Kein Handy, keine Papiere. Wo sollte der Tote sie auch aufbewahren? Der Mann, der dort in einem Waldgebiet bei Münster gefunden wird, ist nackt. Boerne und Thiel brauchen jedoch nicht lange, um die Identität des jungen Mannes in Erfahrung zu bringen. Und dieser junge Mann pflegte einen interessanten Lebensstil.
Stab
REGIE: Brigitte Maria Bertele
DREHBUCH: Elke Schuch
KAMERA: Timon Schäppi
MUSIK: Christian Biegai, Kerim Fahning
MASKE: Thorsten Esser, Simone Schlimm
REDAKTION WDR: Sophie Seitz
SCHNITT: David J. Achilles
Der Mai-«Tatort» aus Münster hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Er hat Stärken. Aber auch Schwächen. Doch alles der Reihe nach. Die Identität des Toten ist auf jeden Fall schnell geklärt. Maik Koslowski lautet sein Name und dieser Maik Koslowski lebte in einem alternativen Wohnprojekt vor den Toren der Stadt – 1968 hätte man dies wahrscheinlich eine Kommune genannt. Ein paar alte Hütten, ein paar alte Busse: Das ist der Wohnpark, in dem Maik Koslowski als Gemüsebauer arbeitete, als Aktmodel posiert und Kurse zu Themen wie „Sexualität und Tantra“ gab. Vor allem aber war er ein Verfechter freier Liebe. Mit Männern und Frauen gleichermaßen.
Feinde hatte er keine, denn er lebte sein Leben so frei – dass es einfach keine Geheimissen gab. So steht Thiel als ermittelnder Kommissar vor einem Rätsel. Wie gut, dass sein Vadder die Gemeinde ganz zufällig kennt, sichert sie ihm doch einen schicken Nebenverdienst: Er verkauft hier Gräser, die definitiv nicht zur Aussaat gedacht sind. Thiel lässt seinen Vater diesen Nebenverdienst durchgehen, wenn der sich als Gegenleistung ein bisschen unter den Bewohnern umhört.
Währenddessen sucht Thiel den Mann, der die Leiche gefunden hat. Ein Spaziergänger hat diesen Leichenfund nämlich gemeldet – um sich nach dem Eintreffen der Polizei still und heimlich zu verabschieden. Durch einen Zufall gelingt es Thiel nicht nur, den Mann ausfindig zu machen, er kann ihm sogar nachweisen, dass er nicht zufällig die Leiche gefunden hat, sondern dass er vom Mörder zur Leiche geführt worden ist. Der Fall ist also geklärt? Mitnichten. Der Spaziergänger ist nämlich ein katholischer Priester und als solcher ans Beichtgeheimnis gebunden. Immerhin aber bringt Thiels Vater tatsächlich einen Namen in Erfahrung, der Zündstoff in sich birgt. Maik Koslowski hatte – unter anderem – eine Affäre mit einem Mann namens Johannes Hagen. Der ist nicht nur Polizist wie Thiel – er ist der Pressesprecher der Münsteraner Polizei und als solcher nicht weniger als das Gesicht der Behörde in der Öffentlichkeit.
Einen Kollegen ins Visier der Ermittlungen zu nehmen, ist alles andere als eine Lappalie. Thiel jedoch glaubt einen Trumpf in Händen zu halten. Ein Haar, das in einer Nackenspalte des Toten gefunden worden ist und definitiv nicht von diesem stammt. Ein Haar, das Boernes Assistentin Haller verloren geht, was diese jedoch nicht meldet.
