Vor vielen Jahren hat Sarah Kohr durch ihre Aussage einen psychopathischen Gangster ins Gefängnis gebracht. Nun ist er ausgebrochen, hat zwei Wachmänner ermordet und unverzüglich macht er Sarah seine „Aufwartung“. Seltsamerweise aber scheint er ihr nur einen Schrecken einjagen zu wollen und verfolgt offenbar ganz andere Pläne.
Stab
REGIE: Bruno Grass
BUCH: Timo Berndt
KAMERA: Tobias Schmidt
MUSIK: Boris Bojadzhiev
KOSTÜMME: Christine Zahn
SCHNITT: Janina Gerkens
DARSTELLER: Lisa Maria Potthoff, Herbert Knaup, Stephanie Eidt, Anatole Taubman, Golo Euler, Cooler Dillon, Torsten Michaelis, Corinna Kirchhoff, Hedi Kriegeskotte, Wanja Götz, Genet Zegay, Alexander Wüst
Einmal bitte eine tiefe Verbeugung vor Lisa Maria Potthoff. Deutschland kann keine Action, heißt es sehr oft. Was durchaus der Wahrheit entspricht. Sicher, es gibt «Alarm für Cobra 11». «Alarm für Cobra 11» aber hat sich sein eigenes bioskopisches Biotop erschaffen, in dem es für sich alleine existiert, losgelöst von den Erzählwelten, in denen sich andere deutsche Krimiserien- und Spielfilme, wie immer sie auch betitelt sein mögen, bewegen. Und schaut man sich an, was Montagskrimis, «Tatort»e oder «Soko»s an Action bieten, bleibt dies alles sehr überschaubare Hausmannskost. In einer Vorabendserie stellt ein laut ausgerufenes „Stehen bleiben, Polizei“ schon so etwas wie den schwindelerregenden Höhepunkt eines aktionsgetriebenen Showdowns dar, im etwas besser budgetierten Abendspielfilm gibt es vielleicht einmal eine kleine Verfolgungsjagd. Zu Fuß, versteht sich, denn die Budgets geben selten mehr her. Und wenn es doch mal etwas spektakulärer wird, dann fliegt auf einem Feldweg irgendwo in der Pampa vielleicht einmal ein in die Jahre gekommener Gebrauchtwagen in einen Graben.
Darauf angesprochen, erzählen TV-Produzenten- und Redakteure gerne, dass man in Deutschland stolz darauf sei, stets die Figuren in den Mittelpunkt zu stellen und Geschichten eben nicht über den Remmidemmi-Faktor zu erzählen, sondern über die Charaktere. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass es am Geld liegt. Schon zwei Personen, die einfach einander verfolgen, gehen ins Produktionsbudget. Denn jeder Szeneriewechsel muss vorbereitet, jede Kulisse muss für sich genommen ins richtige Licht gesetzt werden. Das alles ist logistisch aufwendig, selbst, wenn es gar nicht so aussieht. Aufwand kostet Geld. Geld ausgeben möchten Produzenten nicht unbedingt.
In diesem Reigen stellen die «Sarah Kohr»-Filme eine echte Ausnahmeerscheinung dar. Nicht, dass sie mit großen Budgets in Rennen um die Zuschauergunst gehen würden. Das alles ist vom Kostenfaktor her ZDF-Abendunterhaltung aus dem Regal und kein besonders beworbener Stapeltitel. Aber die Macherinnen und Macher der Serie sind schlau genug, ihren Trumpf auf ganzer Ebene auszuspielen. Und das ist Lisa Maria Potthoff, die einmal mehr beweist: Die glaubwürdigsten Actionhelden sind nicht die, die austeilen können, sondern die, die einzustecken verstehen. Und so erlebt die wortkarge Ermittlerin einmal mehr einen Ritt, der ihr nur wenig Zeit zum Verschnaufen bietet und gleich mit einem Überfall beginnt. Einen Überfall, den sie zwar abwehren kann, von dem sie jedoch sehr bald überzeugt ist, dass er nur ein freundlicher Gruß sein sollte, denn der Mann, der hinter dem Angriff steckt, verabschiedet sich von ihr mit einem Lächeln.
Lorenz Degen heißt er und hätte er gewollt, dass Sarah mehr als ein paar blaue Flecken aus dem Kampf davon trägt, wäre Sarah tot. Sie weiß dies mit Sicherheit, denn sie kennt Degen aus ihrer Jugend, als sie zeitweise auf der Straße gelebt hat.
