Serientäter: «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo»

Die Fotografie ist edel, die Ausstattung bemerkenswert, der Soundtrack hypnotisch. Ist dies wirklich die serielle Aufarbeitung der Geschichte der Christiane F., die 1978 zunächst als Buchveröffentlichung, 1981 dann auch als Verfilmung Deutschland-West erschüttert hat? Amazon hat auf jeden Fall geklotzt und nicht gekleckert. Die von Philipp Kadelbach inszenierte Serie sieht in jeder Einstellung einfach umwerfend aus. Aber was macht das mit der Geschichte?

Stab

DARSTELLER: Jana McKinnon (Christiane), Lena Urzendowsky (Stella), Lea Drinda (Babsi), Michaelangelo Fortuzzi (Benno), Jeremias Meyer (Axel), Bruno Alexander (Michi), Karin (Angelina Häntsch), Sebastian Urzendowsky (Robert), Nik Xhelilaj (Dijan), Tom Gronau (Matze)
REGIE: Philipp Kadelbach
HEADAUTORIN: Annette Hess
AUTOREN: Linda Brieda, Christiane Kalls, Johannes Rothe, Lisa Rüffler, Florian Vey
PRODUZENTEN: Oliver Berben, Sophie von Uslar
KAMERA: Jakub Bejnarowicz
MUSIK: Michael Kadelbach, Robot Koch
KOSTÜME: Nicole Fischnaller
MASKE: Gerhard Zeiss
SZENENBILD: Bernd Lepel
Das Buch «Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» hat 1978 die Bundesrepublik schockiert. Entstanden ist dieses Buch eher zufällig. Der Berliner Journalist Horst Rieck verfolgte einen Prozess vor dem Amtsgericht Moabit, in dem ein Geschäftsmann angeklagt worden war, minderjährige Prostituierte statt mit Geld mit Heroin bezahlt zu haben. Rieck sprach nach einer Verhandlung die gerade einmal 15 Jahre alt Christiane Felscherinow an. Eigentlich wollte er nur ein Gespräch mit ihr führen. Aus dem auf zwei Stunden angesetzten Gespräch entwickelte sich eine zweimonatige Fallstudie, in der Christiane F., wie sie später genannt wurde, Rieck ihre gesamte Lebensgeschichte erzählte.

Vom alkoholkranken Vater über ein Leben am sozialen Rand der Gesellschaft in einer Hochhaussiedlung - über erste Erfahrungen mit Heroin bis hin zur Prostitution im Schatten des Berliner Bahnhofs Zoo. Erschien ihre Erzählung zunächst als Artikelserie im Stern, folgte etwas später eine Buchveröffentlichung. Christiane F. zeigte das andere Deutschland-West, ein Deutschland jenseits der schönen Fassaden. Drogensucht stellte kein Tabu-Thema in jener Zeit dar. Das zu behaupten wäre falsch. Jedoch gab es diesen Aspekt einer Schuldzuweisung, der eine breite gesellschaftliche Debatte fast unmöglich machte. Wer Drogen nahm, war eben selbst schuld an seiner Misere. Äußere Umstände? Interessierten jenseits einiger sozialpädagogischer Zirkel doch niemanden. Es gab legale, gesellschaftlich akzeptierte Drogen wie Alkohol und Zigaretten. Und eben die anderen.

Wem die legalen Drogen nicht ausreichten, musste halt selbst sehen, wie er oder sie damit klarkam. Bis Christiane F. auf der Bildfläche erschien. Ein Mädchen von 15 Jahren, das durch ihren Namen plötzlich keine Fallzahl mehr in einer Statistik darstellte. Ihre Geschichte hat seinerzeit eine Debatte angestoßen, die maßgeblich den Umgang mit Drogensuchterkrankungen hierzulande verändert hat. Die Verfilmung des Buches hat 1981 die Geschichte der Christiane F. schließlich auch in die letzten Winkel der Republik getragen.

Genau diese Verfilmung lässt sich heute kaum noch anschauen. Es gibt Filme, die altern nicht sonderlich gut. Und es gibt Filme wie «Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo». Ursprünglich sollte der Regisseur Roland Klick den Film inszenieren. Der hatte 1974 mit «Supermarkt» bereits einen Film über einen kleinkriminellen Heranwachsenden in St. Pauli inszeniert, welcher einerseits als Milieustudie bezeichnet werden kann, auf der anderen Seite aber einen überraschenden Thrilleraspekt in die Handlung integriert, wenn Willi in einen vollkommen aus dem Ruder laufenden Raubüberfall verwickelt wird. Der heute weitestgehend vergessene Film gilt unter Filmfreunden, die ihn kennen, als intelligenter Gegenentwurf zum pädagogisch-überheblichen Autorenfilm der Entstehungszeit, denn statt das Publikum von oben herab zu belehren, nimmt «Supermarkt» das Publikum mit.

