„Egal, wie es anfängt, für mich endet es immer gleich. Schwarz.“ Das sind die ersten Worte aus dem Debütroman der 19 Jahre alten Nachwuchsautorin Luise Nathan, einer jungen Frau, die am Morgen nach der Präsentation ihres Erstlingswerkes nahe einer Brücke am Main tot aufgefunden wird. Ist das Ende ihres düsteren Coming-of-Age-Romanes Wirklichkeit geworden?
Stab
DARSTELLER: Margarita Broich (Anna Janneke), Wolfram Koch (Paul Brix), Jana McKinnon, (Luise Nathan / Luna), Nicole Marischka (Friederike Nathan), Tinka Fürst (Jessie Kunze), Lena Urzendowsky (Nellie Kunze), Clemens Schick (Roland Häbler).
REGIE: Katharina Bischof
DREHBUCH: Katharina Bischof, Johanna Thalmann
MUSIK: Richard Ruzicka
KAMERA: Julia Daschner Um eines gleich vorweg zu nehmen: Dieser «Tatort» spielt mit den Sehgewohnheiten der Zuschauer. Er ist aber kein Experiment, das sich, wie so viele andere Filme in den letzten Jahren, selbstverliebt für seine Andersartigkeit feiert. Die Autorinnen Johanna Thalmann und Katharina Bischof (auch Regie) vermeiden nämlich einen Fehler, den so viele Spielfilme der Reihe begehen, wenn sie „anders“ sein wollen: Sie nehmen den Fall, den die Kommissare Anna Janneke und Paul Brix aufzuklären haben, ernst. Er ist kein Ballast, sondern das Zentrum des Geschehens. Wer hat Luise Nathan ermordet? Das ist die Frage, die über allem steht. Eine Frage, die möglicherweise ihr Roman „Luna frisst oder stirbt“ beantworten kann. Es steht nämlich die Vermutung im Raum, dass Luna niemand anderes als Luise ist, eine fiktionalisierte Darstellung ihrer selbst. Also lesen Janneke und Brix Luises Roman in der Hoffnung, dass er ihnen Antworten liefert. Und so beginnt ein Film im Film, eine Verfilmung von „Luna frisst oder stirbt“ im «Tatort: Luna frisst oder stirbt». Zwar sind es immer nur einzelne Szenen beziehungsweise Buchkapitel, die ihre szenische Aufarbeitung erfahren. Nach und nach aber verliert sich Anna Janneke förmlich in diesen Momenten, in denen Luise für sie lebendig wird und Luise / Luna ihr hoffentlich die Antworten auf die Fragen liefert, die dieser Fall stellt.
Antworten auf einen Fall, der zwar einige Verdächtige präsentiert, von denen aber niemand ein ernsthaftes Mordmotiv haben dürfte. Schon gar nicht nach der gelungenen Buchpräsentation in dem kleinen Frankfurter Verlag, der den Roman der 19 Jahre alten Nachwuchsautorin recht geschickt bereits im Vorfeld vermarktet und ein großes Medieninteresse generiert hat. Verlagsleiter Roland Häbler lebt davon, Talente zu finden. Talente, die seinen kleinen Verlag meist auch schnell wieder verlassen, weil große Verlagshäuser mehr zahlen können. Er ist quasi darauf angewiesen, dass er junge Talente, wenn er sie zum Erfolg geführt hat, zumindest noch für ein oder zwei weitere Romane halten kann. Gab es da etwa einen Streit mit Luise, weil für sie offenbar feststand, es bei diesem einen Roman belassen zu wollen? War es ihr, wie Anna vermutet, peinlich, diese Chance vor allem erhalten zu haben, da Häbler ein Freund von Luises Familie ist, sie also den Buchauftrag auf einem silbernen Vertragstablett serviert bekommen hat, während andere Autorinnen oder Autoren für eine solche Chance oft viele Jahre kämpfen müssen, wenn sie denn überhaupt eine Chance bekommen?
Luise entstammt, wie man sagt, einem guten Elternhaus. Ihre Mutter ist Sozialdezernentin in Frankfurt. Die beiden leb(t)en zusammen in einer hübschen, geräumigen Altbauwohnung, Luise ist vaterlos (er scheint verstorben) ist ansonsten wohlgeordneten Verhältnissen aufgewachsen, es hat ihr materiell an nichts gemangelt. Aber emotional? Lunas Geschichte nämlich passt nicht in diese Ordnung. Da erlebt Luna, wie ihre Mutter sturzbetrunken am Boden liegt, als sie eines Tages nach Hause kommt und sie vor einem leeren Kühlschrank steht. Luna (Luise) stürzt sich auf ein paar Flips, die auf dem Fußboden liegen, um ihren Hunger zu stillen. Und tatsächlich entgeht Kommissarin Anna Janneke nicht der fast leere Kühlschrank im Hause Nathan, in dem lediglich ein paar Senfgläser ins Auge fallen – die Luise in ihrem Roman genau so beschreibt, wie sie dort stehen. Stellen diese geordneten Verhältnisse nur eine wohl gezeichnete Fassade für die Außenwelt dar? Ein Bild, das die Dysfunktionalität einer Mutter-Tochter-Beziehung verschleiern soll?
