Die deutsche Vorauswahl zum ESC ist ein Debakel

Jedes Jahr im Mai sitzt das deutsche Fernsehpublikum gebannt vor den Bildschirmen und verfolgt den Eurovision Songcontest. Die Spannung ergibt sich dabei seit Jahren aus der Frage, ob es zu mehr als dem letzten Platz reichen wird. Ein Kommentar von Christian Lukas.

Dieses Jahr hätte Deutschland eine echte Chance gehabt. Allerdings hat sich die Jury entschieden, den Song, der eine Spitzenposition hätte erreichen können, gar nicht erst für den Vorentscheid zu nominieren.

8, 21, 18, 27, 26, 25, 4, 25, 25. Das sind nicht die Lottozahlen der letzten Woche, sondern die Platzierungen der deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer seit 2018. Der krasse Ausreißer nach oben, die 4, das war 2018 Michael Schulte mit «You Let Me Walk Alone». Ansonsten herrscht Tristesse in deutschen Eurovisionslanden.



Dieses Jahr ist man bei der Nominierung der Titel, die im Vorausscheid gegeneinander antreten und dann ein Ticket für Turin lösen werden, einen neuen Weg gegangen. Zum ersten waren nämlich die Radio-Popwellen der ARD integraler Bestandteil des Auswahlverfahrens: Antenne Brandenburg, BAYERN 3, Bremen Vier, hr3, MDR Jump, NDR 2, SR 1, SWR3 und WDR 2. Die Jury bestand aus Musikexpertinnen und -experten dieser Hörfunkprogramme sowie aus Alexandra Wolfslast, Chefin der deutschen ESC-Delegation. Insgesamt gingen 944 Vorschläge ein, aus denen natürlich viele gleich wieder aussortiert worden sind.

Ab dem 10. Januar konnte man sich als ESC-Fan die, die es in die engere Auswahl geschafft hatten, auf eurovision.de anschauen und anhören. Am Donnerstag, den 10. Februar, ist nun bekannt gegeben worden, welche Künstlerinnen, Künstler und Bands zum Vorausscheid antreten werden. Außerdem hat die Jury bewiesen, dass sie noch nie etwas von YouTube gehört hat. Auf dieser Plattform nämlich konnte man sich die Stücke, die jetzt zur Auswahl stehen, auch anschauen. Zusammen haben sie dort weniger als 100.000 Klicks bekommen. (Stand: 10. Februar 2022). «Pump It» von «Eskimo Callboy» indes hat alleine mehr als acht Millionen Aufrufe für sich verbuchen können. Acht Millionen Klicks gegenüber weniger als 100.000 für alle sechs Finalisten zusammen. Beim ESC jedoch wird man die Metalcore-/Trancecore-Band aus Castrop-Rauxel nicht zu sehen bekommen, denn sie wurde von der Jury aussortiert. Der Grund: Ihr Song ist nicht radiotauglich, denn in den nächsten Wochen werden die Stücke, die in die Vorausscheidung gehen, auf den Popwellen rauf- und runtergenudelt - und da hat eine Metalband halt keinen Platz.



Der Autor dieser Zeilen stammt, wie «Eskimo Callboy», aus dem Ruhrgebiet. Und im Ruhrgebiet gibt es ein Wort, das alles bedeutet.
Samma!

Samma kann heißen: Habt Ihr sie noch alle? Seid ihr noch bei Trost? Bitte, was? Ja, leck mich rund. Ihr wollte mich doch verarschen. Und so weiter...

Samma?!

Der «ESC» ist ein Fest. Und zwar ein internationales Fest, dessen Beiträge ein internationales Publikum erreichen müssen. Ob ein Teilnehmersong im Herkunftsland radio-popwellentauglich ist oder ob die Linde rauscht, das interessiert auf dieser Bühne niemanden! Der ESC ist schrill. Berauschend. Schräg. Der ESC ist ein Moment der Flucht aus dieser Welt. Beim ESC ist alles einen Tick bunter, krachender, durchgeknallter als in der Realität. Sicher, manchmal überrascht der «ESC» auch. Siehe Michael Schulte. Oder man denke an die bittersüße, stille Ballade von Salvador Sobral aus Portugal, der 2017 sensationell den «ESC» nach Lissabon holte. Ein junger Mann auf der Bühne. Still. Fast schüchtern. Das berührte das Publikum aber nicht weniger als Conchita Wurst 2014 mit dem besten Bond-Song, der nie für einen Bond geschrieben worden ist. Conchita Wursts Auftritt war derart «ESC»: Mehr ESC geht nicht!



Nun stelle man sich die «Eskimo Callboy»s vor. Eine Bühne, eingetaucht in den Neonfarben der 80er. Aerobictänzer- und Tänzerinnen überall. Und dann diese Mischung aus 80s-Fitness-Rock und brutalistischem Metal der Gegenwart. Wahrscheinlich hätte es für einen ersten Platz nicht gereicht. Da muss man realistisch sein. Das Lied ist zum Ende hin zu hart, zu wenig massenkompatibel - im Vergleich zum Beitrag der finnischen Metal-Band «Lordi», die 2006 mit einem etwas „mainstreamigeren“ Hardrocksong gewinnen konnte. Aber ein Top-Platzierung hätte diese Band mit Sicherheit für sich und das in den letzten Jahren selten glückliche deutsche «ESC»-Publikum erlangen können. Das «ESC»-Publikum liebt die große, durchgeknallte, verrückte Show. Die deutsche Jury aber hat sich für Privatradiolala im Endstadium entschieden

Alle deutschen Song, die zum Vorentscheid antreten, kann man sich hier anschauen. Der Vorentscheid wird am Freitag, 3. März 2022, ab 20.15 Uhr bei One sowie in den dritten Programmen zu sehen sein.
11.02.2022 13:49 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/132445