Die Kritiker: «Tatort – Schoggiläbe»

Der Mord an einem Schokoladenfabrikanten wirft Fragen auf. Der Mann ist in seiner Villa erschlagen worden, der Täter hat mehrfach brutal auf seinen Kopf eingedroschen. Dennoch liegt auf dem Schreibtisch ein vom Opfer verfasster Abschiedsbrief, wie er für einen Selbstmord typisch wäre. Die Ermittlerinnen Ott und Grandjean stehen vor einem Rätsel.

Stab

REGIE: Viviane Andereggen
REDAKTION: Urs Fitze, Lilian Räber, Gabrielle de Gara (alle SRF) sowie Birgit Titze (ARD Degeto)
PRODUKTION: Jessica Hefti, Lukas Hobi, Reto Schaerli
DREHBUCH Stefan Brunner, Lorenz Langenegger
KAMERA: Martin Langer
MUSIK: Fabian Römer
SCHNITT: Constantin von Seld
DARSTELLER: Carol Schuler, Anna Pieri Zuercher, Rachel Braunschweig, Aaron Arens, Elisa Plüss, Igor Kovač, Peter Jecklin, Csémy Balasz, Levente Molnar

Schweiz / Deutschland 2020
«Schoggiläbe» erzählt im Grunde zwei Geschichten. Auf der einen Seite ist da die Geschichte eines Mordes (also ein Kriminalfall), auf der anderen Seite ist da die Geschichte zweier Frauen, die sich in tiefster Abneigung gegenüberstehen, aber aufgrund ihrer familiären Banden aneinander gefesselt sind (also ein Drama). Die Schnittmenge ist der gewaltsame Tod des Fabrikanten Chevalier, der ermordet in seiner Villa aufgefunden wird. Die Ermittlerin Tessa Ott kannte das Mordopfer flüchtig. Tessa entstammt einer sehr wohlhabenden Familie und ist in diesem Teil von Zürich, wo man auf der Schokoladenseite das Leben lebt (was das Schweizer Wort Schoggiläbe ausdrückt), aufgewachsen. Sie erinnert sich, dass der Ermordete, wenn sie als Kinder an der Tür für einen guten Zweck Süßigkeiten verkauften, stets sehr großzügig das Portemonnaie geöffnet hat. Der Tote war ein alleinerziehender Vater; es gab Gerüchte über sein Privatleben, aber die haben Tessa als Kind nicht interessiert. Sie erinnert sich an einen freundlichen, großzügigen Menschen. Nun aber, da dieser Hans-Konrad Chevalier ermordet in seiner Villa liegt, wird sein Privatleben natürlich interessant. Ein Privatleben, in dem er versucht hat, seine Homosexualität vor der Welt zu verbergen.

Ja, das war sein gut gehütetes Geheimnis: Er hat Männer geliebt.

Das war's? Er war schwul? Und das hat er vor der Welt verborgen? Warum?

Die Antwort trägt einen Namen: Mathilde Chevalier – seine Mutter. Die Matriarchin der Schokoladenfabrik, hat ihren Sohn für seine Homosexualität verachtet. Vor allem hat sie ihm Zeit seines Lebens ihre Verachtung spüren lassen und – zum Wohle der Firma - ein Bild von ihm in der Öffentlichkeit aufgebaut, das mit dem wahren Hans-Konrad wenig zu tun hatte. So spielte er im Grunde genommen sein Leben lang eine Rolle – zu der auch eine Tochter gehörte: Claire. Eine Tochter, für die Hans-Konrad nie ein echter Vater sein durfte, da seine Mutter ihre Erziehung bestimmt hat. Sie hat sie auf ein strenges Internat geschickt, sie hat ihr Leben genauso geplant wie das ihres Sohnes. Mit einem Unterschied: Wo Hans-Konrad irgendwann aufgegeben und das von seiner Mutter für ihn bestimmte Leben gelebt hat – in dem seine Homosexualität nicht existieren durfte -, hat Claire gegenüber Mathilde eine tiefe Abscheu entwickelt. So ist ihr Verlobter Mathilde ein Dorn im Auge. Sie hält ihn, einen Anwalt, für einen Schwächling. Darüber hinaus macht sie Claire dafür verantwortlich, dass das Unternehmen rote Zahlen schreibt. Die Versuche der Enkeltochter, das seit Jahren defizitär arbeitende Unternehmen umzubauen, etwa dadurch, dass sie auf Fair Trade setzt und den Namen Chevalier für neue Zielgruppe interessant machen will, verachtet sie als neumodischen Kram. So trauert Mathilde nicht etwa um ihren Sohn. Sie nutzt vielmehr seinen Tod, um sich (mit einem Trick) wieder an die Spitze des Unternehmens zu setzen. Nach einem schweren Schlaganfall hat sie Hans-Konrad die Leitung des Unternehmens überschreiben müssen, der wiederum hat seine Tochter das operative Geschäft führen lassen. Nun kickt sie Claire aus ihrer Position.

