Marc Schlömer: ‚Spieler wie Brinkmann würden heutzutage aussortiert‘
Der WDR-Redakteur Marc Schlömer leitet die Doku-Abteilung von Banijay Germany. Am Donnerstag startet die erste Produktion für RTL+, bei der man Ansgar Brinkmann begleitete. Auch der Bayern-Spieler Joshua Kimmich spielt im Quotenmeter-Gespräch eine Rolle.
Hallo Herr Schlömer. Sie gehörten lange zum Sportteam des Westdeutschen Rundfunks. Inwieweit hat sich die Bundesliga und die dazugehörige Berichterstattung in den vergangenen Jahren verändert?
Ich durfte 18 Jahre lang von Bundesligaspielen berichten, und anfangs konnten wir in der «Sportschau» am Samstag noch sieben 15:30 Uhr-Spiele zusammenfassen, heute sind es normalerweise nur fünf. Die Zerstückelung des Spieltags auf mehrere Anstoßzeiten und damit einhergehend mehr Sender und Plattformen, die Bundesliga-Rechte besitzen, das ist die größte strukturelle Veränderung. Darüber hinaus war es früher einfacher, Spieler und Trainer für Dreharbeiten abseits des Platzes zu gewinnen, um mit ihnen Portraits oder Stories zu produzieren. Das ist heutzutage auch deshalb zunehmend seltener realisierbar, weil die Vereine seit einigen Jahren mit ihren eigenen Klubkanälen auf solch exklusives Material gern das Erstzugriffrecht haben.
Entscheidende Veränderungen sind außerdem die technischen Möglichkeiten und der aufgrund teurer gewordener Rechte entstandene Kostendruck. Manche Sender haben mittlerweile oftmals weder Reporter noch eigene Kameras im Stadion.
Sie wechselten zum 1. Mai 2021 zu Banijay Germany und haben somit sowohl über die UEFA Europameisterschaft als auch die Olympischen Spiele nicht mehr berichten können. Kam der Wechsel dennoch zur richtigen Zeit?
Ich hatte meinen letzten Arbeitstag für die ARD im Juli beim EM-Finale in London. Von der danach anstehenden Tätigkeit bei der Olympia-Berichterstattung hatten mich die Verantwortlichen auf mein Bitten entbunden, damit ich – nach einer ersten Kennenlernphase im Mai - im August bei Banijay voll einsteigen konnte. Insgesamt bin ich froh, einige Olympische Spiele vor Ort erlebt haben zu dürfen, der Verzicht auf Tokio aber fiel mir nicht allzu schwer, denn schließlich fehlte dieses Jahr pandemiebedingt das so einzigartige olympische Flair.
Sie sind bei Banijay künftig für Dokumentationen verantwortlich. Welche Projekte stehen in den kommenden Monaten an?
Wir freuen uns, dass wir unmittelbar nach dem Start unserer Abteilung Doc.Banijay mit «Ansgar Brinkmann – Der Straßenfußballer» direkt eine Dokumentation für RTL+ produzieren durften. Außerdem konnten wir beispielsweise bereits mit Dreharbeiten für eine außergewöhnliche True-Crime-Geschichte beginnen, über die wir wegen laufender Gerichtsprozesse aber aktuell noch nichts verlautbaren können. Generell planen wir einige spannende Kooperationen und möchten für Dokumentarfilmer:innen ein starker Partner sein, der mit breitem Netzwerk attraktive Möglichkeiten bietet, um Ideen zu verwirklichen.
Das Team der «Sportschau» produzierte zahlreiche Reportagen, die bei den Zuschauern hervorragend ankamen. Können Sie mit Ihrem Team bereits im ersten Jahr dieses Niveau erreichen?
Das können am besten die Zuschauer:innen beantworten, die sich unsere Doku über Ansgar Brinkmann bei RTL+ ansehen.
Banijay Productions wird auch weiterhin Hintergrundbeiträge für den Westdeutschen Rundfunk produzieren. Was hat sich in den vergangenen Monaten hinter den Kulissen verändert?
Ich habe dem WDR unfassbar viel zu verdanken, durfte gut 20 Jahre lang für Formate wie «Sportschau» oder «Sport Inside», aber auch für den «Weltspiegel» oder die «Sendung mit der Maus» arbeiten. Ich bin mit WDR-Verantwortlichen fast täglich im Austausch über aktuelle oder zukünftige Projekte, allerdings bin ich zugleich bereits zu weit weg, um die Lage hinter den Kulissen bewerten zu können.
Sie waren auch für die RTL+-Doku «Ansgar Brinkmann – Der Straßenfußballer» verantwortlich. Inwiefern war Brinkmann der Antiheld des deutschen Fußballs?
