Die Kino-Kritiker: «Bombay Rose»

Eine kleine Geschichte in einer großen Stadt. Kamala richtet Blumen zum Verkauf her. Auf der anderen Seite der Straße schlägt sich Salim als Blumenverkäufer durch. Immer wieder treffen sich ihre Blicke. Doch es trennt sie mehr als nur diese eine Straße, an der sie ihren Gewerken nachgehen.

Stab

REGIE, SCHNITT: Gitanjali Rao
DREHBUCH: Gitanjali Rao, Asad Hussein, Nadja Dumouchel
MUSIK: Cyli Khare, Yoav Rosenthal
PRODUKTION: Nadja Dumouchel, Anand Mahindra, Serge Lalou, Charlotte Uzu
Mumbai in Pastelltönen. 60 Künstlerinnen und Künstler haben anderthalb Jahren an den Stadtbildern des indischen Animationsfilmes «Bombay Rose» gezeichnet. Sämtliche Hintergründe sind per Hand entstanden, Unschärfen, Verwischungen, hier und da auch mal matte Farben sind gewollt. Sie stehen in einem bewussten Kontrast du den handelnden Figuren, bei deren Farbgestaltung dann auch Computer zum Einsatz kamen, um ihnen scharfe Konturen zu verpassen. «Bombay Rose» ist ein Film über Menschen. Auch wenn diese nur gezeichnet sind. Menschen wie Kamala. Die junge Frau arbeitet hart. Sie muss ihren Großvater ernähren, dessen kleiner Uhren-Reparaturstand kaum Geld abwirft. Und dann ist da Tara, ihr kleine Schwester. Tara besucht eine Privatschule. Jede Rupie, die am Ende eines Tages übrig bleibt, wird in Taras Ausbildung gesteckt. Tara weiß nicht, dass Kamala abends einer zweiten Beschäftigung als Tänzerin in einer Bar nachgeht, da eine Finanzierung des Schulbesuchs sonst unmöglich wäre.

Obwohl die kleine Familie wirklich nicht auf Rosen gebettet ist, gewährt sie noch einem kleinen, taubstummen Waisenjungen Unterschlupf, um ihn vor der Polizei zu verstecken. Das nämlich ist die Krux in dieser Stadt. Es herrscht Schulpflicht. Doch ohne ein Dach über dem Kopf gibt es nichts zu essen, arbeitet ein Kind dann aber, macht es sich strafbar. Die Welt, in der Kamala lebt, ist hart. Aber da ist Salim. Dieser freundliche junge Mann, der ihr immer ein Lächeln schenkt und der in Kamalas Träumen einen festen Platz einnimmt. In diesen Träumen ist Kamala eine Hindu-Prinzessin, die in Gefahr gerät. Salim indes ist ein muslimischer Fürst, der sich schützend vor sie stellt und für sie da ist, wann immer sie seines Schutzes bedarf. Der wahre Salim ist tatsächlich in Kamala verliebt und ihre Vorgeschichte interessiert ihn nicht. Kamala nämlich ist verheiratet. Sie wurde als Jugendliche von ihren Eltern in eine Ehe gezwungen. Bis ihr Großvater sie aus dieser Ehe befreit hat und mit ihr und Tara nach Mumbai geflohen ist. Salim indes hat keine Familie mehr. Er stammt aus Kaschmir. Seine Eltern sind von indischen Soldaten erschossen worden.

«Bombay Rose» nutzt bewusst Elemente des Bollywood-Filmes, um seine an sich kleine Geschichte zu erzählen. So spielt der Prolog etwa in einem Kino, in dem ein Film gezeigt wird, der im Grunde genommen die Geschichte von Kamala und Salim vorweg nimmt. Allerdings als großes Bollywood-Spektakel. Mit einem muskelbepackten, überirdischen Helden, dessen tiefe Bassbariton-Stimme alleine die Leinwand zum vibrieren bringt. Und natürlich mit einer Frau schöner als die Sonne, die nur darauf hoffen kann, dass die Liebe ihres Lebens auch von ihrem Vater eines Tages akzeptiert wird, ist dieser Mann doch ein Muslim und sie die Tochter einer wohlhabenden Hindu-Familie. Der Unterschied zur Geschichte von Kamala und Salim ist der Bombast, mit dem die Geschichte erzählt wird, die Coolness des Helden, die über der Realität steht – und das Happy End, das alle sozialen und religiösen Grenzen sprengt, denn natürlich siegt in diesem Spektakel am Ende die Liebe. Was die Realität aus dem Kino nicht fernhält, denn der Moment, in dem der furchtlose Held seine Geliebte in die Arme schließt und sich ihre Lippen einander nähern – sind die Bilder zerkratzt. Die Zensur hat den Kuss aus jedem einzelnen Bild entfernt.