Die «Tatort»e aus Münster sind nicht unbedingt für ihre allzu komplexen Handlungen bekannt und leben in der Regel von ihren Figuren und der Situationskomik. «Rhythm and Love» richtet seinen Figurenfokus in diesem Fall überraschenderweise nicht auf die beiden Kalauer-Könige aus Westfalen. Statt dessen sind es Haller-Darstellerin ChrisTine Urspruch und der Neue im Bunde – Mirko Schrader (Björn Meyer), Thiels Assistent, die im Mittelpunkt des Interesses stehen. Nun stellt ChrisTine Urspruch seit dem ersten «Tatort» aus Münster die Figur der treuen Boerne-Assistentin Silke „Alberich“ Haller dar und hat dieser Figur durchaus in all den Jahren eine gewisse Schärfe verliehen. Zu dieser Schärfe gehört, dass sie stets absolut korrekt handelt. Sie ist das Gewissen der Pathologie. Die Geschichte der Silke Haller wirkt daher in diesem «Tatort», wie man im Amerikanischen sagt, „out of character“.
Dass ihr ein Fehler widerfährt, das ist menschlich und wird in diesem Film auch erklärt (sie hat Überstunden geschoben, ist erschöpft und ihre Bitte, die von Boerne verlangten Tests etwas hinauszuschieben, werden von diesem schlicht überhört – so nimmt das Unglück seinen Lauf). Dass sie diesen Fehler jedoch – zumindest zeitweise – zu vertuschen versucht, das passt nicht zu dieser so korrekten Figur. Immerhin findet die Geschichte einen Dreh, ihren Fauxpas in die Geschichte in der Art einzufügen, dass sie sich immerhin einer Person offenbart: Thiels Assistenten Mirko Schrader, der nun selbst nicht unbedingt unter dem einfachsten Chef zu arbeiten hat – und daher der logische Ansprechpartner für Silke Haller ist. Was wiederum die Tür öffnet, diesen Assistenten endlich etwas besser kennenzulernen. Nachdem Thiels langjährige Assistentin Nadeshda Krusenstern ausgerechnet während eines Gastauftrittes in einem Dortmunder «Tatort» auf die liebloseste Art und Weise aus der Serie hinausgeschrieben worden ist, die den Autoren einfiel, bekam ihre Darstellerin Friedericke Kempter dann wenigstens im großartigen Münsteraner Schattenwelt-«Tatort»
«Limbus» den ihr gebührenden Abschied im Rahmen eines zu Tränen rührenden Gastauftrittes. Das Problem: Ihr Nachfolger Mirko Schrader alias Björn Meyer wurde ohne Erklärung in die Serie als neuer Assistent Thiels auf ihren Stuhl gesetzt. In seinem nunmehr dritten «Tatort» bekommt Meyer nun die Möglichkeit, seiner Figur ordentlich Futter zuzuführen – indem er Hallers Fauxpas nicht nur für sich behält, sondern ihr als eine Art Vertrauensbeweis sein dunkelstes Geheimnis anvertraut (was mit seinem Eintritt in die Polizei in einem direkten Zusammenhang steht). Die Szenen zwischen Haller und Schrader entwickeln eine sehr intime – freundschaftliche – Atmosphäre, die Schrader nicht länger als Fremdkörper im Team wirken lässt. Obwohl dies gelungen ist und von Meyer und Urspruch sehr fein gespielt wird, bleibt dennoch zumindest für langjährige Freunde des Münsteraner «Tatort»s wahrscheinlich jener bittere Beigeschmack, der sich aus der Frage ergibt, ob eine Silke Haller solch einen Fauxpas im Rahmen einer Ermittlung wirklich für sich behalten würde?
Einen Zwiespalt hinterlässt auch der Fall als solches, denn die schnelle Fokussierung auf einen Verdächtigen, den Polizeisprecher, nimmt dem Film seine Spannung. Sicher, da gibt es noch Inés, eine Partnerin des Ermordeten, welche man durchaus als seine Freundin bezeichnen könnte und die vielleicht doch etwas mehr Eifersucht gegenüber seinen anderen Partnerinnen und Partnern empfunden haben mag, als sie gegenüber den Ermittlern zugibt. Doch fehlt es ihrer Figur an Widersprüchlichkeiten, die tatsächlich so etwas wie einen Verdacht manifestieren würden. Ein echtes Ärgernis ist gar die Geschichte des Priesters, der durch sein Gelübde gezwungen ist, über Tat und Täter zu schweigen, was allein schon Stoff für einen eigenen Spielfilm hergäbe. In diesem «Tatort» jedoch wird dieser Konflikt als Lückenfüller abgehandelt, ohne je eine echte Tiefe zu erreichen. Das ist wirklich bitter.
