Eigentlich sollte Detlev Bucks Provinzthriller 2020 in die Kinos kommen. Coronabedingt fiel der Start ins Wasser und Netflix schlug zu. So erlebte der Film seine Premiere kurz vor Weihnachten 2020 beim Streaminggiganten, der einmal mehr mit einem prominenten Namen werben konnte. Ein Jahr später kommt der vom ZDF koproduzierte Thriller nun ins Free-TV.
Stab
DARSTELLER: Kostja Ullmann, Alli Neumann, Sascha Alexander Gersak, Sophia Thomalla, Merlin Rose, Peter Kurth, Detlev Buch, Anika Mauer, Frederic Linkemann
REGIE: Detlev Buck
DREHBUCH: Detlev Buck, Martin Behnke
KAMERA: Armin Franzen
KOSTÜME: Ingken Benesch
MUSIK: Konstantin Gropper, Alex Mayr
TON: Paul Oberle«Wir können nicht anders» beginnt mit einer wilden Nacht. Der junge Literatur-Juniorprofessor Sam lernt in einer Bar Edda kennen. Es ist irgendwie Liebe auf den ersten Blick der. Der eher schüchterne, belesene Literaturwissenschaftler auf der einen Seite. Und Edda auf der anderen. Die hat vor fünf Jahren ihre Heimat, ein Städtchen irgendwo in Brandenburg, verlassen und ging nach Berlin, wo sie gescheitert ist. Ohne Job und ohne Geld will sie an diesem schicksalshaften Abend eigentlich nur ihren Kummer herunterspülen. Doch dann sitzt da Sam und auch in Edda entzündet sich ein Funken.
Sam entschließt sich am folgenden Tag spontan, Edda in ihr Heimatstädtchen zu fahren. Es wird für Edda kein einfacher Trip, denn fünf Jahre war sie nicht daheim und vor allem das Verhältnis zu ihrem Vater ist angespannt. Bei einem Stopp kurz vor ihrer Heimatstadt trennen sich die beiden für einen kurzen Moment und prompt wird Sam Zeuge eines versuchten Mordes. Männer der freiwilligen Feuerwehr des Ortes wollen einen der ihren im Wald erschießen. Durch Sams unvermitteltes Auftauchen gelingt dem Opfer die Flucht, prompt rennt Sam mit dem ihm unbekannten Mann um sein Leben. Edda gelingt es ungesehen den Ort zu verlassen. Ganz in der Nähe des Geschehens trifft sie zufällig den Polizisten Frank, den sie um Hilfe bittet. Der ist allerdings wenig davon begeistert, dass Edda ihn nicht einmal erkennt. Schließlich kennen sie sich seit ihrer Kindheit. Überhaupt glaubt er Edda nicht, was sie gesehen haben will. Edda hat für ihre Heimat eh stets kaum mehr als Verachtung übrig gehabt. Und wer sagt ihm jetzt, dass sie sich nicht nur wichtig machen will?
Währenddessen kommt es zu einer Konfrontation zwischen Sam, dem von ihm geretteten Feuerwehrmann Rudi, und dessen Kameraden auf dem Gelände eines ehemaligen, inzwischen zur Ruine verkommenen VEB-Betriebes, bei dem einer der Angreifer lebensgefährlich verletzt wird.
«Wir können nicht anders» ist ein mäßig gelungenes Filmwerk. Er hat Stärken, aber auch Schwächen. Eine seiner Stärken ist das Umfeld, in dem die Handlung angesiedelt ist: Das namenlose Städtchen in Brandenburg steht stellvertretend für viele Orte, die nach der Wende aus den unterschiedlichsten Gründen einen Niedergang erlebt haben. Hier ist es die Lage jenseits der Hauptverkehrswege, der den Untergang beschleunigt hat. Wer konnte, hat diesen Ort verlassen. Die Folge: Überalterung und Fachkräftemangel, was wiederum potenzielle Arbeitgeber davon abhält, sich hier niederzulassen. Es verwundert nicht, dass Edda dem Polizisten Frank nicht erzählen muss, warum sie nach Hause zurückgekehrt ist: Er weiß es, denn wäre sie in der Stadt nicht gescheitert, welchen Grund gäbe es für sie, nach Hause zurückzukehren? Niemand, der einmal gegangen ist, kehrt schließlich freiwillig zurück.