Weitere Elemente des Bollywood-Filmes, die die Regisseurin Gitanjali Rao nutzt, sind die Traumbilder, in denen sich Kamala immer wieder verliert, um ihrer Realität ein Stück weit zu entkommen. Und da ist – man möchte sagen – natürlich auch die Musik. Zarte Frauenstimmen, die sich immer wieder über einzelne Szenen legen und diese von Dialogen regelrecht befreien, um die Bilder für sich sprechen zu lassen. Das aber ist der Unterschied zum höchst realen Bollywood-Film. Der Gesang legt sich allein über die Bilder. Die Welt von Kamala bleibt – obwohl gezeichnet – eine reale Welt, in der niemand plötzlich anfängt zu tanzen. Auch gibt es hier keine muskelbepackten Helden, die ihre Prinzessinnen aus ihren (goldenen) Käfigen befreien. Hier gibt es Polizisten, die über Kinderarbeit dann hinwegsehen, wenn man ihnen ein kleines Bündel Geldscheine in die Hand drückt. In dieser Welt ist ein guter Mann wie Salim gezwungen, nachts auf einem kleinen, christlichen Friedhof Rosen zu stehlen, um diese weiterverkaufen zu können. Es ist eine Welt, in der ein Zuhälter Kamala das Angebot unterbreitet, ihr, gegen eine kleine Beteiligung, Papiere für Dubai zu besorgen, wo sie als Dienstmädchen genug Geld verdienen kann, um die Ausbildung ihrer kleinen Schwester finanzieren zu können – und Kamala über dieses Angebot ernsthaft nachdenkt, obwohl sie ganz genau weiß, dass dies den sicheren Weg in die Prostitution bedeuten würde.



«Bombay Rose» spart nicht an Härten. Dennoch findet die Geschichte immer wieder Zeit für Träumereien. Tara etwa besucht täglich eine ältere Dame, Mrs D'Souza, die ihr die englische Sprache beibringt. Mrs D'Souza wäre in den 50er Jahren fast einmal ein Filmstar geworden. Sie hat tatsächlich in einigen Filmen mitgewirkt. Aber den Durchbruch hat sie nie geschafft. Dennoch hat sie nicht nur im Kino die Liebe erlebt und an diesen schönen Erinnerungen lässt sie Tara teilhaben; ausgerechnet dieser Nebenhandlungsstrang ist es, der gar eine märchenhafte Wendung der Geschichte einleitet. Eine märchenhafte Wendung in einer realen Welt, die zu brutal ist als dass sie keine dunklen Schatten auf diese Wendung werfen würde.

«Bombay Rose» ist Arthauskino, das sich zwischen Großstadtdrama und sanfter Träumerei bewegt. Obwohl größtenteils von indischen Filmkünstlerinnen- und Künstlern umgesetzt, brauchte es die französische Produktionsschmiede Les Film d'ici, um eine Finanzierung aufzustellen zu können. 2019 eröffnete «Bombay Rose» die so genannte Kritikerwoche der Filmfestspiele von Venedig und lief – unter anderem - auch im Programm des Internationalen Filmfestivals Toronto sowie dem BFI-Filmfestival London. Einen Film wie «Bombay Rose» würde man im Rahmen einer TV-Ausstrahlung am ehesten bei einem Sender wie arte erwarten, um so überraschender ist die Tatsache, dass sich Netflix frühzeitig die Rechte gesichert hat und der Film offiziell als Netflix-Produktion vermarktet wird: Einen Film, den eine Radiokritik des NDR zum Streamingstart „eine Perle“ genannt hat. Dem im Grunde nichts hinzuzufügen ist.

«Bombay Rose» ist seit 8. März bei Netflix erhältlich.
06.06.2021 12:00 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/127116