Während es der Kriminalhandlung an Spannung und Konflikten fehlt, ist die Geschichte des Polizeisprechers und seiner amourösen Abenteuer in der Kommune durchaus interessant. Dieser Polizeisprecher nämlich macht keinen Hehl daraus, dass er die Nähe zu Maik gesucht hat. Er ist ein verheirateter Mann mit zwei wohl geratenen Kindern. Aber er ist auch bisexuell und hat Bedürfnisse, die ihm seine Frau nicht erfüllen kann. So leben seine Frau und er in einer offenen Beziehung, in der sie akzeptieren, dass es einige Dinge gibt, die sie sich – beide – bei anderen Menschen holen müssen. Dennoch wirkt Marion, die Ehefrau, verloren und genießt ganz offensichtlich ihre Gespräche mit Thiel, in denen sie sehr ehrlich auf all seine Fragen antwortet - im Gegensatz zu ihrem Mann, der Thiel mit kaum verhohlener Aggression begegnet. Die Szenen zwischen Thiel und Hagen beziehungsweise Thiel und Marion sind kurz, aber intensiv.
Wenig intensiv ist derweil das Spiel von Jan Josef Liefers. Nach seiner Glanzdarbietung in «Limbus» wirkte er schon im letzten Münsteranter «Tatort»,
«Es lebe der König», seltsam abwesend. „Viel zur Geschichte beizutragen hat die Figur des Professor Boerne tatsächlich nicht. Zwar sind die Wortgefechte zwischen Thiel und Boerne amüsant, wenn man ein Fan ihrer gegenseitigen Animositäten ist. Für die Handlung als solche aber sind die Wortgefechte, die sich die beiden in dieser Episode liefern, kaum von Relevanz.“ Das stand im Text zu «Es lebe der König» und im Grunde lässt sich diese Einschätzung 1:1 auf diesen Spielfilm übertragen. Axel Prahls Thiel ist der Antreiber der Kriminalhandlung von «Rhythm and Love», Urspruch und Beyer in ihren Rollen das emotionale Zentrum. Professor Boerne jedoch agiert, wie er immer agiert. Aufgrund einer Plagiatsanschuldigung, mit der er sich herumärgern muss, vielleicht etwas weniger überheblich als sonst, ansonsten jedoch spielt Liefers Boerne kaum eine Rolle. Ein oder zwei Auftritte weniger – und der Vorspann hätte ihn als „Special Guest Star“ führen können. Und das zum zweiten Mal hintereinander.
Dass dann im Rahmen der Kriminalhandlung auch noch ein zweiter Mordfall geschieht, der eine Wendung der Wendung wegen kreiert (die so unvorhergesehen nur leider nicht des Weges kommt), ist für sich genommen schon kein Ruhmesblatt für die Macherinnen dieses Spielfilmes. Dass diese Wendung dann aber auch noch ihre Auflösung in einem Showdown erfährt, dessen Inszenierung im besten Fall Vorabend-Niveau erreicht: Das ist für das Flaggschiff televisionärer deutscher Kriminalfilmherrlichkeit direkt beschämend.
Die Stärken dieses Spielfilmes tragen die Namen ChrisTine Urspruch und Björn Meyer, auch unter Berücksichtigung der Kritik am irritierenden Verhalten der Silke Haller. Die Geschichte der Familie Hagen ist auf jeden Fall ein interessantes Drama über Schein und Sein im Rahmen einer vermeintlich offenen Beziehung. Und ja, die Momente zwischen Prahl und Liefers sind – wie gewohnt - amüsant. Die beiden kennen sich, sie wissen, wie sie miteinander umgehen müssen, um ihre gegenseitigen Animositäten glaubhaft (aber irgendwie auch liebevoll) wirken zu lassen. Der Rest aber ist eine ziemliche Enttäuschung.
«Tatort – Rhythm and Love» ist am Sonntag, den 27. Mai, um 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.