Wie Klicks «Christiane F.» wohl ausgesehen hätte?
Zwei Wochen vor Drehstart wurde er auf jeden Fall von Bernd Eichinger gefeuert und statt seiner nahm Uli Edel auf dem Regiestuhl Platz. Ist Klick heute fast vergessen, gehört Edel dank edler (TV-)Großproduktionen wie «Die Nebel von Avalon», «Julius Cäsar» oder «Der Baader Meinhoff Komplex» zu den wohl bekanntesten Namen der deutschen Regiezunft. Dass der gebürtige Breisgauer dort heute steht, verdankt er in erster Linie seiner Verfilmung der Geschichte der «Christiane F.»: Einem Film, der sich kaum für seine Protagonistin interessiert. «Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» kann im Grunde nur aus der Perspektive des Jahres 1981 neutral bewertet werden. Da gab es also dieses Buch über die Folgen einer Drogensucht. Also hat Edel diese Geschichte als eine einzige Warnung umgesetzt: Kinder, lasst die Finger von den Drogen! Das ist sicher nicht zu bemängeln. Drogen sind Mist.

Aber im Grunde hat er nur eine Szenenfolge drastischer Bilder produziert, die mit einem pädagogisch erhobenen Zeigefinger vor den Folgen einer Sucht warnen. Das hat 1981 funktioniert, weil der Film zu einer Zeit entstand, in dem eine gesellschaftliche Diskussion auf Hochtouren lief, zu der Edel nun nicht den Soundtrack, sehr wohl aber die passenden Bilder geliefert hat. Mit 40 Jahren Abstand aber wirkt «Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» wie eine müde Nummernrevue. Christiane kommt aus einem beschissenen familiären Milieu, lebt in einem beschissenen Wohnumfeld, schulisch läuft auch alles beschissen, irgendwann setzt sich den ersten Schuss und – fühlt sich beschissen. Am Ende überlebt sie zwar, aber das ändert nichts daran, dass alles um sie herum beschissen bleibt.

Als Zeitdokument ist «Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» sicher von Relevanz. Doch aus der Perspektive der Jetztzeit – ausschließlich unter narrativen Gesichtspunkten betrachtet - ist es ein sehr, sehr schwacher Film, denn es gibt nicht einen Moment, der glaubhaft erklärt, warum Christiane F. ihr Heil über ihren ersten Schuss hinaus in Drogen sucht! Dieser erste Schuss schießt sie nicht in eine bessere Welt voller Einhörner – oder gibt ihr zumindest das Gefühl, dass das Sein nicht unerträglich wäre.

An diesem Punkt sei ein Vergleich mit «Trainspotting» erlaubt. «Trainspotting» wurde 1996 in einigen Kritiken vorgeworfen, er verharmlose die Drogensucht seiner Protagonisten durch seine schönen Bilder und teils irrwitzigsten Ideen (wie der dreckigsten Toilette Schottlands, unter der sich aber ein azurblauer Ozean befindet). Man kann diesem Film sicher einiges vorhalten – aber Drogensucht beschönigt er keinesfalls. Er zeigt nur auf, weshalb seine Protagonisten Drogen nehmen: Weil diese Drogen sie die Illusion erleben lassen, sie aus ihren Dasein als gesellschaftliche Außenseiter zu befreien. Der jeweils nächste Trip führt sie für einen Moment an einen besseren Ort. Ihre Sucht wird für die Zuschauer des Films nachvollziehbar. Und sie wird keinesfalls heruntergespielt. Ein tragisches Ereignis, der Tod eines Kindes in ihrer Mitte, ist jener Bruch, der all die von Drogen berauschten Momente, denen sie sich so mit Inbrunst hingeben, als fürchterliche Trugbilder entlarvt.

Die Serienadaption
Wie schon 1981 hat die Constantin das Thema umgesetzt, dieses Mal jedoch in acht Episoden. Und die Erzählung der Christiane F. dient dieser Serie im besten Fall als ein loses Handlungsgerüst. Es gibt mit Sicherheit Momente, die Realität und Fiktion miteinander vereinen. Aber diese Serie ist keine semidokumentarische Fallstudie, sie ist eine Fantasie, die nicht einmal exakt die Zeit bestimmt, in der sie spielen soll. Es werden die späten 1970er Jahre sein, vielleicht die frühen 80er.