Ansgar Brinkmann hat in 20 Jahren Fußballkarriere wenige Höhen und viele Tiefen erlebt, er hat sowohl in der Bundes- als auch in der Bezirksliga gespielt. Bei seinen 16 Vereinsstationen hatte er insgesamt 39 Trainer und laut eigener Aussage „mit jedem Krieg“. Er hat im Seniorenbereich nie einen Titel gewonnen und trotzdem kennen ihn viele Fans als großartigen Fußballer, der alle umdribbeln konnte, sich aber immer selbst im Weg stand. Auch wegen teils grotesker Eskapaden hat Brinkmann - wie auch Jürgen Klopp in unserer Doku erzählt - nicht die große Karriere gehabt, die er hätte haben können. Aber ich bin sicher, dass Meisterspieler vergessen sein werden, wenn man sich immer noch Geschichten über Ansgar Brinkmann erzählt.
Wie nah kamen Sie Brinkmann während den Dreharbeiten?
Ansgar Brinkmann hat so viele Vereine und Geschichten erlebt, dass ein enger Austausch mit ihm sehr wichtig war, weil wir nur gemeinsam auswählen konnten, welche Anekdoten wir zusammen erzählen möchten. Viele Dokus über Sport- oder Popstars sind belanglose und geschönte Imagefilme. Mit Ansgar haben wir uns aber von Beginn an darauf verständigt, dass insbesondere auch kritische Töne in der Rückschau auf seine Karriere vorkommen sollen. Nur weil Ansgar keine Lobeshymne wollte, sondern mit einer ehrlichen Dokumentation einverstanden war, haben wir uns überhaupt für eine Zusammenarbeit entschieden.
Gibt es einen bestimmten Anlass, warum Sie gerade jetzt eine Doku über Ansgar Brinkmann produziert haben?
In einer Zeit, in der der englische Premier-League-Klub Newcastle United sich quasi an Saudi-Arabien verkauft und anderswo Lionel Messi seinen Herzensklub, den finanziell maroden FC Barcelona verlässt, um in Paris noch mehr Millionen zu verdienen. In einer Zeit, in der die Fans in Deutschland dem Profifußball aufgrund seines teils perversen Gigantismus´ so kritisch gegenüber stehen wie nie zuvor, ist es ein guter Anlass, die Karriere von Ansgar Brinkmann zu beleuchten. Denn sie ist das Gegenmodell zum heutigen Hyperkapitalismus des Profifußballs. Ein so unangepasster Spieler wie Brinkmann würde heutzutage vermutlich schnell aussortiert. Zu Brinkmanns Zeiten gab es keine Ernährungsberater in der Kabine, sondern rauchende Spieler. In der Doku erzählt Ansgar zum Beispiel auch wie er einst als Zweitligaprofi im Auto übernachten musste, weil sein Geld nicht für eine Wohnung ausreichte.
Können Sie unseren Lesern verraten, wie man als Journalist vorgehen muss, damit sich eine Person für eine Doku-Serie öffnet?
Das Allerwichtigste ist Vertrauen, und das erreicht man über klare inhaltliche Absprachen, an die sich alle Beteiligten halten.
Wann haben Sie die Dokumentation gedreht und wie waren die Corona-Auflagen?
Wir haben kurz nach unserem Start von Doc.Banijay im August mit den Dreharbeiten begonnen und seitdem uns nicht nur immer an die jeweiligen Corona-Schutzverordnungen gehalten, sondern bewusst auch mit einem kleinen, festen Team gearbeitet, das vollgeimpft ist und sich regelmäßig getestet hat.
Die Fußballstadien waren noch im November gefüllt, obwohl sich die Corona-Ansteckungen häuften. Ende November waren über 700.000 Menschen aktuell daran erkrankt. Haben die deutschen Clubs oder auch die Politik zu spät reagiert?
Die Vereine haben sich an die behördlichen Auflagen gehalten. Ob sie ihre Möglichkeiten aber voll hätten ausschöpfen müssen - so wie sie es vielerorts getan haben - müssen die Klubs letztlich eigenverantwortlich für sich entscheiden. Weder Politik noch Vereine können aber ernsthaft geglaubt haben, dass sich beispielsweise die Maskenpflicht in einem voll besetzten Stadion umfänglich durchsetzen lässt. Was bei der Diskussion noch zu kurz kommt, ist die Ansteckungsgefahr rund um den Stadionbesuch, z.B. das hohe Risiko bei der Anreise in vollbesetzten Bahnen.
Wie haben Sie die Diskussion um die Corona-Impfung um Joshua Kimmich wahrgenommen?
Ich finde es bedauerlich, dass der FC Bayern München Joshua Kimmich nicht mit wissenschaftlichen Argumenten davon überzeugen konnte, sich frühzeitig impfen zu lassen. Immerhin hätte der FC Bayern es zumindest verhindern können, dass Kimmich vor Kameras äußern durfte, sich vorerst nicht impfen zu lassen, weil er Langzeitstudien abwarten wolle. Genau das aber ist ein wissenschaftlich erwiesener Irrtum, der nicht öffentlich verbreitet werden sollte. Während Langzeitschäden bei Impfungen so gut wie ausgeschlossen sind, gibt es bei einer Corona-Erkrankung sehr wohl Langzeitfolgen.
Vielen Dank für das offene Gespräch!
«Ansgar Brinkmann – Der Straßenfußballer» ab 9. Dezember bei RTL+.