Rückblick: Da eine deutsche TV-Ermittlerin nicht ohne Trauma existieren kann, wird auch Sarah von gleich mehreren dunklen Schatten verfolgt. Als Jugendliche sollte Sarah eines Tages auf ihren kleinen Bruder aufpassen, der im Garten spielte. Sarah aber telefonierte lieber mit Freundinnen. So bemerkte sie nicht, wie der kleine Junge in eine Regentonne stieg. In diesem Spielfilm wird diese Tragödie zum Fundament, auf der die Geschichte aufgebaut wird. So ist Sarah seinerzeit ziemlich unter die Räder gekommen. Sie nahm Drogen, lebte teilweise auf der Straße und verdingte sich als Einbrecherin im Auftrag eines Kriminellen namens – Lorenz Degen. Dieser Lorenz Degen hatte große Pläne und wollte kein kleiner Pusher bleiben, der Kinder auf Diebestouren schickte. Er verfolgte einen akribisch ausgearbeiteten Plan, der ihn an die Spitze der Hamburger Unterwelt führen sollte. Ein Hauptbestandteil dieses Plans war eine Todesliste mit 23 Namen. Sein Plan sah nicht vor, sich lediglich einiger Konkurrenten zu entledigen. Auf der Liste standen auch die Namen von Kindern und Ehefrauen, die nichts mit den Machenschaften der Männer zu tun hatten. Wie weit er mit seinen Plänen gekommen ist, darauf wird in diesem Film leider nicht weiter eingegangen, was eine Schwäche dieses Thrillers darstellt, über die man jedoch hinwegsehen kann, denn: Für das, was er getan hat, ist er lebenslänglich ins Gefängnis gesteckt worden, inklusive Sicherungsverwahrung. Viel mehr muss man über ihn letztlich auch nicht wissen. Für diese Strafe entscheidend war seinerzeit die Todesliste, die nun jene Schatten auf die Gegenwart wirft, die der Titel andeutet.
Der Staatsanwalt, der Lorenz Degen ins Gefängnis gebracht hat, war Anton Mehringer, Sarahs quasi väterlicher Freund. Ein Freund, der seinerzeit im Prozess vor einem Problem stand. Ein junger Junkie namens Axel hatte sich bereiterklärt, vor Gericht gegen Degen auszusagen. Dafür wurde ihm Straffreiheit versprochen. Kurz vor der Verhandlung aber verschwand Axel. Die Vermutung, dass Degen hinter dem Verschwinden stand, konnte nie ausgeräumt, aber auch nicht bewiesen werden. Um seine Todesliste wissend, wandte sich Mehringer an die Freundin des Jungen: Sarah Kohr. Auch Sarah wollte Degen im Gefängnis sehen. Sarahs und Antons Geheimnis: Sarah lernte die Aussagen ihres verschwundenen Freundes auswendig, die Anton Mehringer aus früheren Befragungen vorlagen. Sie wusste um Degens Gefährlichkeit, all die Details aber, die ihn schließlich zur Strecke bringen sollten, stammten in Wahrheit nicht von ihr.
Sarahs Aussage brachte Degen ins Gefängnis, als Gegenleistung wurden ihre Vorstrafen gestrichen. Nach einem Entzug verloren sich Anton und Sarah aus den Augen: um so erstaunter war dieser, wie er sagt, Sarah eines Tages im Polizeidienst wiederzutreffen.
Warum Degen Sarah nur einen „Gruß“ geschickt hat? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich bald. Degen nämlich lässt Antons Sohn entführen. Um Rache geht es ihm nicht, lässt er ausrichten. Den Jungen braucht er nur als Druckmittel. Wenn Anton oder Sarah ihm die Antwort auf die Frage liefern, die ihn umtreibt, kommt der Junge frei. Die Frage lautet: Wo steckt Axel, der damals nicht zur Gerichtsverhandlung erschienen ist? Axel hat etwas, das ihm, Lorenz Degen, gehört. Und das will er wiederhaben...
Lorenz Degen hat den Kronzeugen also gar nicht verschwinden lassen? Stattdessen ist der von sich aus untergetaucht – und hat Degen auch noch bestohlen?
Straff ist die Inszenierung und Lisa Maria Potthoff lässt es auch mit einem ZDF-Kriminalfilmbudget ordentlich krachen. Die gebürtige Berlinerin beherrscht den Bildschirm, geht keinem Zweikampf aus dem Weg, sie steckt ein, sie teilt aus. Die Geschichte selbst entwickelt sich in eine überraschende Richtung, die so zu Beginn nicht vorherzusehen ist und bald eine Antwort darauf bietet, warum dieser Lorenz Degen seine Rache hintenan stellt. Er hat seine Gründe und die sind nachvollziehbar.
Die Kamera von Tobias Schmidt («Alarm für Cobra 11») ist hervorragend, die Regie ist souverän, der Schnitt erschafft Tempo. Zwar erreicht dieser «Sarah Kohr»-Film nie das irrwitzige Tempo von
«Sarah Kohr: Stiller Tod», der die Protagonistin eine einzige Tour de Force durchleiden ließ, Ruhe aber gönnt dieser Film seiner Hauptfigur auch nicht wirklich. Nach den Geschehnissen, die Sarah Kohr erleben muss, um die Geschichte zu einem Ende zu bringen, wäre es nur konsequent den nächsten «Sarah Kohr»-Film im Schlafzimmer der Heldin spielen zu lassen. Wo sie dann nur im Bett liegt und einfach einmal friedlich und ungestört schlafen darf, ohne gestört zu werden.
Verdient hätte sie es.
Montag, 14. März 2022, 20:15 Uhr, ZDF