Da sind die Frisuren und die Autos, die Telefone, die Kleidung, ja sogar die Schaufensterbeschriftungen, die jene Assoziationen wecken. All das ist mit einer Akribie und mit einer Perfektion umgesetzt, dass all dies schlicht staunen lässt. Allerdings arbeitet die Inszenierung mit anachronistischen Brüchen. Zieht es Christiane und ihre Freunde etwa in die Clubs der Stadt, erinnern diese eher an die Clubszene der späten 90er (nur ohne Raver); auch die Kamera fängt Bilder ein, die in ihrer elegischen Szenengestaltung heutigen Sehgewohnheiten entsprechen und dadurch einen Bruch im Zeitkontinuum darstellen. Das visuelle Konzept ist auf jeden Fall faszinierend und in dieser Form im Rahmen einer deutschen Serienproduktion schlicht herausragend.

Doch worum geht es?
Schon die Christiane der Serie unterscheidet sich von der Christiane des Buches und des Filmes eklatant, denn an sich stammt sie aus einer netten Familie. Allerdings einer Familie mit Problemen. Ihre Eltern sind sehr jung. Gerade einmal Anfang 30. Während ihre Mutter einem Bürojob nachgeht, ist ihr Vater ein Träumer. Man möchte ihn keinen Versager nennen, dafür ist er auf seine Art und Weise einfach – zu nett. Aber bislang hat er nichts auf die Beine gestellt bekommen. Keinen Job, keine Perspektiven. Er hat Ideen, aber wirklich durchdacht ist keine davon. Das Umfeld, in dem Christiane aufwächst, ist nicht ideal. Aber es ist auch kein Umfeld, in dem das, was unvermeidlich kommen wird, von Anfang an festgeschrieben stünde. Es gibt schlimmere Umfelder, in denen man aufwachsen kann. In einem solchen lebt ihre Freundin Stella aus Charlottenburg. Stella wirkt taff, aber das ist eine Fassade, die sie zum Selbstschutz um sich herum errichtet hat.

Ihre Mutter betreibt eine Kneipe und ist sich selbst die beste Kundin. Wenn sie mal wieder eine Entziehungskur macht, muss Stella den Laden schmeißen und sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern. Ihr taffes Auftreten verschafft ihr Anerkennung: eine Anerkennung, die ihr in ihrem familiären Umfeld, in dem sie viel zu früh viel zu viel Verantwortung zu tragen hat, verwehrt bleibt. Um das gute Gefühl, das sie erfährt, wenn sie etwa in der Schule taff auftritt, länger genießen zu können, greift sie zu Mitteln, die diesen Zustand länger am Leben erhalten...

Babsi indes erscheint aus der Zeit gefallen. Ihre Kleider, ihr Haarschnitt: Babsi wirkt als wäre sie direkt einem Film wie «Menschen am Sonntag» entstiegen, einem Werk aus längst vergangenen Zeiten. Was kein Zufall ist: Ihre Großmutter war ein Stummfilmstar. Ein Star, der vergessen sein mag, aber Babsi nach strengen Regeln zu einer anständigen Bürgertochter zu erziehen gedenkt. Mit Ansprüchen, denen Babsi, egal, was sie auch tun mag, nicht gerecht werden kann. Ihre Großmutter ist ein herrischer Mensch, der keine Widerworte duldet, worunter auch Babsis gleichfalls im Haus lebende Großtante leidet. Babsis Mutter ist Tänzerin, stets unterwegs und ihr Interesse an ihrer Tochter fällt übersichtlich aus. Ihr Vater, den sie sehr geliebt hat, ist tot. Der Zufall führt Babsi mit Stella und Christiane zusammen und so entsteht eine Sechserclique, der auf der männlichen Seite zunächst einmal Benno angehört, der bei einem wenig liebevollen Vater aufwächst und eine Ausbildung zum Schlosser macht. Auf der Arbeit hat er Axel kennengelernt, einen lieben Kerl, der vor allem etwas besitzt, was mit Gold nicht zu bezahlen ist: Eine eigene Wohnung! Schließlich ist da noch Michi, der in einem Reisebüro eine Ausbildung absolviert. Er ist cool, einschmeichelnd, er weiß sein gutes Aussehen zu seinem Vorteil einzusetzen. Allerdings ist all das eine Fassade, hinter der er seine Homosexualität versteckt.