Auch die Schauspieler stehen auf der Positivliste, allen voran Sascha Alexander Geršak. Geršak ist Herrmann, der Leiter der Freiwilligen Feuerwehr. Und der ist der Mann, der seinem jungen Kameraden Rudi eine Waffe an den Kopf hält, um ihn umzubringen. Herrmann will sich nicht eingestehen, dass es keine Zukunft vor Ort gibt. Er wurde hier geboren und ist hier aufgewachsen, er hat sogar zeitweise, entgegen dem Trend, Erfolg als Geschäftsmann gehabt. Allerdings hat er auch den Moment verpasst, etwas Nachhaltiges aus seinem Erfolg zu erschaffen. Geršak stellt diesen Mann auf den ersten Blick als einen Lautschreier dar, doch immer wieder erschafft er Momente, die eine überraschende Verletzlichkeit offenbaren. Hermann ist ein in seinem Stolz verletzter Mann, der mit seinem eigenen Scheitern nicht zurechtkommt und nach Außen eine Person darstellt, die in Wahrheit längst nicht mehr existiert. In Wahrheit ist Herrmann ein gebrochener Mann und sein geplanter Mord an Rudi ist ein letzter verzweifelter Versuch, sich als „Chef“ und als „Macher“ darzustellen. Warum er Rudi umbringen will, wird schnell offenbart: Rudi hatte eine Affäre mit seiner Frau Katja, die nicht nur schön ist, sondern auch so etwas wie Herrmanns ultimative Erfolgstrophäe darstellt. Während andere die Stadt verließen, holte er die mondäne, elegante Großstädterin in sein Haus. Nun hat sie ihn hintergangen und dafür soll Rudi büßen.
Edda-Darstellerin Alli Neumann wirkt derweil zu Beginn der Geschichte ziemlich unsympathisch. Dass sie Sam wirklich mag, täuscht nicht darüber hinweg, dass sie ansonsten eine ziemlich oberflächliche Person ist. Ohne, dass dies thematisiert werden muss, wird sehr schnell klar, warum sie scheitern musste: Weil sie keinen Plan hatte und sich auf ihr Äußeres verlassen hat. Spaß und Sex: Damit kommt man vielleicht einige Zeit über die Runden. Aber damit lässt sich kein Leben aufbauen. Auch ihre Begegnung mit Frank zeigt sie nicht gerade in einem positiven Licht. Die Tatsache, ihn nicht zu erkennen, obwohl sich die beiden durchaus einmal nahe standen, offenbart eine Oberflächlichkeit, die sie eigentlich als Sympathieträgerin disqualifiziert. Die Geschichte aber schickt auch Edda auf eine Odyssee – und Alli Neumann gelingt es sehr bald, ihrer Figur nach und nach immer mehr Tiefe zu verleihen. Edda erlebt einen Höllentrip und findet auf diesem Trip doch zu sich selbst.
Kostja Ullmann in der Rolle des Sam ist derweil von Anfang an ziemlich klar festgelegt: Als netter Typ von nebenan. Das macht es leicht, ihn als Identifikationsfigur anzunehmen, aus dessen Perspektive die Story letztlich erzählt wird. Wenn Sam leidet, leidet man als Zuschauer. Wenn Sam rennt, geht der eigene Pulsschlag in die Höhe. Ullmann verkörpert diesen Sam souverän.
Diese drei Hauptdarsteller tragen erheblich zu den positiven Eindrücken des Filmes bei. Allerdings hat Bucks Film eine gewaltige Schwäche: Er findet erst sehr spät einen Rhythmus. Wenn Sam und Rudi gejagt werden, verhalten sich ihre Jäger von der Freiwilligen Feuerwehr immer wieder wie Figuren einer Slapstik-Komödie der Stummfilmzeit. Es wird viel chargiert, gestolpert, gestikulierend gestritten: Das aber nimmt die Spannung aus der Jagd. Auch die Handlung um Frank und Edda stolpert mehr als dass sie sich glaubhaft fortbewegt. Man ahnt schnell, auf was diese Geschichte hinauslaufen wird; bis es aber zu diesem Knall kommt, wird viel geredet und vor allem dramaturgischer Stillstand erzeugt. Mit anderen Worten: «Wir können nicht anders» ist in schlicht und ergreifend – zumindest während der ersten Hälfte seiner Spielzeit - langweilig.
Erst mit Beginn der zweiten Hälfte kommt so etwas wie Ruhe in die Inszenierung, die dann im letzten Akt sogar einen krachenden Showdown liefert. Dieser findet inszenatorisch seine Vorbilder im Western (und den Filmen der Gebrüder Coen) und lässt die Frage im Raume stehen, warum er erst am Ende zu dieser inszenatorischen Reife findet, in der das Drama und der Thriller zu einer organischen Einheit zusammenfinden?
Am Montag, 06. Dezember 2021, 22:15 Uhr, ZDF