Der ukrainische Präsident ist ein Komiker. Und das über seine Arbeit als Schauspieler hinaus.
In den letzten Tagen ist vielfach behauptet worden, Wolodymyr Selenskyj habe sich vom Komiker zum Kriegshelden gewandelt. Das stimmt nicht. Der heroische Eindruck, den wir von ihm haben, basiert auf einem Bild von sich, das Selenskyj als Komiker entwickelt und als Präsident fortführt. Dieses Bild zeigt sich etwa in der Fernsehserie
«Diener des Volkes» (53 Folgen, 2015-19), die ihn zum Präsidenten machte. Dort spielt er den Geschichtslehrer Holoborodko, der durch ein YouTube-Video, in dem er die Missstände und Korruption in der Ukraine anprangert, zum Präsidenten wird – ganz ähnlich wie Selenskyj das dann später selbst im Wahlkampf gemacht hat. Die Serie ist eine Satire auf den Politikbetrieb, die einen nicht unerheblichen Teil ihrer Komik aus Umkehrungen gewinnt: ein kleiner Lehrer wird über Nacht zum Präsidenten und ein integrer Mann gerät in die Mühlen der Machtpolitik. Der dabei gewährte Blick hinter die Kulissen entlarvt die niederen Interessen hinter der vermeintlich hehren Regierungstätigkeit. Selenskyj spiegelt diese Umkehrung, in dem er den Präsidenten als komische Figur anlegt. Schon die erste Szene, die ihn beim Aufstehen zeigt, ist eine Slapstick-Nummer und so geht es auch weiter. Wir sehen ihn permanent in Unterhosen, beim Kaffeekochen, Schnapstrinken oder auf Toilette sitzen. Er ist tollpatschig, schüchtern, cholerisch. Ein ukrainischer Mr. Bean. Vor der Amtseinführung werden ihm im präsidialen Schönheitssalon die Pickel ausgedrückt und die Fußnägel geschnitten. Angesichts der podologischen Folterwerkzeuge krampfen sich Holoborodkos Füße angstvoll zusammen. Wir sehen das in Großaufnahme: der groteske Körper des Präsidenten. Selenskyj betreibt die Satire des Politikbetriebs als Umkehrung des Erhabenen, indem er dem Zuschauer immer wieder die Perspektive des Kammerdieners eröffnet, der den Helden in Unterhosen sieht und für den es deshalb, einem Bonmot Hegels zufolge, keinen Helden gibt. Selenskyj beweist indes – und zwar als Präsident noch mehr denn als Schauspieler – , dass dieser vielzitierte Ausspruch heute nicht mehr gilt, weil er einem überkommenen Bild des Heldenkörpers folgt. Wer heute ein Held sein will, muss die Hosen runterlassen. Denn erst mit der Entblößung entsteht die Möglichkeit, sich mit anderen zu verbinden und die Helden von heute sind Helden der Gemeinschaft.