Regisseur Philipp Kadelbach lässt es langsam angehen. In der ersten Episode spielen Drogen so gut wie überhaupt keine Rolle, vielmehr erschafft Kadelbach, der zuletzt die ZDFneo-Serien «Parfum» inszeniert und für die BBC die Alternativweltstory «SS-GB» umgesetzt hat, eben genau die Art von Umfeld, die dem Spielfilm von 1981 fehlt: Ein Umfeld, in dem sich ein Suchtgeschehen entwickelt und sich Momente ergeben, die erklären, warum die Protagonisten irgendwann zu dem Glauben gelangen, Drogen seien eine Lösung – und nicht das Problem. Die Abwärtsspirale setzt sich langsam in Gang. Wo die Christiane F. des Spielfilms quasi vom ersten Moment an zum Sturzflug ansetzt und ins Dunkel springt, sind es in der Serie Momente, die in den Abgrund führen. Für Christiane ist es das zerspringen ihrer fragilen, aber heilen Welt. Ihre Mutter wird schwanger, ihr Vater verspricht sein Leben umzukrempeln, was ihm aber nicht gelingt und die Ehe scheitern lässt. Stella steht unter dem ständigen Druck der Verantwortung. Babsi sucht nach der Liebe, die sie durch den Tod des Vaters verloren hat.

Und immer wieder sind es Drogen, die ihnen für einen Moment genau das geben, was sie suchen.

Das Problem der Serie sind die männlichen Figuren. Nimmt sich die Inszenierung ausgiebig(st) Zeit, Christiane, Stella und Babsi als komplexe Persönlichkeiten zu inszenieren, die eine Entwicklung durchleben, die sie nach und nach in den Untergang führen wird, inklusive Momente der Hoffnung, des Erwachens, aber auch wieder des Resignierens, werden die männlichen Charaktere im Grunde als fertige Figuren in die Szenerie gestellt. Ein Desinteresse der Regie oder der Headautorin Annette Hess an den Charakteren zu behaupten, mag übertrieben sein. Aber eine besondere Zuneigung erfahren sie in der Inszenierung nicht. Sie erfüllen hier und da dramaturgisch notwendige Momente, doch der Fokus ist derart auf die jungen Frauen gerichtet, dass man immer wieder Gefahr läuft, die Namen der männlichen Protagonisten der Geschichte zu vergessen.

Wenn Stella und Babsi irgendwann beginnen sich zu prostituieren, um ihre Heroin-Sucht finanzieren zu können, Christiane sich noch wehrt, schließlich aber vom Sumpf, in dem sie langsam zu versinken droht, überspült wird, sind dies Momente volle Tragik: Solche Momente fehlen auf der Seite ihrer männlichen Gegenparts. Auch die weiteren Ensemble-Figuren dienen vor allem dazu, Stellas, Babsis und Christianes Schicksal greifbar zu machen. Was mit den jungen Männern passiert, ist kaum von Belang.



Dieses Ungleichgewicht wird irgendwann auch zu einem Problem für die Dramaturgie und die Spiellänge der Serie. Erzählen die ersten vier Episoden vor allem die Geschichte eines (sehr) langsamen Abstiegs in eine Sucht mit all ihren Körper und Geist vernichtenden Konsequenzen, müssen in der zweiten Hälfte allerlei Spannungsmomente erschaffen werden, die die Story über noch einmal vier Episoden tragen. So etwa ist da der Nebenstrang mit einer sektenähnlichen Gemeinschaft, in deren Obhut sich Christiane zwecks Entzug begibt. Dieser Handlungsstrang ist in einer irritierenden Weise vorhersehbar, dass er fast wirkt, als hätte man ihn nachträglich ins Drehbruch gedrückt, um am Ende acht Episoden mit bewegten Bildern füllen zu können.

Dennoch: All der hier aufgeführten Schwächen zum Trotz weiß die Serie am Ende dank der hervorragend gezeichneten weiblichen Hauptfiguren und der brillanten Kamera zu überzeugen. Sie spielen über die Schwächen hinweg.

«Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» ist eine internationale Co-Produktion zwischen Constantin Television und Amazon. Als Co-Produzenten beteiligt sind Wilma Film (Tschechien) und Cattleya (Italien).
19.02.2021 13:00 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/124915