Mathilde-Darstellerin Sibylle Brunner und Elisa Plüss in der Rolle der Claire Chevalier sind die eigentlichen Stars dieses «Tatort»s. Und selten hat man zwei Figuren aufeinanderprallen gesehen, die eine solche Verachtung füreinander empfinden. Jeder einzelne Satz verströmt im Grunde gegenseitige Geringschätzung, wenngleich die Gründe für ihre gegenseitigen Animositäten unterschiedlicher kaum sein könnten. Auf der einen Seite steht die Matriarchin, die einen Namen zu bewahren gedenkt und die einen Widerspruch an ihren Entscheidungen als einen Angriff auf ihre Person betrachtet. War ihr Sohn für sie eine Enttäuschung, da er einfach „kein echter Mann“ in ihren Augen gewesen ist, ist Claire für sie eine Niederlage, da diese einfach nicht verstehen will, dass sie, Mathilde, doch immer nur das Beste für sie gewollt hat. Es ist eine harte Welt dort draußen und es überlebt im Haifischbecken dieser Geschäftswelt nur, wer die anderen frisst. Und dann kommt Claire mit Fair Trade und solch einem Nonsens des Weges. Claire wiederum verachtet Mathilde einfach dafür, dass sie in ihren Augen ein bösartiger, schlechter Mensch ist. Sie braucht keine Meta-Ebene für ihren Hass. Ihr Hass ist rein.



Sybille Brunner und Elisa Plüss lassen es krachen; ihrer Geschichte ist das ganz große Drama. Ein Drama, das bedauerlicherweise die Inszenierung niemals ein Gleichgewicht finden lässt. Denn so packend ihre Geschichte auch sein mag, so großartig die Schauspielerinnen ihre Charaktere ihre gegenseitige Verachtung spüren lassen – so wenig weiß der Kriminalfall tatsächlich zu überzeugen. Der ist nämlich, trotz der irritierenden Ausgangssituation (Mord mit Abschiedsbrief), gar nicht so kompliziert, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Tatsächlich finden die Ermittlerinnen sehr bald erste Spuren, die dann auch recht geradlinig zur Auflösung des Falles führen. Leider besitzt die Inszenierung nicht den Mut, die Ermittlungsarbeiten und die Ermittlerinnen tatsächlich in die zweite Reihe dieses Spielfilmes zu dirigieren und den eigentlichen Kriminalfall zur Nebenhandlung herabzustufen, um das Familiendrama ganz in den Mittelpunkt zu rücken. Die Inszenierung bemüht sich um eine 50/50-Gewichtung, die sie jedoch nur dadurch erreicht, dass sie die Handlung der Kriminalgeschichte ausschmückt. Etwa durch einen Nebenstrang, in dem es um Tessa Otts Abneigung gegen Waffen geht. Ihre Abneigung geht so weit, dass sie ihre Waffe nicht lädt – was in einem Gefahrenmoment tatsächlich zu einer echten Bedrohung für Leib und Leben werden wird, wobei dieser Gefahrenmoment im Grunde konstruiert werden muss, um jene Spielzeit zu erreichen, die notwendig ist, Drama und Kriminalhandlung in jenes Gleichgewicht zu führen, das die Geschichte an sich gar nicht braucht. Im Grunde braucht es die Kriminalhandlung nur, um einen Showdown zwischen Großmutter und Enkeltochter einzuleiten. Alles, was über die gegenseitige Verachtung dieser beiden Frauen für die Story relevant ist, wird im Laufe der Handlung an die Oberfläche gespült, der Mord setzt nur nur eine Lawine in Gang gesetzt, die schon lange vorhersehbar gewesen ist.

Etwas weniger Krimi, etwa mehr (Fokus aufs großartige Familien-)Drama hätten diesem «Tatort», gut getan. Er ist, bei aller Kritik, unterhaltsam. Aber er hätte mehr sein können. Das Potenzial schlummert in ihm. Es ist nur leider nicht freigelassen worden.

«Tatort – Schoggiläbe» ist am Sonntag, den 28. Februar 2021, im Ersten zu sehen.
26.02.2021 11:00 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/125158