Bettina Wente, Produzentin von «Nahschuss», ordnet im Quotenmeter-Interview den Kinofilm historisch ein und verrät, dass sie selbst nicht wusste, dass es in der DDR die Todesstrafe gab. Außerdem erklärt sie, warum der Film ganz ohne Score auskommt.
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Dass es in der DDR die Todesstrafe gab, wusste ich selbst bis zur Lektüre von Franziskas Drehbuch nicht.
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Bettina Wente, «Nahschuss»-Produzentin
Guten Tag, Frau Wente. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Interview nehmen. Der Film «Nahschuss» geht auf ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte ein: Was hat Sie an dem Stoff besonders gereizt?
«Nahschuss» ist inspiriert von der Geschichte des Dr. Werner Teske, der als letzter Mensch in der DDR 1981 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Die Autorin und Regisseurin Franziska Stünkel ist vor knapp zehn Jahren auf ein Foto von Teske gestoßen. Etwas im Gesicht dieses Mannes hat sie so berührt, dass sie seinem Lebensweg nachspüren wollte und begonnen hat, zu recherchieren. Herausgekommen ist nun kein Dokumentarfilm, sondern ein Spielfilm. Franz Walter ist eine fiktive Figur, die hoffentlich zur Identifikation einlädt. Denn ich glaube mit Caroline Fourest, dass ‚ein Film unser Herz ergreifen, uns die Eingeweide umdrehen, die Haut verbrennen und mittels einer anderen Identität unsere Seele an einen andern Ort bewegen kann, in einen anderen Körper, in ein anderes Leben‘.
Obwohl die Geschichte über von Werner Teske so tragisch ist, ist sie vielen gar nicht bekannt. Warum eigentlich nicht?
Dass es in der DDR die Todesstrafe gab, wusste ich selbst bis zur Lektüre von Franziskas Drehbuch nicht – und ich nehme an, dass ich damit nicht allein bin. Teilweise haben wir ja den Eindruck, dass unsere deutsch-deutsche Geschichte komplett durchleuchtet und auserzählt ist. Doch es gibt immer wieder Themen, die kaum bekannt oder in Vergessenheit geraten sind. Die Todesstrafe gehört sicherlich dazu.
Nach Teskes Hinrichtung existierte die DDR noch fast ein Jahrzehnt, die Todesstrafe bis 1987, warum gab es in dieser Zeit keine Hinrichtungen mehr?
Tatsächlich wurden nach heutigem Kenntnisstand keine weiteren Todesurteile vollstreckt. Die Willkür des Urteils gegen Werner Teske ist besonders tragisch, weil er sich – über den Plan zur Flucht hinaus – keines Verbrechens schuldig gemacht hat. Doch nach der erfolgreichen Flucht eines Oberleutnants der Hauptverwaltung Aufklärung sah sich Erich Mielke 1981 genötigt, ein Exempel zu statuieren. Er hielt seine Mitarbeiter an, Verräter gegebenenfalls sogar ohne Urteil hinzurichten. So kam es, dass Teske wegen eines nicht begangenen Verrats zum Tode verurteilt wurde. 1998 mussten sich einer der Richter und ein Staatsanwalt in der Bundesrepublik deshalb wegen Justizmordes verantworten. Sie wurden schuldig gesprochen, weil Werner Teske selbst nach dem gängigen DDR-Recht völlig zu Unrecht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war.
Der Fall wurde von der Stasi versucht sehr klein zu halten, Teskes Witwe und Tochter mussten aus Berlin wegziehen und erhielten neue Identitäten. Erst später, 1993, wurde das Urteil wegen Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Prinzipien annulliert. Haben Sie mit Angehörigen im Vorfeld sprechen können?
Uns war es wichtig, dass der Film im Einvernehmen mit den Angehörigen entsteht. Frau Teske kennt das Drehbuch und hat uns für den Film alles Gute gewünscht. Sie selbst möchte sich aber nicht mehr öffentlich äußern und wir respektieren das.
Regisseurin Franziska Stünkel sagte in einem Interview, dass das Thema (Todesstrafe) nicht nur historisch zu betrachten sei, da es heutzutage in vielen Staaten noch immer die Todesstrafe gebe. Will der Film darüber auch aufklären?
Ja. Auch ich möchte das Thema Todesstrafe in der DDR nicht rein historisch begreifen – und mich damit davon distanzieren. Mir scheint jede geschichtliche Aufarbeitung wesentlich, um unsere Gegenwart zu verstehen. So hat Franziska Stünkel und mich bei der Arbeit am Drehbuch auch immer die Frage umgetrieben, wie wir selbst uns in einem rigiden politischen System verhalten würden.
Geht es dabei auch um eine Kritik mancher Rechtssysteme?
So lange weltweit über 25.000 Menschen in 56 Ländern auf ihre Hinrichtung warten, braucht es unsere kollektive Aufmerksamkeit und möglichst diverse Formen von Protest, wie zum Beispiel den jährlichen Briefmarathon von Amnesty International am 10. Dezember – die weltweit größte Briefaktion für gewaltlose, politische Gefangene, Verfolgte und Menschen in Not.
Für «Nahschuss» haben Sie zu großen Teilen an Originalschauplätzen gedreht. Sind die Orte seit 1981 denn unverändert geblieben?
Einige dieser Orte sind Gedenkstätten und/oder Museen geworden, wie das Stasi-Museum mit Mielke-Etage und Originalgebäude der MfS in Berlin oder der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen und von daher tatsächlich unverändert. Andere Orte hat die wunderbare Szenenbildnerin Anke Osterloh „rückgebaut“ und Dritte Orte gänzlich nachempfunden – weit weg von der ehemaligen DDR zum Beispiel in Wuppertal und Lünen.
In der DDR wurde per ‚unerwartetem Nahschuss‘, also durch einen Kopfschuss von hinten ohne Vorwarnung, exekutiert. Bis 1968 war eine Guillotine im Einsatz. Wie explizit geht der Film auf die Hinrichtung ein?
Weil sich die Guillotine mechanisch als zunehmend fehleranfällig erwies, ging man zu einer sichereren Methode über, die man auch als humaner begriff: den „unerwarteten Nahschuss“ in den Hinterkopf. Ob man überhaupt von „Humanität“ im Kontext mit der Todesstrafe sprechen kann…ich denke, auch davon erzählt unser Film.
In «Nahschuss» kommt kaum Musik vor, wie hat man es trotzdem geschafft, das Publikum abzuholen und mit auf eine emotionale Reise zu nehmen?
Die Regisseurin Franziska Stünkel und der Kameramann Nikolai von Graevenitz haben sich entschieden, den ganzen Film über visuell sehr nah an Franz zu bleiben, wollten bei ihm sein, auch akustisch. Sein Atem soll den Film tragen und rhythmisieren. Deshalb verzichtet «Nahschuss» komplett auf Score, bis Franz aufhört zu atmen. So kommt die ganze Kraft der Filmmusik von K.S. Elias erstmals im Abspann zum Einsatz, und gibt dem Zuschauer genau da den Raum, den Film nachklingen zu lassen, bevor das Licht wieder angeht.
«Nahschuss» ist ab dem 12. August 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.