Live Hallangen ist tot. Ihr Leichnam liegt auf einem Feld vor der kleinen Stadt Skarnes. Die Polizisten stellen ihren Tod ebenso fest wie der Leichenbestatter, pikanterweise Lives Vater. Auch die Pathologie im Nachbarort bestätigt Lives Ableben. Kaum jedoch setzt die Pathologin das Skalpell auf Lives Brustkorb, schreit die junge Frau vor Schmerzen auf.
Stab
Norwegen 2020/21
Sechs Episoden
DARSTELLER: Kathrine Thorborg Johansen, Elias Holmen Sørensen, André Sørum, Kim Farchild, Sara Khorami, Øystein Røger, Vidar Magnussen, Kristin Jess Rodin
SHOWRUNNER: Petter Holmsen
REGIE: Harald Zwart, Petter Holmsen
DREHBÜCHER: Petter Holmsen, Sofia Lersol Lund, Øyvind Rune Stålen
KAMERA: Geir Hartly Andreassen, Jon Gaute Espevold
SCHNITT: Jens Peder Hertzberg, Simen Gengenbach, Morten RørvigSo beginnt die sechsteilige norwegische Serie, die sich in Bezug auf ihre Genrezuteilung irgendwo zwischen lakonischem Kleinstadtdrama und Untotenhorror bewegen möchte, aber rund die Hälfte der Spielzeit benötigt, um sich selbst zu finden. Live (gesprochen Liewe) wird also auf einem Feld entdeckt. Ein Verbrechen kann nicht festgestellt werden. Live, kaum älter als Mitte 30, hat also offenbar einfach Pech gehabt. Hat sie vielleicht einen Krampfanfall erlitten? Nach ihrem plötzlichen Wiedererwachen scheint niemand wirklich Interesse daran zu haben, die Hintergründe aufzuklären. Die Ärzte sind froh, dass die ausgebildete Altenpflegerin niemand zu verklagen gedenkt und unangenehme Fragen beantwortet werden müssen. Ihr Bruder Odd ist einfach glücklich, seine geliebte Schwester wieder in seine Arme schließen zu dürfen und auch die Polizei hat nicht wirklich Interesse daran, dem Fall nachzugehen: denn waren es nicht Polizisten, die ihren Tod festgestellt haben? Der einzige Mensch, der offenbar nicht einfach zur Tagesordnung übergehen mag, ist ausgerechnet Lives Vaters. Mehr noch als das: Einige Tage nach Lives Rückkehr versucht er seine eigene Tochter umzubringen. Am Ende jedoch bricht er sich sein Genick. Sein Tod deutet auf einen Unfall im Krematorium hin. Allein will die Polizistin Judith diesen Zufall nicht glauben. Erst ist Live tot und erwacht wieder zum Leben? Nur damit ein paar Tage ihr Vater bei einem seltsamen Unfall sein Leben verliert? Judith erinnert sich an eine Reihe seltsamer Vorkommnisse in der Stadt vor vielen Jahren, als sie eine junge Polizistin gewesen ist und ihr niemand glauben wollte, dass all diese Vorkommnisse in Zusammenhang mit einer Hausfrau standen. Vorkommnisse, die an dem Tag endeten, an dem besagte Mitbürgerin verstarb: Lives Mutter.
Kein norwegisches iZombie
Die norwegische Serie «Post Mortem – In Skarnes stirbt niemand» ist eine ziemlich sperrige Angelegenheit. Sie hat tolle Momente und nimmt auf dem kleinen Raum, in dem sie spielt, einige unerwartete Wendungen mit. Immer wieder aber neigt sie zu bleiernem, skandinavischem Sozialdrama-Schwermut: Vor allem die ersten drei Episoden wirken nicht selten, als würde eine tonnenschwere Tragödienlast auf ihnen liegen. Hier und da gibt es ein kurzes Aufblinken von Humor oder gar gruseliger Düsternis, meist aber wirkt die Inszenierung, als habe Ingmar Bergman Hand angelegt, um in schweren, monochromen Bildern die Last des Daseins zu beklagen. Was um so mehr erstaunt, bedenkt man, dass bei genau diesen drei Episoden Harald Zwart hinter der Kamera gestanden hat, der vielleicht bekannteste norwegische Regisseur überhaupt. Zwart, ein gebürtiger Niederländer, der allerdings in Norwegen aufgewachsen ist, hat in Hollywood immerhin Filme wie das «Karate Kid»-Remake und «Chroniken der Unterwelt – City of Bones» in Szene gesetzt. Beides nicht gerade kleine, unscheinbare Independent-Produktionen, sondern lupenreine Studiofilme. Mit «Agent Cody Banks» hat er 2003 als erster Norweger überhaupt einen amerikanischen Studiofilm inszeniert. Um so irritierender, dass seine Episoden nicht wirklich zünden wollen. Dass Netflix nicht zwingend ein Mega-Budget in eine norwegische Netflix-Horror-Drama-Serie investiert, ist durchaus nachvollziehbar. Norwegen hat sich zwar in den letzten 15 Jahren zu einem interessanten Filmland entwickelt, ist aber weit davon entfernt, eine Filmmacht zu sein. Dass «Post Mortem» dennoch kaum über den Look einer deutschen Vorabendserie hinaus kommt, das überrascht dennoch, denn Harald Zwart ist eben nicht irgendein Regisseur. Als jemand, der auch in der Werbung arbeitet, ist er ein versierter Visualist. Das beweist er etwa in dem Moment, in dem Live zum ersten Mal etwas in sich spürt. Einen Hunger nach Blut. Live versteht nicht, was in diesem Moment mit ihr geschieht. Doch in ihr ist ein Funken zum Leben erweckt worden, der sie zu etwas antreibt, das sie sich nicht erklären kann.