Selenskyj setzt die komische Selbstinszenierung auch als echter Präsident fort. Das Inaugurationsportrait von 2019 zeigt ihn mit humorvollem Grinsen um den Mund, ein Familienbild vom Februar mit Superheldenschminke im Gesicht. Er gibt den UkrainerInnen einen Präsidenten, über den sie lachen können – nicht, indem sie ihn auslachen, sondern indem sie mit ihm mitlachen, weil er den Panzer ablegt und bereit ist, Schwächen zu entblößen und verletzlich zu ein. Das ist mutig und gewinnend. Schon das Lachen steckt ja an. Wer jedoch den Mut besitzt, sich selbst in seiner nackten Menschlichkeit und Verwundbarkeit zu zeigen, erinnert die anderen, dass auch sie verletzlich sind und wir uns gegenseitig beschützen sollten. Ich bin wie du, aber zusammen sind wir stark. So folgt aus der Entblößung ein Aufruf zur Solidarität. Das hat sich mit der russischen Invasion nicht geändert, im Gegenteil. Anders als die Klitschko-Brüder in ihren Kampfwesten hat Selenskyj nicht die Rüstung angelegt. Keinen anderen Menschen will Putin so gerne töten wie ihn, aber Selenskyj zeigt sich noch nackter, offener, verwundbarer und deshalb stärker. Während er bei seiner ersten Ansprache nach Kriegsbeginn noch im Anzug ganz staatsmännisch in die Kamera sprach, tritt er seither in khakifarbenen T-Shirts oder Fleece Jacken vor die Kamera, ungekämmt und übernächtigt, so als wäre er grade aus dem Bunker hochgestiegen und hätte die Nacht kaum geschlafen (wahrscheinlich hat er das auch nicht) und unterdessen er spricht, hält jemand eine Handykamera auf ihn. Es sind intime und zarte Szenen, die trotz der militärischen Kleidung nichts Aggressives haben. Selenskyj ist offen und zugewandt, er geht nicht von sich aus, sondern antwortet auf andere, die Ukrainer, aber auch die Russen, an die er sich als ein zweites Publikum immer mit richtet. Wir sind Brüder und Schwestern, sagte er ihnen schon am Abend vor der Schlacht, verbunden nicht nur durch Kultur und Geschichte, sondern auch Freundschaften und Liebesbeziehungen. Wir sind wie ihr.
Anders als bei Putins Auftritten, der gleich einem Automaten seine Wünsche in die Welt hinausbellt, beginnt das, was Selenskyj sagt, nicht bei ihm oder dem, was er will, sondern bei den anderen, bei dem, was sie wollen oder brauchen, was sie sich wünschen oder wovor sie sich fürchten. Und diese Reden kommen nicht aus dem verhärteten Körper eines alten Kämpfers, der sich als Kopf auf eine Kriegsmaschine geschraubt hat, sondern aus dem weichen, offenen und responsiven Leib, den wir schon als Diener des Volkes gesehen haben. Körper und Geist sprechen dieselbe Sprache. Sie öffnen sich, suchen die Nähe zu anderen, gehen Verbindungen ein. Auf einem Foto legt Selenskyj seinen Arm um Verteidigungsminister Olexij Resnikow. Beide grinsen in die Kamera wie zwei Freunde bei der Arbeit. Putin lässt seinen Generalstabschef und seinen Verteidigungsminister in einem vergleichbaren Bild gedrängt am Ende eines sehr sehr langen Tisches sitzen, an dem er präsidiert. Zwei Orks besuchen Sauron in Mordor. Apell beim Führer. Während Putins Köper nur Kraft und Gegenkraft kennt, nur Kollision und Zerstörung, stiftet Selenskyjs Körper ein inniges Netz aus Beziehungen und Sympathien, aus Gemeinschaft und Solidarität. Das wirkt! Nicht nur die Ukrainerinnen und Ukrainer, auch ihre Nachbarn sind bereit, gegen Putin in den Krieg zu ziehen. Sterben für das Leben der Gemeinschaft. Bleibt zu hoffen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich die russische Maschine des Todes im ukrainischen Netz des Lebens verfängt, zu Boden stürzt und zerspringt wie ein tönernes Gefäß. Den Menschen, die dann aus ihr herauskriechen, dürfte Selenskyj die Hand reichen. Wir sind wie ihr: nackt, geschlagen, verletzt. Wir sollten uns nicht bekämpfen, sondern beschützen.
Björn Vedder (geb. 1976) ist Philosoph, Autor, Kurator und Publizist. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören „Reicher Pöbel“ (2018), „Väter der Zukunft“ (2020) sowie aktuell „Solidarische Körper“ (2022) im Büchner-Verlag. Er lebt mit seiner Familie in Herrsching am Ammersee. Zuletzt in der Süddeutschen Zeitung, im ZEIT Magazin oder auch bei Deutschlandfunknova im Interview.