wie Emma Matt fehlt – und Matt Emma. Auch wenn die beiden oft miteinander reden: Reden ist nun einmal etwas anderes als bei einem Menschen zu sein, ihn in den Arm zu nehmen, ihn Auge in Auge anzutreiben. Leider entwickelt dieser Handlungsstrang einen schalen Nachgeschmack. Emma begibt sich an dem Tag, an dem ihr Mann von einem Schlaganfall niedergestreckt wird – einen Mann, mit dem sie eine glückliche Ehe führt – , zum Roten Planeten. Irgendwie fühlt sich dies von Anfang an falsch an. Selbst wenn dieser Flug ihr gemeinsamer Traum ist, lässt Emma Matt in dem Moment zurück, in dem er sie am dringendsten braucht. Und nein, es geht nicht darum, dass die Frau den Mann in dieser Situation zurücklässt. Die gleiche Kritik würde auf Matt zutreffen, wäre er der Kommandant und Emma würde einen Schlaganfall erleiden.

Natürlich ist es möglich, Emmas Entscheidung zu akzeptieren. Sie wird Menschheitsgeschichte schreiben und ihr Mann unterstützt sie ohne Wenn und Aber. Doch emotional baut sich von Zuschauerseite aus auf diese Weise sehr früh eine Distanz zur Hauptfigur auf, die diese im Verlauf der zehn Episoden nie wirklich überwinden kann.



Die chinesische Taikonautin
Einzig der Handlungsstrang um die chinesische Taikonautin Lu Wang, der ist überraschend und bringt dann eine gewisse Emotionalität mit, welche Emma fehlt. Für Lu ist der Flug ins All eine Flucht. Eine Flucht aus einer lieblosen Ehe. Ja, sie hat einen Sohn, den sie liebt und den sie zurücklässt, aber ihre Beweggründe sind nachvollziehbar. Ihr Leben ist eine einzige Lüge. Lu ist lesbisch, aber in einem Staat wie der Volksrepublik darf sie keine Frauen lieben. Dafür ist sie zu bedeutend, zu sehr ein Symbol der Größe ihres Landes: Ein Symbol, das die ihr zugedachten Rollen erfüllen muss.

Dazu gehört, dass sie zu den ersten fünf Menschen auf dem Mars gehören wird.
Dazu gehört, dass sie eine perfekte Ehe mit einem perfekten Mann und einem perfekten Kind führt. Dazu gehört nicht der Mensch hinter diesem Symbol.

Hier ergibt sich eine Handlung, die sich diskret gegen die Selbstzensur Hollywoods richtet, wo man, um seine Filme auf dem chinesischen Markt auswerten zu dürfen, seit Jahren ein durchweg positives China-Bild verbreitet (siehe etwa «Der Marsianer» – um im Genre zu bleiben). Ein 2016 an den amerikanischen Rechnungshof von sechzehn demokratischen und republikanischen Kongressabgeordneten adressierter Brief hat diesen explizit dazu aufgefordert, chinesische Investitionen in der Entertainmentbranche der USA genauer zu prüfen, um deren (ideologischen) Einfluss zu unterbinden. Gebracht hat es nicht viel, denn mit dem 200-Mio-Dollar-Spektakel «Mulan» hat Disney letztlich sogar einen Film 2020 in die chinesischen Kinos gebracht, der vor allem das chinesische Publikum becircen sollte. Das mag als Rohrkrepierer geendet sein, zeugt aber von der Besessenheit amerikanischer Filmproduzenten am chinesischen Markt. Diesbezüglich tickt «Away» anders. Vielleicht aber auch nur, weil es in der Volksrepublik eh kein Netflix gibt.

Zurück zum Serienflop
Egal, ob Emma den Zuschauern eine Fremde bleibt oder Wus Geschichte für Filmanalysten durchaus interessant ist: Unterm Strich scheitert «Away» an einem ganz simplen Faktum – seiner Langeweile. Es ist einfach nicht krachend, spannend oder fetzig fünf Menschen in einer Metallröhre 500 Minuten lang zuzuschauen, wenn nicht zumindest alle 15 Minuten etwas Aufregendes passiert.

Es mag ja sein, dass die Idee auf dem Papier gut ausgesehen hat. In Serienform ist sie gescheitert. Schade, dass Netflix keine Daten zum Sehverhalten seiner Zuschauer herausrückt. Tatsächlich startete die Serie am 4. September 2020 und stand zwei Wochen später in den Netflix-Charts (in Deutschland) ganz oben. Was eigentlich ein Indiz für den Erfolg einer Serie darstellt. Doch am 19. Oktober (http://www.quotenmeter.de/n/122079/netflix-setzt-away-ab) wurden die Triebwerke ausgeschaltet und eine zweite Staffel wird es nicht geben. Es wäre interessant zu erfahren, wie viele Zuschauer die Serie wirklich bis zum Ende verfolgt haben. Mutmaßung: Die Abbruchrate dürfte gewaltig sein; es ist anzunehmen, dass am Anfang des Streamings ein sehr großes Interesse bestand, die Serie ein Publikum fand, die Abrufzahlen gut bis sehr gut waren – um dann irgendwann nach vier, fünf Episoden in den Keller zu rauschen. Wie gesagt, das ist nur eine Mutmaßung. Von der Hand zu weisen ist sie nicht.

«Away» kann bei Netflix gestreamt werden.
03.11.2020 11:14 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/122365