Die Herausforderung für Brix und Janneke besteht vor allem darin zu ergründen: Welche Kapitel in Luises Roman erzählen wahre Geschichten aus dem Leben Luises? Und welche sind Fiktion? Interviews, die Luise vor ihrem Tod gegeben hat, bieten darauf keine Antwort. Luise spricht in diesen Interviews lediglich davon, dass Luna die Realität ihrer Generation abbilde. Auf die konkrete Frage, die ihr eine Reporterin stellt, nämlich ob sie Luna sei, antwortet Luise, dies sei ohne Belang.
Verrennen sich Janneke und Brix etwa in einer falschen Annahme? Immer wieder tauchen Indizien auf, die darauf hinweisen, dass Luna und Luise, von einigen dramaturgisch begründeten Abweichungen abgesehen, ein und dieselbe Person sind. Gegen diese Annahme jedoch spricht das Ende des Buches.
Anna Janneke offenbart eine Angewohnheit, die einen jeden ehrbaren Bücherfreund erschauern lässt. Sie liest zuerst das Ende eines Romans! Diese Angewohnheit legt sie auch im Fall dieses Romanes an den Tag, den sie nicht als Privatperson, sondern als Ermittlerin lesen muss. Und dieses Ende überrascht sie. Beginnt der Roman auf dem Dach eines Hauses, an dessen Rand Luna steht, in den Abgrund blickt und das vermeintliche Ende des Romans vorwegnimmt – nämlich ihren Tod („Egal, wie es anfängt, für mich endet es immer gleich. Schwarz.“), so endet der Roman tatsächlich mit einem Happy End.
In einem Fall ohne wirklich greifbare Verdächtige (Verdächtige mit echten Motiven) hoffen Janneke und Brix vielleicht Antworten in einem Sozialcafé zu finden, in dem Luise ehrenamtlich ausgeholfen hat. Dort hat sie ein Mädchen namens Nellie kennengelernt und offenbar haben sich die Mädchen aus recht unterschiedlichen Milieus angefreundet. Auf der einen Seite Luise, gutbürgerlich, sozial abgesichert. Auf der anderen Seite Nellie. Tochter einer jungen, überforderten, alleinerziehenden Mutter, die ihr Leben nicht so richtig geregelt bekommt und wenig bis gar nicht auf die Bedürfnisse ihrer Töchter (Nellie hat noch eine kleine Schwester) Rücksicht nimmt, da sie deren Bedürfnisse gar nicht erst erkennt. War Nellie nicht nur eine Freundin, sondern hat sie Luise vielleicht auch inspiriert?
Organisch gestalten sich die Übergänge der Erzählebenen. Die Ermittlungen Jannekes und Brix' münden immer wieder in einem neuen Buchkapitel, in dem Luna/Luise ihre Geschichte weitererzählt, um aus dem Kapitel heraus wieder in den Ermittlungen der Frankfurter «Tatort»-Ermittler überzugehen. Die Spannung der Geschichte basiert nicht auf klassischen Suspense-Momenten. Solche bietet dieser «Tatort» exakt Null. Die Spannung ergibt sich nach und nach aus der Frage, ob die Geschichte Lunas tatsächlich die Geschichte Luises ist, ob Luise einige Kapitel der Dramaturgie wegen etwas ausgeschmückt hat und inwieweit Nellie möglicherweise als Inspiration herhalten musste. Ist also das, was wir, die Zuschauer, in den verfilmten Kapiteln aus Luises Buch zu sehen bekommt, tatsächlich so passiert? Oder ist es nur eine Geschichte, die für die Aufklärung des Falles im Grunde irrelevant ist und folgen Brix und Janneke einer möglicherweise vollkommen falschen Spur?
Dass dies wunderbar funktioniert, ist nicht nur der ruhigen, unaufgeregten Regie Katharina Bischofs und der starken Fotografie ihrer Kamerafrau Julia Daschner zu verdanken. Einen großen Anteil an diesem Funktionieren trägt Hauptdarstellerin Jana McKinnon in der Rolle der Luise beziehungsweise Luna, die beide Figuren immer wieder in ihrem Spiel und ihrem Habitus, zusammenführt und zu einer Figur vereint – um dann doch wieder Brüche darzustellen, die Zweifel daran aufkommen lassen, dass Luna und Luise ein und dieselbe Person sind. Wohltuend zurückhaltend agieren entsprechend auch Margarita Broich und Wolfram Koch in ihrem 14. gemeinsamen Auftritt, indem sie die Bühne ganz Jana McKinnon und Nellie-Darstellerin Lena Urzendowsky überlassen und ihr Spiel ganz dem Drama um Luise / Lana unterordnen.
Am Sonntag, 31. Oktober 2021, 20.15 Uhr, Das Erste