Rosen schnuppern mit Helga Beimer

Michael Horlings Erinnerungen ein Jahr nach dem Aus der «Lindenstraße».

Exakt am 29. März 2020 ging für viele Menschen in Deutschland die Welt unter. Genau vor einem Jahr lief die letzte der 1758 Folgen der «Lindenstraße», die seit 1985 ausgestrahlt worden war. Nach fast 35 Jahren warfen ARD beziehungsweise WDR die Serie von Hans W. Geißendörfer aus dem Programm. Zum Jahrestag schaute sich Michael Horling nochmals die letzte und auch die allererste Folge an. Und machte sich Gedanken dazu.

„Im Juni 2014 war es, als ich in Bad Kissingen Helga Beimer traf, um auf einem Foto (siehe unten) für sie quasi als Erich Schiller zu erscheinen. In der Kurstadt an der Saale wurde eine Rose nach der Schauspielerin benannt. Viele Jahre zuvor, es muss in den 90er gewesen sein, weilte Marie Luise Marjan, also eigentlich Marlies Wienkötter, im Schweinfurter Vorort Bergrheinfeld und weihte irgendein Küchenstudio ein. Schon damals war ich als Fan und auch Reporter vor Ort. Als Anhänger der Lindenstraße, der in den knapp 35 Jahren keine einzige Minute verpasste. Keine einzige, wirklich!

Und ja, als die Nachricht vom Aus irgendwann 2019 kam, da waren wir zuhause arg geknickt. Sonntagabend, anfangs 18.40 Uhr, später dann 18.50 Uhr: Das war für uns wie der Gottesdienst am Feiertag. Auch wenn ich zugeben muss: Im Laufe der Jahre saß ich immer seltener, nein: eigentlich fast nie mehr bei der Ausstrahlung vor dem TV-Gerät. Im Winter besuchten wir um diese Zeit oft Eishockeyspiele in Schweinfurt, im Sommer saßen wir im Biergarten. Die ‚Lindi‘ wurde aufgezeichnet. Und immer öfter im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wurde es Montag, dann Dienstag, manchmal Mittwoch oder gar Donnerstag, bis wir die letzte, die aktuelle Folge anschauten.

Trotzdem kam das Aus irgendwie überraschend und machte uns ein bisschen sauer auf den Sender, zumal die Serie in den letzten Jahren wieder an Format gewann. Wir trauerten 2015 mit Helga Beimer um Erich Schiller, dann um ihren ‚Hansemann‘. Joachim H. Luger wollte eher freiwillig aussteigen, schaffte es nicht zu denen, die in Folge eins und in Folge 1758 dabei waren – so wie zum Beispiel auch Akropolis-Wirt Vasily (Hermes Hodolides), Gaby Zenker (Andrea Spatzek) oder Klaus Beimer (Moritz A. Sachs).

Ja, der Klausi: Mit dem wuchs ich auf, selbst wenn er rund zehn Jahre jünger ist als ich. Fast jeden Sonntag sah man sich. Also: Ich ihn. Auch er wurde Journalist und kannte die Nöte als Freiberufler. Nun muss er auf die Gage der «Lindenstraße» verzichten. Ich habe nicht mehr die wöchentliche Verpflichtung, etwas zu schauen, was mir allerdings über mehr als drei Jahrzehnte große Freude bereitete. Und ja: Als Alex´ Freundin Josi starb, da habe ich vor dem Fernseher geheult.... Ich fand Jack ziemlich hübsch, sorgte mich die letzten Jahre um Carsten Flöter und war in den 90ern stolz wie Bolle, als ich ein Original-Autogramm von Iphigenie Zenker mit persönlicher Widmung bekam. Also von Rebecca Siemoneit-Barum, die mit ihrem Zirkus in der Gegend gastierte.

Ein Jahr ohne ‚Lindi‘: Dem Anlass angemessen war es, an diesem Tag nochmal die erste und die letzte Folge zu schauen. Nacheinander. Um festzustellen: 35 Jahre sind eine Menge an Zeit. Was damals irgendwie revolutionär erschien, sieht heute längst komplett altbacken aus. Aber es war eben der Anfang einer ganz langen Erfolgsgeschichte. Und gleich zum Start durfte man die Beimers kennenlernen, die schließlich gar nicht so biedere Familie, wie es zunächst schien. Um Tochter Marion, eine der wenigen Figuren, die im Laufe der Zeit zwei Darstellerinnen hatte, mussten sie sich Sorgen machen – was später immer weniger vorkam. Dafür verzapften die drei Herren des Hauses so einigen Mist. In Folge eins deutete darauf noch nichts hin.

Und ja: Wir gewannen gleich zu Beginn einige Personen lieb: Else und Egon Kling, der 1998 beim Finale der Fußball-WM in Paris den Serientod starb; Philo und Joschi Bennarsch, an sich viel netter als die Klings, aber nicht lange dabei; Gabi Skabowski (spätere Zenker) und den viel zu früh verstorbenen Benno Zimmermann. Aids, damals ein Thema, über das tagelang diskutiert wurde; Zollhauptsekretär Siegfried Kronmayr und Kindergärtnerin Elfie Hoffmann, beide viel zu kurz dabei, aus denen hätte man was machen können. Oder Playboy und Tennis-Lehrer Stefan Nossek. Der wurde nur wenige Jahre später von einem Auto angefahren und starb. Erblindet war er, angeschossen vom Kind Klausi Beimer. Ja, solche Geschichten schrieb nur die «Lindenstraße»...

Sprung in den März 2020 und auf das Finale, nach 34 Jahren und vier Monaten, nach 7032 Drehtagen, nach 52.770 Sendeminuten. Zum Abschied gönnen ARD und WDR der «Lindenstraße» anstatt der üblichen 29 Minuten stolze 33 Minuten und 28 Sekunden. Alleine das zeigte die fehlende Wertschätzung. Wenigstens einen 90-Minütiger hatte man doch aufbieten können oder gar einen Kinofilm zum Schluss. Na gut, der wäre wegen Corona wohl gefloppt.

Aber in der Serie steckte noch viel mehr Erzählpotenzial. Was die letzten Wochen schon zeigten. Dass Anna Ziegler mit Wolf Lohmaier diesmal ungesühnt schon wieder jemanden unter die Erde bringt, diesmal eher indirekt, muss man ihr deshalb verzeihen. Offen bleibt, wie sie und Helga Beimer mit dem über Jahrzehnte schwierigen Verhältnis weiter ausgekommen wären. Einzig eigentlich der Tod vom ‚Hansemann‘ im Wald verband die beiden ja.

Im Mittelpunkt des Finales: Helgas 80er Geburtstag und die große Feier im ‚Akropolis‘. Vom Fest sieht man nichts, nur von den Vorbereitungen. Als sie das Restaurant betritt, endet die Lindenstraße für immer. Und irgendwie schloss sich in dem Moment auch für den Verfasser dieses Beitrags der Kreis: Panaiotis Sarikakis führte das Lokal in den Anfangsjahren. Schauspieler Kostas Papanastasiou hatte tatsächlich eines: Das ‚Terzo Mondo‘ in der Grolmanstraße am Berliner Savignyplatz zu besuchen, war zur Jahrtausendwende ein großes Erlebnis. Fast noch aufregender, als mit Helga Beimer an Rosen zu schnuppern...“
29.03.2021 11:00 Uhr  •  Michael Horling Kurz-URL: qmde.de/125851