Momente wie dieser stechen inszenatorisch hervor, sie bleiben jedoch nur Blinklichter in einer Inszenierung, die es nicht leicht macht, schlicht dranzubleiben. Gerade in einem Zeitalter, in dem immer irgendwo das nächste Seriengroßereignis seine Schatten vorauswirft, muss eine Serie von Anfang an Schlaglichter werfen. «Post Mortem» aber gelingt dies erst mit Episode 4 – dank eines von Episode 3 mitgenommenen Cliffhangers, der die Story in eine vollkommen unerwartete Richtung führt und eine krachende Wendung einleitet. Die zweite Hälfte der Serie ist dann auch deutlich kompakter inszeniert; vor allem aber findet sie endlich ein Genre. Können sich die ersten Episoden überhaupt nicht entscheiden, ob sie Drama, Dramedy, Komödie, Sozialtragödie, ja irgendetwas Konkretes sein möchten, definiert sich die Serie ab Episode 4 ganz klar als eine Mystery-, vielleicht sogar Horrorserie mit einem sanften, dramatischen Touch.
Ab der vierten Episode wird auch der Konflikt greifbar, den Live nicht lösen kann. Seit ihrem Wiedererwachen ist sie von einem Blutdurst befallen, den sie nur durch die Anwendung von Tricks befriedigen kann – wenn sie niemandem Schaden zufügen will. Nur woher kommt dieser Durst? Ist es etwas Animalisches, das in ihr erwacht ist? Ein Instinkt? Das Problem: Sie kann sich niemanden anvertrauen. Schon gar nicht ihrem Bruder Odd, denn dann würde der Fragen nach dem Tod des Vaters stellen. Eines Vaters, der offenbar genau wusste, was Live ist und der sie aus genau diesem Grund umbringen wollte.
Live kann sich aber auch nicht Reinert anvertrauen. Reinert ist ein Polizist, zu dem Live ein enges, freundschaftliches Verhältnis pflegt und dem sie eigentlich vertraut. Nur hat dessen Chefin Judith nun einmal ein Auge auf sie geworfen. Und dann passiert da die Sache mit der Frau im Altenheim, der sie doch nur ein bisschen Blut abnehmen möchte. Wie sie es als Schwester schon so oft getan hat. Bedauerlicherweise aber eskaliert diese Angelegenheit...
Positva vs Negativa
Auf der Haben-Seite stehen die Charaktere. Live etwa ist Altenpflegerin. Sie ist der Typus von Mensch, der nebenan wohnt. Sie ist keine Superheldin oder Superschurkin. Live ist einfach eine Frau, der etwas sehr seltsames widerfährt und die einige sehr seltsame Veränderungen an sich wahr nimmt. Veränderungen, die sie vor der Welt verstecken muss. Hauptdarstellerin Kathrine Thorborg Johansen ist allerdings nicht das emotionale Zentrum der Serie. Das ist Elias Holmen Sørensen, der Darsteller ihres Bruders Odd, auf den sich der Untertitel der Serie, «In Skarnes stirbt niemand», bezieht. Nach dem Tod seines Vaters erbt Odd nicht nur dessen Betrieb, sondern auch dessen Schulden. Nach fünf Generationen steht das Unternehmen auf der Kippe. Es trägt sich nicht, da in dem kleinen Ort nahe der schwedischen Grenze einfach nicht genug gestorben wird, um die laufende Kosten decken zu können. Darüber hinaus ist Odd einfach ein liebenswerter, netter Kerl. Er ist jemand, der nicht lügen kann, der immer ehrlich bleibt, der seiner Frau Rose einfach ein guter Ehemann sei will und der für seine Schwester da ist, wenn die ihn braucht. Man würde ihm fast gönnen, etwas mehr Arbeit zu bekommen, wenn er nicht gerade dem Bestatterhandwerk nachgehen würde.
Genau der Ansatz, der hier in der Geschichte schlummert, wird ziemlich versemmelt. Oder sollen hier Erwartungen gebrochen werden? An sich hätte es Live ja gar nicht schwer, an Blut zu kommen – und die Spuren ihres schändlichen Tun zu verwischen: Sie wohnt über einem Beerdigungsinstitut, dessen Besitzer dringend Klienten benötigt und der im Keller allerlei Gerätschaften stehen hat, die es unmöglich machen, die Todesursache eines Menschen festzustellen, wenn sie erst einmal zum Einsatz gelangt sind. Doch aus diesem Ansatz, in dem eine Schwarze Komödie steckt, wird so gut wie gar nichts gemacht. Immer wieder flackert zwar auch mal Schwarzer Humor auf, doch der kann sie nie wirklich entfalten.
Mit der vierten Episode wird, wie bereits erwähnt, das Tempo angezogen. Allerdings ist das ein ziemlich später Zeitpunkt. In unserer unbarmherzigen Zeit muss eine Serie von Beginn an rocken, damit das Gros des Publikums am Ball bleibt. Es spielt keine Rolle, ob die, die am Ball bleiben, eine Serie am Ende möglicherweise ganz toll finden. Wenn auf dem Weg zum Ziel die Klickzahlen einbrechen, sind Streamingdienste wie Netflix gnadenlos und ziehen den Stecker. Und knapp drei Monate nach dem Start (zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Rezension) hat sich Netflix noch nicht zu einer entschließen können.
«Post Mortem – In Skarnes stirbt niemand» ist bei Netflix verfügbar.