Die Privatsender haben eine große Info-Offensive gestartet, doch an die wirklich heißen Eisen traut sich noch niemand. Dabei wäre gerade hier ihr Einsatz gefragt, meint Oliver Alexander.
Das waren keine Paukenschläge mehr, das war schon ein Trommelfeuer: Linda Zervakis verließ die «Tagesschau» für ProSieben, Jan Hofer verschlägt es zu RTL, genauso wie Pinar Atalay. Noch vor einem Jahr hätte das äußerst seltsam angemutet. Denn weder ProSieben und Sat.1 noch RTL schienen da irgendwelche weitreichenden Bestrebungen im Sinne einer verstärkten News-Kompetenz zu haben. Im Gegenteil: Die Nachrichtenstrecken wirkten trotz aller Professionalität wie ein notwendiges Übel, das man eben erfüllen muss, wenn man in Deutschland ein Vollprogramm sein will.
Doch heute lautet das Stichwort „Sendungsbewusstsein“. Die beiden großen Privatsenderhäuser wollen auch im öffentlichen Diskurs wieder relevanter werden und scheinen mit ihren Konzepten sogar die Schlachtrosse aus den News-Instanzen des deutschen Fernsehens schlechthin überzeugt zu haben. Woher der Sinneswandel kommen mag? Das könnte verschiedene Ursachen haben: Vielleicht, weil es in Zeiten der Konkurrenz durch große internationale Streamer nicht mehr reicht, ellenlang amerikanische Sitcoms abzuspielen, die jeder Zuschauer auch nonlinear gucken kann. Oder weil auch die junge, ansonsten von Lifestyle-Themen abgeholte Zielgruppe in Zeiten von AfD und Donald Trump politischer ist, als man das vor einigen Jahren noch für möglich gehalten hätte.
Große Ankündigungen – und seriöse Namen – werden aber allein nicht reichen. Jetzt müssen die Sender auch liefern. Und wer sich die bisherigen Gehversuche von ProSieben auf dem Weg zu größerer Seriosität angesehen hat, kommt hier etwas ins Grübeln: Denn der Auftakt, den ein Interview mit der frischgebackenen Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock bildete, bestach weniger durch News- oder Investigativ-Kompetenz, sondern vielmehr durch einen gewohnten Privatsenderansatz: keine schweren Fragen, kein überzeugender journalistischer Ansatz, und dafür umso mehr Wohlfühlfernsehen. Es mutete seltsam an, sich Linda Zervakis auf dem Stuhl von Kathrin Bauerfeind vorzustellen, wenn dort nur alter Privatsenderwein in neue Schläuche gegossen werden sollte.
Dass man Kathrin Bauerfeind und Thilo Mischke für die Interviews mit den Kanzlerkandidaten der anderen Parteien, Armin Laschet und Olaf Scholz, durch Louis Klamroth und Linda Zervakis ersetzte, war dann personell die richtige Entscheidung und führte aus journalistischer Sicht zu einem seriöseren Ergebnis: Und doch konnte man als Zuschauer auch enttäuscht sein, weil sich aus den jeweiligen Sendungen kein inhaltlicher Mehrwert oder Erkenntnisgewinn einstellte.
Was allerdings noch schwerer wiegt: Die heißen Eisen lässt ProSieben bisher vollkommen aus. Das mag verständlich sein, wenn man sich nun erst an journalistische Inhalte mit wirklicher Breitenwirkung herantasten will. Doch gerade hier läge vielleicht die aus gesellschaftlicher Sicht wichtigste Aufgabe des Privatsenders. Denn im Deutschen Bundestag sind schon lange nicht mehr nur Union, Grüne, SPD und FDP vertreten, sondern ebenso Vertreter der Linkspartei mit nicht selten befremdlichen außen- und sicherheitspolitischen Positionen und zudem mit der AfD eine rechtspopulistische bis rechtsradikale Partei mit völkischem Gedankengut.
Gerade die Ergebnisse bei den Jungwählern aus Sachsen-Anhalt lassen aufhorchen: Denn in dieser Altersgruppe kam die AfD auf etwa genauso viele Stimmen wie die Volkspartei CDU, und keine Altersgruppe war der rechtsextremen Partei eher zugeneigt als die 30-bis-44-Jährigen. Wenn sich ProSieben bei seiner jungen Zuschauerschaft ernsthaft und ehrenwerterweise News-Kompetenz und gesellschaftliche Bedeutung auf die Fahnen schreiben will, wäre hier der Punkt, an dem der Sender ansetzen müsste. Auf den Punkt gebracht: Annalena Baerbock und Armin Laschet waren die falschen Gäste; an ihrer Stelle wären lieber Alice Weidel und Tino Chrupalla gesessen. Ein Gespräch, das man Katrin Bauerfeind (unbeschadet all ihrer anderen Kompetenzen) nicht zutrauen würde – aber genau dafür hat man ja nun Linda Zervakis im Sender, der es weder an journalistischem Talent noch an fundierter Sachkenntnis mangelt, um die oftmals menschenverachtenden, rassistischen, antisemitischen und verschwörungstheoretischen Inhalte des Gedankenguts der AfD-Vertreter herauszustellen.
Jetzt werden die Bedenken kommen, den Rechten eine Plattform zu geben, die sie nur noch größer macht. Aber die Rechten werden nicht weggehen, weil man sie verschweigt. Damit ist dieses Argument nicht nur wenig überzeugend, sondern es zeichnet auch ein fragwürdiges und von übertriebener Ängstlichkeit geprägtes Bild unserer Gesellschaft, und offenbart zudem noch eine gravierende Unterschätzung der Gesprächsmöglichkeiten kompetenter Journalisten: Als ob Pinar Atalay und Linda Zervakis nicht imstande wären, es rhetorisch mit Alice Weidel aufzunehmen. Die sitzt stattdessen nun bei Markus Lanz, der nicht anders kann, als über jedes ihrer Stöckchen zu springen, wodurch das Gespräch immer wieder dann ausfranst, wenn es für sie brenzlig wird. Den ehemaligen Schlachtrossen der «Tagesschau» traut man da schon mehr zu, egal welches Logo in der Bildschirmecke erscheint. Also keine falsche Angst, ProSieben, sondern beherzt ans Werk. Das junge Publikum wird euch ein solches Engagement danken!